Aber Nashoba benötigte mehr als nur eine helfende Hand. Er wandte sich wieder seinen mentalen Kräften zu und suchte Kontakt zu Onatah, der alten, geschätzten Heilerin seines Stammes. Ihre Präsenz war schwerer auszumachen, da sie unter den Wolfsmagiern eine Ausnahme darstellte. In ihr verbanden sich die Kräfte der Wolfsmagie mit der der Dämonenkrieger und der Schwertmeister. Sie war ein Kind zweier Magier mit verschiedenen Kräften und lebte schon seit Jahrhunderten als mächtige Medizinfrau und enge Beraterin des Minágis bei den Inokté. Nashoba wusste, dass das Alter für Onatah eine Belastung war. Aber er zweifelte nicht, dass auch sie seinem Ruf nachkommen würde. Und natürlich irrte er sich nicht. Zielstrebig fuhr er nun fort, seinen Plan umzusetzen.
Während Tahatan und Onatah sich zu dem gewünschten Treffpunkt aufmachten, hüllte sich Nashoba in seine eigene schützende Aura und hob die Heilerin aus dem gestrandeten Boot. Schnellen Fußes erklomm er die Steilküste und machte sich mit seiner Last auf den Weg ins Landesinnere. Hier gab es ein Jagdlager, das er mit seinen Gefährten während der Sommermonate oft aufgesucht hatte.
Nun, im letzten Sonnenlicht des Herbstes war es zwar verlassen, jedoch mit all dem ausgerüstet, was sie für die nächsten Tage und vielleicht Wochen zum Überleben benötigten. Onatah würde ihre Heilkräuter und Medizinbündel bei sich tragen und zusammen mit Tahatan wäre es sicher ein Leichtes, die Sicherung der Grenzen voranzutreiben und gleichzeitig für Sicherheit und Nahrung im Lager zu sorgen.
Nashoba lief zügig, bis er die erste Quelle auf seinem Weg erreichte. Hier machte er Halt und bettete die Heilerin in das von der Sonne erwärmte Moos. Er schöpfte Wasser und rieb es auf Wangen und Stirn der erschöpften Frau. Im Stillen bewunderte er die Ebenmäßigkeit und Schönheit der hellen Gesichtszüge. Versunken berührte er das blonde, glatte Haar, das der Heilerin bis zu den Hüften reichte. Nach einiger Zeit zeigte die erfrischende Wirkung des Wassers Erfolg und die junge Frau erwachte. Leuchtend blaue Augen schauten Nashoba an, ein Blick, in dem er sich leicht verlieren könnte. Dessen wurde er sich bald bewusst.
Er hielt ihr vorsichtig den frisch gefüllten Wasserschlauch an die Lippen und betrachtete sie, während sie langsam Schluck für Schluck trank. Sie schien ohne Angst zu sein. Doch sie sprach nicht, sondern fiel schnell wieder in einen tiefen Schlaf. Offenbar träumte sie, denn er hörte sie unverständliche Laute und einzelne Worte murmeln. Nachdem er sich selbst ebenfalls erfrischt hatte, nahm Nashoba seine Last wieder auf und folgte dem Weg zum Sommerlager. Lange Zeit lief er durch die herbstbunten Laubwälder. Die Landschaft wandelte sich zunehmend von üppigem, feuchtem Küstenwald hin zur eher trockenen Taiga des Innlandes. Nashoba genoss die Sonne auf seinem Nacken. Während seines Laufs blieb ihm viel Zeit, Gesicht und Wesen der Frau in seinen Armen zu studieren. Er erinnerte sich an den tiefblauen Blick und roch den Duft ihres langen Haares, dessen Farbe ihn an bleiche Späne eines hellen Holzes erinnerte. Noch war es dem Minági nicht bewusst, aber die Schönheit der Heilerin begann, eine sanfte Anziehung auf ihn auszuüben.
Aus verschiedenen Richtungen trafen sie im späten Nachmittagslicht des Herbsttages im Jagdlager ein. Die Sonne brach sich in den gelben Blättern der Birken, die die Gebirgshänge Ipiocas bedeckten. Hier und da schimmerten Pilze durch das Laub. Der Herbst war golden und wie geschaffen für einen Aufenthalt in der Abgeschiedenheit der bergigen Wildnis.
Als Nashoba auf die Lichtung trat, kam ihm Tahatan bereits entgegen. Er hatte ein Tipi aufgeschlagen und ein Feuer entzündet. Weißer Rauch kräuselte sich über den Zeltstangen. Zwei Pferde grasten am Rand der Wiese und ein Travois wartete neben dem Zelt.
Die beiden Inoktékrieger traten aufeinander zu und begrüßten sich. Wie Nashoba gehörte auch Tahatan zu den größten und stärksten Männern seines Stammes. Er war kaum eine halbe Handbreite kleiner als der Minági. Während sein Gesicht einen wachen Verstand offenbarte, verriet ein Blick auf seinen Körper, dass er wie sein Freund und Anführer über unerschöpfliche Kräfte verfügen konnte.
Tahatan nahm Nashoba die Last aus den Armen. Der Minági streckte sich nach dem langen Lauf, bis seine Schultern in den Gelenken knackten. Dann warf er einen weiteren langen Blick auf die fremde Frau, die nun von seinem Freund gehalten wurde. Ein schmales Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Einen solchen Fund habe ich an unserer Küste noch nie gemacht«, begann er. »Wer hätte gedacht, dass eines Tages an unseren Ufern ein Boot von Dakoros stranden würde?«
Der von ihm Angesprochene nickte. »Eine seltsame Sache …« Er zögerte. »Und ein ziemliches Risiko für eine Frau, sich allein auf das Meer hinauszuwagen. Ob sie die Strömungen nicht kannte?« Nachdenklich betrachtete er das Wesen in seinen Armen.
