Meine Hände sind feucht, als ich den uniformierten Mann im Kontrollhäuschen frage, wo die „offene Station“ ist. Er mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. Schnell füge ich hinzu, dass ich im zweiten Lehrjahr meiner Ausbildung einen Einsatz in der Psychiatrie absolvieren muss und ich nicht weiß, wohin ich muss.
„Mir wurde gesagt, dass ich zu einem Backsteinhaus muss, aber hier gibt es so unglaublich viele davon. Ich möchte ja nicht versehentlich in das falsche Gebäude gehen und mich plötzlich in der geschlossenen Abteilung befinden. Das wäre es ja.“ Ich kichere nervös. Es verunsichert mich, dass er mich immer noch so stoisch ansieht. Dann, ohne mich aus den Augen zu lassen, greift er zum Telefon. Er schildert irgendjemanden, was ich gesagt habe und anscheinend kommt er zu der Erkenntnis, dass ich die Wahrheit sage. Murrend erhebt er sich. Der Stuhl stöhnt dabei quietschend auf. Mein Gott, du passt kaum durch die Tür, denke ich mir und schäme mich gleich dafür, weil ich genug eigenen Hüftspeck habe. Erst jetzt bemerke ich, dass er mir den Weg zu meiner Station erklärt und ich überhaupt nicht zugehört habe. Doch ich nicke freundlich und tue so, als hätte ich alles mitbekommen.
„Haben Sie das verstanden?“ Wieder nicke ich als Antwort. Augenrollend schüttelt er den Kopf und geht wieder in sein Häuschen. Wieder ächzt der Stuhl und wieder habe ich schweißnasse Hände, weil ich immer noch nicht weiß, wohin ich soll.
Ich fühle mich beobachtet, umgeben von vier Backsteinhäuser deren Fenster dunkel auf mich hernieder blicken. Im Augenwinkel sehe ich eine Pflegekraft eine Zigarette rauchen, vor dem Haus rechts neben mir. Gern würde ich es ihr gleichtun, doch ich bin so schon spät dran und ich will keinen schlechten Eindruck machen.
Auf Station werde ich gleich von einer jungen Frau in blauer Jeans und rotem Shirt abgefangen. Sie lächelt und ich tue es ihr gleich. Dann bringt mich Pflegekraft Isa zur Umkleidekabine und ich ziehe mir schnell meine Arbeitskleidung an, die ich aus der Klinik mitgebracht hatte.
Mit meinem weißen Kasack fühle ich mich wie ein Fremdling. Im Krankenhaus tragen alle Fachkräfte weiße Uniformen, doch das ist hier anders. Die Patienten sollen Vertrauen aufbauen und sich nicht wie im Hospital fühlen. Schönen Dank auch, dass mir keiner Bescheid gesagt hat. Jetzt bin ich noch unsicherer und ich habe das blöde Gefühl, dass das hier jeder weiß. Vielleicht riechen sie es, wie die Hunde Angst riechen. Aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.
Schwester Isa führt mich durch das Haus, was kleiner ist als es von außen wirkt. Ganz unten ist der Schwesternraum, der verglast ist, bruchsicher und immer, wirklich immer – wie die Fachkraft mehrmals wiederholt – abgeschlossen werden muss. Ich nicke und blicke dabei verstohlen zu den Patienten. Sie wirken gar nicht so durchgedreht, wie ich es mir vorgestellt habe. Manche sitzen vor dem Fernseher, oben im Gemeinschaftsraum, mache lesen in ihrem Zimmer ein Buch, doch die meisten sind gerade bei ihren Therapien. Was denn das für welche sind, frage ich interessiert. Basteln, Kneipp-Kuren, Gymnastik und Malen. Himmel. Das klingt wie ein Programm für Senioren in der Tagespflege. Später erklärt sie mir noch verschiedene Medikamente, die die Patienten bekommen. Meine Hausaufgabe besteht darin, mich über die Wirkungen und Nebenwirkungen ebenjener zu informieren, was ich natürlich auch mache.
