Langsam brach der Abend herein und Nathalie ging etwas nach draussen auf die Terrasse um frische Luft zu schnappen. Abwechselnd mit Wandernder Bär und Weise Schlange kümmerte sie sich um Marc, der jedoch sein Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt hatte. Müde liess sie sich auf ihren Lieblingssessel fallen und schaute in die eisig, klare Nacht hinaus. Das Schneegestöber war mittlerweile zur Ruhe gekommen und eine weisse Puderschicht bedeckte die nähere Umgebung. Sie wickelte sich fröstelnd in ihre warme Decke und dachte über das Geschehene nach. Sie hatte Jonathan angerufen und dieser versprach schnellstmöglich zu ihr zu kommen. Eigentlich wusste das Mädchen nicht ob das so klug war, da sich Marc nun auch hier aufhielt. Doch das schien Jonathan noch mehr anzuspornen her zu kommen. Warum, konnte sie nur erahnen. Vielleicht wollte er sichergehen, dass Marc ihr nichts mehr bedeutete. Sie dachte an den Moment zurück, als sie diesen hergebracht hatten. Es war sehr erschütternd gewesen und doch, waren ihre Gefühle für Marc schon längst nicht mehr dieselben wie einst. Für sie war die Sache mit ihm erledigt und sie scherte sich mittlerweile wenig darum, dass sie einst in einem weit vergangenen Leben, ein so wichtiges Liebespaar hätten sein sollen. Wie die Sterne, die nun sogar wieder am Firmament aufgetaucht waren und deren Leuchten eigentlich aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit stammte, verhielt es sich auch mit diesem vergangenen Leben. Von dem sie immer noch nicht genau wusste, ob es sich wirklich genauso abgespielt hatte, wie man es ihr erzählte. Es lag so endlos weit zurück und so vieles hatte sich seither geändert… „Die Sterne leuchten schon wieder…“ hörte sie hinter sich eine Stimme. Sie drehte sich um und sah im spärlichen Licht, den Glanz eines dunklen Augenpaares, welches zu Snakeman gehörte. Die Augen besassen einen geheimnisvollen, tiefgründigen Ausdruck, der an zwei dunkle Seen erinnerten, bei denen man niemals bis ganz auf den Grund zu sehen vermochte.
„Ihr seid einst von dort gekommen… Ihr, die Sternkinder. Die Sterne wissen um alle Geschichten der Welt, sie sind uralt und teilweise bereits wieder am Verglühen. Wie unsere Leben… Wenn wir geboren werden, glüht es auf wie eine kleine Flamme und wenn es zu Ende geht, wird die Flamme wieder gelöscht und unsere Hülle bleibt als Asche zurück, die sich auf die Pfade der Zeiten legt und sie bedeckt, so dass man sie oft nicht mehr sehen kann. Und doch ist es diese Asche, die wieder neues Leben ermöglicht. Ein ewiger Kreislauf von Werden und Vergehen. Unsere Seele jedoch bleibt ewig bestehen, sie geht weiter auf den Pfaden, die unsere Vorfahren schon zu tausenden beschritten haben und eines Tages… wird sie wiedergeboren. Wie ein neuer Stern, aus den Überresten eines Alten.“ Nathalie war tief bewegt von diesen Worten und nickte zustimmend. „Glaubst du daran, dass all deine Wiedergeburten, dich genau an diesen Ort, zu diesem Moment, geführt haben?“ fragte Frank und setzte sich neben das Mädchen auf die Treppe. „Ja, vermutlich ist es so,“ erwiderte Nathalie. „Das meiste hat wohl irgendeinen Sinn, auch wenn sich mir dieser Sinn noch nicht in allem zu erschliessen vermag.“ Der Indianer nickte nachdenklich. „Ja, so geht es uns wohl den meisten. Nicht immer begreifen wir sogleich, warum wir ausgerechnet dort landen, wo wir gerade sind. So z.B. hätte ich niemals gedacht, dass ich mit Marc noch wegen eines Schlangenbisses hierherkommen müsste, wo wir dich wiedertreffen.