16. Kapitel
Marcs Geist war tatsächlich weit entrückt. Er schwebte durch die endlosen Weiten des Raums, um ihn herum noch immer all seine Aspekte. Bevor er sich nicht entschieden hatte, welche von ihnen er wieder mitnehmen wollte, konnte er nicht zurückkehren. Um ihn herum schwebte in eleganten Wellenbewegungen die mächtige Regenbogenschlange. Ihre Farben schimmerten in dem wundersamen Licht der endlosen Sterne. Er konnte weit sehen, weit hinaus, erblickte fremde Galaxien, fremde Planeten. Ganz deutlich spürte er, dass er Eins war mit all diesen Dingen, eins mit dem ganzen Universum, dem sichtbaren und dem unsichtbaren. Er war selbst wie eine kleine Galaxie, bestehend aus so vielen Sternen, die funkelten und glitzerten. All das machte ihn aus. Es war ein wundervolles Gefühl, ein Gefühl, dass er noch nie bisher empfunden hatte. Einen Moment lang überlegte er, ob er überhaupt zurückkehren wollte. In ihm war eine wundervolle, neue Sicherheit. Er befand sich jenseits von Angst und Leid und er wusste, dass nichts umsonst war. Er wusste nun, was mit ihm einst geschehen war.
Eine Schlange hatte ihn damals umgebracht, eine böse, unbarmherzige Kreatur und doch… während Marc sich hier in diesem körperlosen Zustand befand, ganz auf das Wesentlicher seiner Selbst reduziert, konnte er sogar selbiger vergeben. Seit endlos langen Zeiten verfolgte ihn dieser Dämon, doch nun erkannte er, dass dieser Dämon hatte verwandelt werden können in etwas Gutes, in etwas Neues. Er war nahe an der Schwelle zum Tod und das gab ihm einen ganz neuen Blick auf die Welt auf sein Leben, dass ihm nun erschien wie weit entrückt, irgendwie... bedeutungslos. Er konnte nicht mehr verstehen, warum ihm bisher so vieles Kopfzerbrechen bereitet hatte. Denn im Angesicht dieser mächtigen, grossen Schöpfung, die durchdrungen war von göttlichem Licht, das alles verband und in allem Lebendigen pulsierte, was waren all diese Dinge schon?
Die Menschen nahmen sich oft so wichtig, lebten in ihren kleinen Welten, die sich schon längst entfernt hatten, von der allumfassenden Weisheit, die alles durchdrang und alle gleichermassen liebte. Grenzen, Schranken, all das war menschen-gemacht. Sie machten es sich so schwer, dabei wäre es so leicht gewesen, so einfach, so ohne jegliche Dogmen und Konzepte.
Marc betrachtete alle Aspekte genau und nun erkannte er, dass es so vieles gab, das ihn von diesem Einheitsbewusstsein abgrenzte. Es gab Dinge, die musste er wirklich nicht mehr mitnehmen. Er betrachtete sie und dann schnipste er mit seinen Fingern dagegen und sie flogen wie kleine Billardkugeln davon und lösten sich einfach auf! Die Regenbogenschlange drehte weiter ihre Kreise um Marc und nickte zustimmend. „Ja, befreie dich von all den alten Lasten, befreie dich von unnötigem Ballast und dann wirst du ganz neu geboren werden! Ja und das wollte Marc tun und als er glaubte alles was er nicht mehr brauchen konnte losgelassen zu haben, setzte er sich wieder neu zusammen und… er erwachte aus seinem tiefen Schlaf!
Nathalie ging indes durch das Dorf, begrüsste da und dort einen Bekannten und beobachtete die Leute bei ihren Schneeräumungs -Arbeiten. Einige der Trailer und kleinen Häuser, waren richtiggehend eingeschneit worden. Zum Glück war das Wetter nun wieder schön, was die Arbeiten erleichterte. Nathalie half da und dort mit, kümmerte sich um einige wichtige Anliegen der Bevölkerung. Ihr machte diese Arbeit wirklich aussergewöhnlich viel Spass, mehr noch als ihre doch eher langweilige Arbeit im Museum.
Hier war sie am Puls des Geschehens, hier konnte sie direkt im Kontakt mit dem amerikanischen Ureinwohnern sein und auch wenn deren heutige Realität einiges weniger schillernd und farbenprächtig war, als es in der Indianer- Ausstellung präsentiert wurde, so machte es die junge Frau doch sehr glücklich, hier zu sein. Sie wurde noch immer getragen von den wundervollen Ereignissen der letzten Stunden, wenn auch die Geschichte mit Marc sehr schlimm war. Sie machte sich jedoch mittlerweile erstaunlich wenig Sorgen um ihn. Intuitiv ahnte sie, dass er bald ins Leben zurückkehren würde. Eine Szene tauchte auf einmal vor ihrem inneren Auge auf. Sie erinnerte sich plötzlich an einem Moment, da sie tatsächlich den Tod von Marc- oder vielmehr Kangi betrauert hatte. Er war einst gestorben, ebenfalls durch einen Schlangenbiss. Damals jedoch kam jede Rettung zu spät. Nicht so in diesem Fall. Das Antiserum war rechtzeitig gespritzt worden und nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Marc erwachen würde. Bald kam sowieso Jonathan auf Besuch und dann war Nathalies Welt wieder in Ordnung.
Schon seit geraumer Zeit, habe ich nichts mehr geschrieben. Ich konnte nicht, denn ich war dem Tode sehr nahe. Ich wurde schwer krank und brachte nicht mehr die Kraft auf mir etwas zu Essen zu beschaffen. In der Not, begann in den Wolf doch zu essen, auch wenn ich mit jedem Bissen tiefe Abscheu und Trauer empfand. Es sah eine Weile dann auch so aus, als wäre ich übern Berg, doch dann kam eben diese schwere Krankheit. Ich bekam Fieber und meine Lungen schmerzten schrecklich. Immer schwächer und schwächer wurde ich, bis ich nur noch halbtot in einer kleinen Höhle lag. Unfähig noch irgendetwas zu tun. Ich hatte schon aufgegeben und hielt mich den grössten Teil meiner Zeit in schrecklichen Fieberträumen auf. Immer wieder träumte ich von Braunhaut und seinem Gefolge, sah Kai immer und immer wieder in den Abgrund stürzen, sah seinen zerschmetterten Leib, umtost von den Wellen der Brandung. Sogar… die Ahnen begegneten mir! Ich redete mit ihnen, fragte sie ob ich sterben müsse, doch sie schwiegen, schauten mich nur still und mit Besorgnis in ihren Augen an. Schliesslich erschien mir sogar Mato. Doch auch er konnte wir wenig helfen, ausser ein wenig Trost spenden. Ach mein geliebter Mato! Ich vermisste ihn so. Hätte er noch gelebt, er hätte mir helfen können, er hätte mich gerettet, doch nun war auch er wehrlos und konnte nicht mehr, als mir in diesen schrecklichen Fieberträumen ein wenig beizustehen. Das gab mir etwas Ruhe. Mit der Zeit verfiel ich in jene Lethargie, die dann von einem Besitz ergreift, wenn man den Tod langsam akzeptiert und sich nicht mehr dagegen auflehnt. Als ich dann das Bewusstsein verlor, war es für mich klar, dass ich in der Anderswelt wieder erwachen würde. Doch… es kam ganz anders als ich dachte!..