Der Dienst vergeht schnell und mein Kopf dröhnt von den vielen Informationen. Schnell ziehe ich mich um und gehe zügig aus dem Gebäude. Für einen kurzen Augenblick habe ich Angst, dass ich das Haus nicht verlassen kann. Ein bisschen paranoid bin ich schon, doch ich verwerfe den Gedanken. Vor dem Gelände angekommen atme ich auf, krame in meiner Tasche und hole endlich, endlich eine Zigarette raus. Mit tiefen Atemzügen inhaliere ich den Dampf und schließe für einen Moment die Augen. Es hätte schlimmer laufen können.
Am nächsten Tag bin ich überpünktlich auf Station. Die Patienten schlafen noch und alles, außer dem Dienstzimmer, ist abgedunkelt. Es erfolgt eine kurze Übergabe von dem Nachtdienst. Natürlich versuche ich mir alle Namen und Informationen zu merken, doch es will einfach nicht klappen. Anschließend soll ich von Zimmer zu Zimmer gehen und alle wecken. Es wirkt gespenstisch ruhig. Kein Vergleich zum Krankenhaus, wo die erste Putzkraft um diese Zeit schon mit der Reinigungsmaschine auf dem Gang Krach veranstaltet. Danach gehe ich ins Schwesternzimmer, wo Pflegekraft Ines gerade die Medikamente stellt. Ich will meine Kollegin nicht stören und versuche mir Arbeit zu suchen, doch weiß nicht, was ich tun soll. So blicke ich in die verschiedenen Schränke, um zu schauen, was darin verborgen ist. Tür auf, gucken, zu. Immer wieder.
„Stefanie, du musst ruhiger werden. Du wuselst hier rum. Allein dir zuzusehen macht einen nervös.“
Erschrocken zucke ich zusammen. „Tut mir leid.“
Ines sieht mich musternd an und ich fühle mich durchleuchtet. Wirke ich komisch? Ist irgendwo ein Fleck? Sie unterbricht meine Gedankengänge und fragt mich über die Medikamente ab, die ich mir zu Hause ansehen sollte. Ich schwöre, im Auto wusste ich noch alles, doch nun sind alle Informationen weg. Den Tränen nahe entschuldige ich mich und schwöre, es morgen zu wissen. Sie nickt und es beschleicht mich das Gefühl, dass sie enttäuscht ist. Das bin ich selbst und ich schäme mich. Diese Unsicherheit verfolgt mich seit dem Einsatz auf der Station, wo ich gemobbt wurde. Vielleicht hatten sie ja recht, denke ich mir.
Ich bin eine schlechte Schülerin.
Ich bin einfach blöd.
Ich kann nichts.
Nach und nach kommen Patienten in das Zimmer. Ines gibt ihnen Medikamente aus kleinen Bechern, wartet bis sie diese geschluckt haben und kontrolliert danach den Mund, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich nicht in den Wangentaschen gebunkert wurden. Dieser Ablauf wiederholt sich bei jedem Patienten und ich führe Strichliste, ob alle da waren. Manch einer diskutiert, will die Tabletten nicht, doch Ines ist rigoros. Alle müssen die Pillen schlucken.