»Ich bin dir wirklich dankbar, dass du so schnell gekommen bist, Tahatan.« Nashoba folgte dem jüngeren Inokté, der sich inzwischen dem Tipi zugewandt hatte. »Es wäre schwierig geworden, sie hier aufzunehmen, wenn ihr – Onatah und du – mir nicht dabei helfen würdet.«
Tahatan nickte. »Schon gut! Es schützt uns schließlich alle, wenn du jemanden wie sie nicht sofort ins Dorf bringst.« Der Wolfskrieger runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich kann nicht verstehen, wie sie an unsere Küste gelangen konnte.« Er machte eine zögernde Pause. »Selbst, wenn man noch so ungewöhnliche Strömungen und Windverhältnisse voraussetzt, hätte sie niemals so weit nach Norden gelangen dürfen.«
Nashoba nickte. »Es sei denn, sie wollte es so … Doch lass sie uns erst einmal hineinbringen. Dann können wir immer noch reden.«
Tahatan trug die junge Frau ins Tipi und bettete sie auf einige Felle und Decken, die er dort ausgebreitet hatte. Nashoba griff sich einen Wasserschlauch und nahm einen ausgiebigen Schluck. Dann wandte er sich an seinen Freund, der ihn erwartungsvoll anblickte und berichtete, was er seit dem frühen Morgen erlebt hatte. Tahatan runzelte die Stirn und dachte über das Gehörte nach. Auch wenn Nashoba nicht alles ausgesprochen hatte, was er dachte oder vermutete, so war es Tahatan klar, dass sein Freund Probleme voraussah und er sich für diesen abgelegenen Ort entschieden hatte, um den Stamm zu schützen.
»Nun, es war bestimmt vernünftig, sie hierher zu bringen. Wenn sie wieder zu Kräften kommt, wird ihre Aura hier leichter zu verbergen sein. Das würde uns gerade noch fehlen, dass die Chromnianer sie entdecken und uns angreifen, um sie in die Hände zu bekommen. Es hat mich schon immer erstaunt, dass sich die Heiler noch nie die Mühe gemacht haben herauszufinden, wie sie ihre Aura vernünftig verbergen können.«
Nashoba lächelte und nickte zustimmend. »Ja wirklich! Das ist mir auch unverständlich. Aber vielleicht sind ihre Kräfte von unseren ja so verschieden, dass sie es gar nicht können? Das Sommerlager können wir jedenfalls noch einige Wochen benutzen, bevor der Wintereinbruch kommt. Bis dahin werden wir eine Lösung gefunden haben. Vielleicht wird sie auch bald weiterziehen. In ihrem Boot waren Dinge, die nach einer Wanderung oder einer Flucht aussahen – wertvolle Dinge.«
Er sah Tahatan auffordernd an. »Und auch deshalb habe ich dich um Hilfe gebeten. Es sind einige hundert Setzlinge in dem Boot und wasserdichte Truhen. Das alles sollten wir bergen und die Pflanzen am besten zu Utina bringen. Sie wird uns nicht bedrängen, etwas über deren Herkunft zu erfahren, wenn wir nicht darüber sprechen wollen. Und sie hat die meiste Erfahrung mit exotischen Pflanzen und wird wissen, welcher Pflege die Setzlinge bedürfen.«
Es war eine Besonderheit der Inokté, dass sie noch immer wie vor vielen Hunderten von Jahren lebten und alle Neuerungen, die ihr wildes, ungebändigtes Land schädigen konnten, nachdrücklich von sich wiesen. Nur wenige Ausnahmen ließen sie gelten. So waren ihre Schamaninnen zum Beispiel bereit, Heilkräuter der anderen Provinzen zu nutzen und anzubauen.
Tahatan und Nashoba entzündeten vor dem Zelt ein kleines Feuer, an dem sie sich niederließen. Für eine Weile sprach keiner von beiden. Jeder ging seinen Gedanken nach und versuchte einen Blick in die Zukunft zu erhaschen.
»Wir werden die Grenzen intensiver sichern müssen«, sagte Tahatan schließlich in die Stille hinein.
Nashoba stimmte seinem Freund sofort zu. »Ja. Daran habe ich auch schon gedacht. Es ist in letzter Zeit viel zu ruhig. Als ob sie etwas Größeres planten … heute Morgen dachte ich daran, mit Archon zu sprechen …«
Tahatan hob erstaunt die Augenbrauen. »Diese ungewöhnliche Friedlichkeit stört dich also auch …« Er strich sich über einen seiner rabenschwarzen Zöpfe. »Es ist viel zu ruhig an den Pässen für diese Jahreszeit. Ich werde mit den Wächtern Kontakt aufnehmen. Chaska ist im Moment mit seinem Rudel am Pass der jammernden Winde. Wir werden ihm noch ein paar Männer schicken und seine Position auch im Hinterland durch mehr Waldgänger verstärken. Dann sollte uns nichts entgehen. Ich werde zu ihm aufbrechen, sobald wir das Boot geborgen haben.«
Die Krieger ließen sich am Feuer nieder. Während die Heilerin im Tipi ihrer Genesung entgegen schlief, planten die beiden Männer ihre Unternehmungen für die kommenden Tage.
[7] Onatah: Iroquois –Tochter der Erde
[8] Travois: typisches indianisches Transportmittel ohne Rad – näheres in den „Anhängen und Quellen“
[9] Chaska: Sioux – Der älteste Sohn