Nathalie schlenderte zufrieden durch den Tierpark, den man einst über den Dächern der Stadt St.Gallen auf einem Hügel angelegt hatte. Sie kannte diesen Park seit ihrer frühesten Kindheit. Schon mit ihren Grosseltern war sie manches Mal hier gewesen. Damals hatte sie den Tieren oft Kastanien verfüttert, weil ihre Grosselteltern einen grossen Kastanien- Baum besassen.
Heute hatte sich vieles verändert. Füttern war nun nicht mehr erwünscht und wenn man doch Brot oder irgendetwas spenden wollte, musste man dies in hölzerne, eigens dafür vorgesehene Behälter werfen. Eigentlich schade, fand das Mädchen wenn auch sicher verständlich. Immerhin gab es immer noch Leute die verschimmeltes Brot oder sonst etwas Schädlichen an die Wildtiere verfütterten.
Die Gehege des Rotmonter- Tierparkes waren sehr schön und gross. Es gab Hirsche, Gemsen, Steinböcke, Wildschweine, Luchse (meist nicht zu entdecken) und sogar Murmeltiere (die mal allerdings nur in den wärmeren Jahreszeiten zu Gesicht bekam).
Nathalie konnte hier besonders gut abschalten und genoss es, den Tieren zuzuschauen. Sie liebte Tiere über alles. Ihre Familie hatte immer Tiere gehalten. Sie vermisste das etwas, seit sie alleine lebte. Doch sie wollte bei ihrem 100% Job kein Tier haben, sie hatte einfach zu wenig Zeit.
Heute war ein besonders schöner Montag Nachmittag.Vor zwei Tagen war herrlicher Neuschnee gefallen und seit gestern schien nun auch die Sonne. Ihr strahlendes Licht fiel auf die verschneiten Bäume und Wiesen und brachte die Schneekristalle wie tausend Diamanten zum Glitzern. Gleich neben dem Park, befand sich ein Schlittelhügel, der bei diesem Wetter, besonders am Wochenende, stark bevölkert war. Der Vorteil am Montag war die Stille. Es hatte dann viel weniger Leute überall. Nathalie genoss das sehr, denn die Ruhe dieses Parkes stand ihrem Herzen näher als die Geschäftigkeit der Stadt.
Vor dem Rothirsch- Gehege blieb sie stehen und beobachtete einen eindrücklichen „Acht- ender“ welcher vermutlich der Leithirsch der Herde war. Unbewusst rief sie ihm im Geiste zu: „Hallo du Schöner, wie geht's denn so?“ Sie tat solche Dinge öfter, aber ohne sich viel dabei zu denken. Sie besass einen guten Zugang zu den Vierbeinern und sie glaubte, dass die meisten Tiere es spürten, wenn man ihnen gut gesinnt war. Dennoch war sie sehr erstaunt, als der Hirsch, den sie gerade in Gedanken begrüsst hatte, sogleich die Ohren spitzte und ihr seinen edlen, kastanienbraunen Kopf zudrehte.