Danach gehen wir in den Speiseraum. Die Messer sind stumpf und die Leute murren, dass sich kaum die Schnitte schmieren lässt. Sie tun mir leid und mir wird wieder bewusst, wo ich mich befinde. Ines erzählt mir Horrorgeschichten über Patienten, die sich die Pulsadern aufgeschlitzt haben oder Kellen verschlucken wollten. Ich mustere die Leute hier und frage mich, was in deren Köpfen vor sich geht …
Stück für Stück lerne ich die Patienten besser kennen und bin erstaunt über die Mannigfaltigkeit der psychischen Erkrankungen. Da ist eine junge Frau, die in den falschen Freundeskreis geraten war und dadurch zum Drogenkonsum verleitet wurde. Nun hat sie Probleme, sich wieder in die soziale Gesellschaft zu integrieren, nachdem sie sich von ihrer Gruppe losgelöst hat. Oder eine Frau, die mich immer nackt, sich streichelnd, begrüßt, wenn ich sie wecke. Besonders beschäftigt mich der junge Vater, der das Bedürfnis hat seinen Sohn zu erwürgen und sich dafür schämt. Überhaupt lässt sich kein Fall miteinander vergleichen. Doch ich muss zugeben, dass sie mir alle nicht verrückt vorkommen, na ja, bis vielleicht die Eine, die mir nur die Hand gibt, wenn ein Desinfektionstuch zwischen uns ist.
Am dritten Tag bekomme ich die Aufgabe, einige der Patienten zu beobachten, indem ich sie zu ihren Therapien begleite und fühle mich, wieder einmal, ziemlich deplatziert. Während alle zu ihren „Stammplätzen“ gehen, stehe ich mitten im Raum und weiß nicht so recht, was ich mit mir Anfangen soll. Alle malen fleißig, die unterschiedlichsten Motive. Farbig, Schwarz-Weiß, grotesk oder höchst genau. Die Kunsttherapeutin erklärt mir, was sie genau beobachtet. Anscheinend ist es schon viel wert, wenn man überhaupt schon malt. Mehr kann ich mir nicht merken, obwohl die Dame so viel erzählt. Meine Konzentrationsspanne reicht von Tapete zur Wand. Ich seufze und sie mustert mich komisch.
„Wie wäre es, wenn du dich auf den leeren Platz setzt und auch etwas malst?“
Irritiert sehe ich sie an.
„Vielleicht solltest du alle Therapien mal mitmachen, damit du alles besser nachvollziehen kannst.“ Sie schaut mich intensiv an und ich nicke. Irgendwas an ihrer Aussage kommt mir komisch vor, doch ich habe keine Lust zu interpretieren. Wahrscheinlich, denke ich, meint sie, dass ich da richtig gut reinpasse.
Der weiße Zettel vor mir sieht mich klagend an. Was soll ich denn pinseln? Im Hinterkopf habe ich Angst, dass die Therapeutin über meine kläglichen Versuche lacht. Ich kann nicht malen. So bleibt mein Blatt am ersten Tag leer …
Nach der Kunstblamage gehen wir zum Gymnastikraum und machen irgendwas zwischen Seniorengymnastik und Kindergartenspiel. Wir sitzen auf Stühlen, alle im Kreis, und halten ein riesiges Tuch fest. Jeder hat eine Ecke davon und der Sporttherapeut wirft einen kleinen schwarzen Ball in die Mitte. Nun muss nach und nach jeder den Stoff hoch schwingen, um das runde Ding quer über das Tuch fliegen zu lassen. Ziel ist es, die Kugel nicht auf den Boden zu bringen. Was für ein Blödsinn, denke ich mir, als meine Sitznachbarin mich plötzlich anrempelt.
„Der Ball ist weg geflogen. Du musst schon etwas aufpassen.“ Alle sehen mich an, während mir die Hitze ins Gesicht steigt. Ich murmle Entschuldigungen und bin die nächste halbe Stunde scharf darauf bedacht, die Kugel zu beobachten.
Noch eine Therapie erfolgt, bevor wir zurück zu unserem Haupthaus gehen, Wassertreten. Ich weigere mich diesmal mitzumachen, weil ich niemand meine Zehen zeigen möchte. Die Frau mit dem Desinfektionsmitteltuch macht auch nicht mit …
Die Abläufe wiederholen sich täglich. Wecken, Tabletten, Frühstück, Therapien, Mittag, Mittagsruhe, Therapien oder Ausflüge, gegebenenfalls wieder Tabletten, Abendbrot und Nachtruhe. Eine stoische Routine, die ich langsam verinnerliche. Tag für Tag kann ich mehr mit den Behandlungen anfangen und beteilige mich aktiv. Voller Stolz darf ich, gegen einen kleinen Obolus, meinen selbst hergestellten Korb nach Hause nehmen. Beim Tuchschwingen läuft ein kleines Duell zwischen mir und einem Patienten. Wir versuchen es uns so schwer wie möglich zu machen, den Ball zu halten. Ich lache auf und sehe, dass es mir fast alle gleich tun.
