Die Wünsche eines ihr unbekannten Managers einer ihr ebenso unbekannten Band hätten Anna nicht davon abgehalten, ihre freien Tage entspannt mit Jenny zu Hause zu verbringen. Doch sie schuldete ihrem Freund Franz viel mehr als einen Gefallen. Sylvie und er waren es gewesen, die sie damals aufgefangen hatten, als sich herausstellte, dass Stefan sie seit Jahren betrog und nun klar Schiff machen wollte, um mit seiner Affäre endgültig zusammenzuziehen.
Deshalb rollte sie jetzt entspannt über die A9 Richtung Hof, um sich mit Franz zu treffen und dann die Band vor deren Gig in der kleinen fränkischen Stadt Selb kennenzulernen. Während der Fahrt blieb ihr viel Zeit, um nachzudenken.
Damals, vor knapp zwei Jahren, hatte sie nicht gewusst, wie es nun für sie und Jenny weitergehen sollte. Theo, ihr älterer Sohn, hatte gerade sein Abitur gemacht und brach kurz darauf zu einem Sprachpraktikum an der University of Michigan auf. Wenn alles so ablief, wie er es sich vorstellte, würde er sich ein Jahr später am ›College of Literature, Science, and the Arts‹ einschreiben und einen Teil seines Studiums in Ann Arbor absolvieren.
Der Abschied von ihrem Sohn zu einer Zeit, in der ihr Leben sowieso schon auf dem Kopf stand, war Anna noch schwerer gefallen als die Trennung von ihrem Mann. In den ersten beiden Wochen nach Theos Abflug war Franz deshalb einfach zu ihr gezogen und hatte dafür gesorgt, dass ihr der sprichwörtliche Boden unter den Füßen nicht ganz verloren ging. Hauptsächlich seiner Hilfe war es zu verdanken gewesen, dass ihr Leben einigermaßen schnell wieder in den Griff bekommen hatte.
Außerdem gab es noch ihre Verantwortung für Jenny, die sie vor einem schlimmeren Absturz bewahrt hatte. Dennoch wurde sie beim Gedanken an die vielen durchwachten Nächte mit Franz und ihren Seelenstriptease, den sie damals einfach nicht zurückhalten konnte, immer noch rot. Wie tief konnte man eigentlich sinken, wenn man verletzt wurde? Warum musste man immer gerade dann schwach sein, wenn man sich Stärke wünschte?
Nach diesen Tagen voller Trauer und auch Selbstmitleid hatte sie es schließlich geschafft so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Inzwischen war sie froh über das Leben, das sie nun führte. Jenny und sie kamen wunderbar miteinander klar und die neu gewonnene Freiheit hatte sie auch einige ihrer verlorengegangenen Interessen und Gewohnheiten wiederfinden lassen.
Erst jetzt, wo sie beendet war, fiel ihr auf, dass die Ehe mit Stefan ihre Persönlichkeit eingeengt hatte. Irgendwo zwischen den Kindern, dem Job und dem Haushalt hatte sie ihre kleinen Freizeitinteressen vergessen und Stefan war nicht der Mann gewesen, der sie motiviert hätte, mehr aus ihren Hobbies und Träumen zu machen.
Franz hingegen war die besondere Qualität ihrer Fotos sofort aufgefallen. Seine Anerkennung hatte sie gelockt, ihre alte Kamera wieder herauszuholen und die ausgelaugten Akkus zu ersetzen.
Dann, als sie erstaunt feststellte, wie vertraut ihr das Gefühl der schweren Spiegelreflexkamera in der Hand noch war, war der Bann gebrochen. Sie machte neue Bilder, kramte alte Musik heraus, nahm lange vergessene Bücher zur Hand. Jenny hatte ihre Mutter kaum wiedererkannt. Unter der ruhigen, zurückhaltenden Frau war ein quirliges, fröhliches Mädchen versteckt gewesen, das nun an die Oberfläche drängte.
So zumindest hatte ihre Tochter es Franz beschrieben, auch, wenn Anna sich selbst längst nicht mehr als Mädchen sehen konnte. Manchmal fühlte sie sich mit ihren 39 Jahren eher uralt. Eines aber stimmte! Im vergangenen Jahr hatte sie gelernt, dass man das Leben immer genießen konnte, egal, wie viele Probleme es gerade gab. Wenn man nur hinsah, bot sich immer etwas Schönes, etwas Frohes, das es wert war, gesehen oder, in ihrem Fall, auch als Foto festgehalten zu werden.
Anna lächelte. Die fünf Wochen mit den Corvidae waren ein richtig großer Spaß gewesen. Am Anfang hatte sie die selbstbewusste Präsenz der sieben Musiker total eingeschüchtert – was merkwürdig war, denn in ihrem Beruf war sie alles andere als schüchtern. Doch sobald sie sich nicht hinter ihrer Aufgabe verstecken konnte, sah das ganz anders aus.
Franz hatte den Künstlern erklärt, dass sie noch wenig Bühnenerfahrung besaß und die sieben ›Raben‹ waren ihr daraufhin sehr rücksichtsvoll begegnet, hatten ihr die ungewöhnlichen mittelalterlichen Instrumente erklärt, sie mit dem Team bekannt gemacht und viel erzählt, bis ihr der Umgang mit den Musikern ganz selbstverständlich erschienen war. Am Ende war sie in jeder Ecke der Bühne heimisch gewesen, hatte auch die unzähligen Helfer abgelichtet und jedes spannende Detail festgehalten. Die Arbeit hatte sie so mitgerissen, dass sich zum Schluss knapp zweitausend Bilder in ihrem Eingangsordner befanden, aus denen sie später die besten und kuriosesten ausgewählt und nachbearbeitet hatte.
Anna war sich nicht sicher, ob sie diese besondere fotografische Leistung noch einmal abliefern konnte. Immerhin brauchte sie dazu auch einen persönlichen Kontakt zu den Künstlern. Doch für Franz wollte sie es zumindest versuchen.
Die Autobahnabfahrt kam in Sicht und Anna setzte seufzend einen Blinker. Eine halbe Stunde später rollte sie durch das beschauliche Städtchen auf der Suche nach dem Marktplatz mit der Freilichtbühne, auf dem heute Abend die Pagans spielen sollten. Bis dahin war noch reichlich Zeit, um sich mit Franz im Hotel einzurichten und den Bandmanager zu treffen.