“ „Vermutlich reiner Zufall,“ wich das Mädchen aus. „Ich glaube eigentlich nicht so wirklich an Zufälle,“ gab Snakeman zurück. „Zufall oder nicht, es spielt sowieso keine Rolle mehr,“ sprach Nathalie abweisend. „Ich habe meine grosse Liebe gefunden. Er heisst Jonathan Blackhorse.“ „Jonathan ist doch der Sohn von wandernder Bär! Wie war noch sein Indianername?“ „Schwarzes Pferd.“ „Ja genau. Ich erinnere mich. Ein sehr liebenswürdiger Bursche. Sicher etwas solider und gereifter als Marc.“ Das Mädchen war überrascht, dass der Mentor erneut eher kritisch über seinen eigenen Schüler sprach. „Jonathan ist in der Tat solider und gereifter,“ bekräftigte sie. „Nicht nur das jedoch. Er ist auch sonst der wundervollste Mensch, der mir jemals begegnet ist und er hat schon sehr viel für mich getan. Ich glaube, wir kennen uns auch schon sehr, sehr lange. Ausserdem…, wenn ich schon so viele Leben durchlaufen habe, kann sich auch einiges geändert haben. Vermutlich sind Marc und ich schon längst nicht mehr füreinander bestimmt. Warum wollt ihr uns alle unbedingt zusammenbringen? Das bringt doch nicht wirklich etwas. Ich glaube sowieso, dass wir alle unsere Geschichten zum grossen Teil selbst schreiben und es nicht stets ein festgelegtes Schicksal für uns gibt.“ Snakeman lächelte leicht und sprach: „Du warst schon immer sehr eigenständige Persönlichkeit, die sich nicht gerne Vorschriften machen lässt. Das ist auch gut so. Niemand weiss wirklich genau, was seit jener Zeit geschah, als du und Kangi noch zusammen waren. Es kann gut sein, dass sich ein paar Dinge verändert haben. Alle Geheimnisse kennt sowieso nur Wakan Tanka und Grossvater Krähe. Er hat Zugang zu allen Geschichten die jemals auf Erden passiert sind, dort oben… irgendwo, wurden sie abgespeichert, als grosses Gedächtnis der Welt!“ Er machte eine weite Armbewegung Richtung Himmel. „In diesem Gedächtnis ist alles Wissen gespeichert, unendliches Wissen, unendliche Weisheit und unsere Ahnen kennen sie und manchmal erzählen sie uns davon in unseren Träumen und Visionen. Auch Grossvater Krähe kann uns manchmal erscheinen und wichtige Botschaften zu uns tragen.“
Nathalie zuckte leicht zusammen, denn sie dachte an den Traum letzte Nacht. In dem ihr ja genau das widerfahren war. Sollte sie es Frank erzählen? Sie dachte einen Moment lang nach und musterte den Indianer prüfend. Ja, sie hatte Vertrauen zu ihm. „Ich hatte gerade so einen Traum… letzte Nacht.“ Sie erzählte Snakeman alle Einzelheiten. Dieser war sehr erstaunt und bewegt. „Dann hast sich Grossvater Krähe dir also tatsächlich schon offenbart?“ „Es war nur ein Traum,“ winkte Nathalie ab. „Träume können eine sehr wichtige Aussage haben, unterschätze ihren Wahrheitsgehalt nicht.“ „Aber viel ist ja eigentlich nicht passiert. Ich war nur dort draussen im All, dorthin komme ich eh nie.“ „Wer weiss, wer weiss, was noch alles an Wundersamem passieren mag.“ Nathalie fand das nun doch etwas gar abgehoben und so wich sie dem Gespräch aus, indem sie sich nach dem Befinden von Marc erkundigte. „Es scheint, als würde er wieder gesund werden, erwiderte Snakeman, „nur dass er immer noch nicht bei Bewusstsein ist, gibt uns ein wenig zu denken. Eigentlich hätte er schon längst erwachen müssen, nachdem er das Serum erhalten hat. Vielleicht ist er gerade auf einer weiten Reise, von der er mit neuer Weisheit zurückkehren wird.“ Nathalie überlegte sich, ob der Indianer das nur sagte, um sie etwas zu beruhigen. Sie hatte irgendwie das ungute Gefühl, dass er sich mehr Sorgen machte, als er zugeben wollte.