Eine besondere Erfahrung ist PMR. Das bedeutet Progressive Muskelrelaxation und ist eine Entspannungsmethode nach Jacobsen. Eine kleine Gruppe von Patienten, und ich, liegen in einem abgedunkelten Raum. Im Hintergrund läuft Entspannungsmusik, mal Blätterrauschen, mal Wellenklänge am Strand – je nachdem, was die Pflegekraft für eine Geschichte vorliest. In Laufe der Story spannen und entspannen wir verschiedene Muskelgruppen. Keine Ahnung warum, aber nach diesen Sitzungen kann ich mich wieder besser konzentrieren. Später darf ich sogar selbst die Therapie leiten und bin glücklich, als einer meiner Schützlinge dabei schnarchend einschläft. Zu Hause führe ich PMR als Abendritual ein und zum ersten Mal, seit der blöden Mobbinggeschichte, kann ich wieder durchschlafen.
Interessant sind auch die Therapierunden mit dem Arzt. Er klärt mal über die Entstehung von Depression auf und mal über das Erkennen von Zwängen. Bei dem Thema Burnout höre ich auf mir Notizen zu machen, weil ich geschockt bin. Ich habe das Gefühl, als würde er über meine Situation reden. Das bringt mich zum Nachdenken und anscheinend merken das die anderen.
Irgendwie, wie auch immer das geschehen konnte, werde ich als Teil der Gruppe, mit denen ich immer zur Therapie gehe, „adoptiert“. Oftmals sitze ich in ruhigen Minuten mit ihnen auf dem großen Sofa und sie versuchen mir Stricken beizubringen. Das ist für alle sehr erheiternd, weil ich zwei linke Hände habe und nichts Vernünftiges dabei heraus kommt. Und doch, das monotone Klimpern der Nadeln hat etwas Beruhigendes.
Auch jetzt sitzen wir zusammen, mit Stricknadeln und Wolle bewaffnet, als, ich nenne sie mal Marleen, das Gespräch eröffnet.
„Was ist denn los. Du bist so nachdenklich.“
Ich schau in die Runde und bemerke, dass sie mich alle ansehen, doch das ist mir überhaupt nicht unangenehm und ich wundere mich, wie einfühlend meine Gruppe ist. Doch bevor ich etwas sagen kann, kommt Pflegekraft Marion in den Aufenthaltsraum und zitiert mich zu sich. Die Leichtigkeit des Moments ist verschwunden und die gewohnte Unsicherheit erfasst mich.
„Stefanie, ich finde es schön, dass dich die Patienten so gut akzeptiert haben, aber du bist immer noch Teil Pflege und du solltest dir dessen bewusst sein. Wir haben uns untereinander unterhalten und sind der Meinung, dass du ab morgen nicht mehr an den Therapien teilnehmen wirst sondern mehr pflegerische Aufgaben bekommst.“
Ich schaue zu Boden und bin schlagartig down. Gerade hatte ich das Gefühl alles richtig zu machen, doch das war wohl erneut ein Trugschluss. Mir schießen Tränen in die Augen, weil ich mich angegriffen fühle. Schnell blinzle ich sie weg, weil Marion mir nicht ansehen soll, wie sehr mich ihre Worte treffen. Trotz allem nicke ich brav, will schon gehen, als sie mich noch einmal anspricht.