Langsam und bedächtig trottete er auf das Gehege zu und blickte sie mit seinen grossen, wie brauner Samt schimmernden, Augen an. Eine seltsame Tiefgründigkeit lag in diesen Augen, als befände sich hinter ihnen das Wissen einer vergangenen Zeit. „Danke es geht mir soweit gut,“ hörte Nathalie auf einmal eine Stimme in ihrem Kopf. Sie starrte das Tier fassungslos an. Hatte dieser Hirsch tatsächlich gerade zu ihr gesprochen? Aber das war doch… unmöglich! „Unmöglich ist ein unschönes Wort, weil es keinen Raum mehr für Hoffnung gibt,“ erklang erneut die Stimme in ihrem Innern. Der Acht- ender blickte sie immer noch unverwandt an. „Sprichst du tatsächlich zu mir?“ fragte Nathalie im Geiste. Es mochte absurd erscheinen, doch sie begriff irgendwie, dass hier etwas Grosses im Gange war. „Ja und es erstaunt mich wie dich, dass wir uns verstehen.“ „Das ist so seltsam. Wie kann das sein?“ „Etwas liegt in der Luft, etwas das mich an alte Zeiten erinnert als meine Vorfahren noch frei durch die Wälder streiften. Du trägst ein Zeichen Menschenkind. Doch was für ein Zeichen... es entzieht sich meinem Wissen... Trotzdem spüre ich es und...darum spreche ich zu dir. Es ist... als wären wir Geschwister. Doch das ist eigenartig...“ „Bist du glücklich hier?“ „Es ist schwer zu sagen. Ich wurde in diesem Park geboren. Ich weiss schon, dass es ein anderes Leben da draussen gibt. Doch nicht mehr für mich. Ich habe hier alles, eine eigene Herde, täglich etwas zu fressen und ich muss mich nicht vor Feinden fürchten. Es ist ein gutes Leben, denke ich. Es ist immer wie es ist. Wir alle müssen uns immer wiede neuen Gegebenheiten anpassen... doch nun muss ich wieder gehen.“ Der Hirsch blickt zu seiner Herde herüber und fügte dann noch hinzu: „Jener junge Hirsch dort, könnte sich einfallen lassen, meine Kühe durcheinander zu bringen. So leb denn wohl. Vielleicht besuchst du mich mal wieder!“ Dann galoppierte der Leithirsch mit hocherhobenem Geweih davon.
Nathalie blieb einen Augenblick lang wie hypnotisiert stehen und blickte dem Hirsch hinterher, der nun alle Hände(Hufe) damit zu tun hatte, seinen jungen Rivalen in die Schranken zu weisen. Der Ruf einer Krähe, die bisher über ihr auf dem Wipfel eines Baumes gesessen hatte und sich nun in die Lüfte erhob, riss das Mädchen aus ihrer Erstarrung. Traumbefangen blickte sie ihr nach, dann ging sie langsam weiter.
Vater Krähe, der die Leere kennt, ergriff als Nächster das Wort. Er sprach: „Wie Bruder Tahca (Hirsch) bereits bemerkte, werden wir uns ganz neuen Begebenheiten anpassen müssen, jetzt da die Flut unsere Welt bedroht. Es ist von grosser Wichtigkeit dass jemand der unseren alles aufschreibt, von der Vergangenheit und der Gegenwart. Damit unseren Nachkommen und jenen der Sternenkinder wertvolles Wissen erhalten bleibt. Mein Auge blickte ebenfalls in die Zukunft und ich sah, dass vor allem die „Allessehenden“ irgendwann wieder eine wichtige Rolle einnehmen werden. Dann... wenn all unsere Taten nur noch Mythen sein werden und viele nachfolgenden Kulturen zerstört sind. Darauf wird wieder eine Zeit der Erleuchtung folgen und man wird unserer gedenken. Deshalb muss unser Wissen bewahrt bleiben. Ich werde darum besorgt sein, dass es nur jenen zuteil wird, die es auch wertschätzen und verstehen. Wir sollten heute den bestimmen, der diese Aufgabe übernimmt. Und denkt immer daran Brüder und Schwestern: Der leibliche Tod ist noch lange nicht das Ende, es ist ein Neubeginn. Denn aus der Leere erschafft der Grosse Geist immer wieder neues Leben. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe...“
Das Erlebnis mit dem Hirsch ging Nathalie noch lange nach. Sie versuchte an jenem Tag noch mit andren Tieren auf dieselbe Weise zu kommunizieren, doch irgendwie wollte es gar nicht mehr klappen. Schliesslich griff sie wieder zu der Taktik, die ihr am einfachsten erschien: Sie tat das Erlebnis als Produkt ihrer Phantasie ab, die äusserst seltsame Blüten trieb…