„Ach, noch was. Es geht nicht, dass du die Patienten duzt. Sie sind krank. Sie haben psychische Probleme. Sie sind hier, weil sie unsere Hilfe brauchen. Du bist keine von ihnen. Du bist auf der anderen Seite!“
Nach der Ansprache gehe ich wieder hoch zu „meiner“ Gruppe und sie sehen mich fragend an. Marleen winkt mich zu sich und zeigt auf den freien Stuhl neben ihr. Ich schaue mich um, sehe keine Pflegekraft und setzte mich schnell auf den mir angebotenen Platz.
„Was wollte sie von dir?“ Sie rückt gleich raus mit der Sprache.
„Ich soll euch nicht mehr duzen und mir bewusst machen, dass ich kein Patient bin.“
Richard lacht auf. „Bist wohl doch keiner von uns? Willst nicht zu den Verrückten gehören?“
Ich sehe ihn empört an. „Ihr seid nicht verrückt. Wenn ihr es seid, dann bin ich es auch.“
Es fällt mir schwer meinen Tagesablauf umzustrukturieren, der mir gerade so viel Sicherheit gegeben hat. Ich rede wieder kaum mit meinen Kollegen, weil ich nicht weiß, was die Pflegekräfte von mir hören wollen. Mein eingeübtes Lächeln und der Schutzwall aus geheucheltem Interesse, welchen ich mir die Wochen auf der Horrorstation angelegt hatte, sind hier verpufft und ich fühle mich erschöpft, erschöpft und unsicher.
Zu Hause schlafe ich die Nacht wieder schlecht, habe Albträume und wache durchschwitzt auf. Vor dem nächsten Arbeitsbeginn rauche ich drei statt zwei Zigaretten und führe Atemübungen durch, die ich durch die Therapie gelernt hatte. Es wird alles gut. Es wird alles gut. Du schaffst das!
Es ist gar nicht so schlimm, wie ich es mir gedacht habe. Meine Konzentration ist erstaunlich gut und ich kann auf gestellte Fragen überraschend genau antworten. Darüber bin ich so erstaunt und glücklich, dass ich den ganzen Tag mit einem Lächeln im Gesicht herum laufe.
Zum ersten Mal darf ich an den Ausflügen am Nachmittag teilnehmen und mir wird eingeschärft, dass ich niemanden aus dem Blick verlieren darf.
„Straßenbahnfahrten, enge Räume, viele Menschen. Die Patienten kommen da schnell an ihre Grenzen. Wir wissen nicht, wie sie in solchen Situationen reagieren. Vielleicht laufen sie weg oder werden aggressiv. Was auch immer passiert - bleib in meiner Nähe und beobachte sie genau.“ Ich sehe zu meiner Gruppe und betrachte sie mit Adleraugen. Schnell merke ich, dass sie sich wirklich anders verhalten als in dem geschützten Umfeld der Psychiatrie. Schweigend steht jeder für sich, peinlich genau darauf bedacht, keinen anderen Menschen zu berühren. Auch wirken alle ganz blass und scheinen sich komplett auf sich zu konzentrieren. Marleen wischt sich permanent ihre Handflächen an ihrer Jeans trocken und auch Richard, der sonst immer eine große Lippe riskiert, blickt nur stumm auf seine Füße. Dinge, die für mich selbstverständlich sind – angerempelt zu werden, Smalltalk mit einer fremden Dame, der ich meinen Sitzplatz überlassen habe – scheinen für meine Schützlinge äußerst bedrohlich zu wirken. Ja, ich behalte sie im Blickfeld.
Die Ausflüge sind dennoch toll. Ich lerne die Sehenswürdigkeiten der Stadt kennen, gleichwohl ich die Auswahl der Themen oftmals sehr unpassend finde. Ein Haustier-Museum voller ausgestopfter Tiere scheint mir nicht ein geeigneter Ort zu sein, um wieder Lebensfreude zu tanken. Später weiß ich, dass es eine Art Konfrontation mit den eigenen Ängsten ist. Verlust, Tod. Themen, die uns alle prägen.
Bei einem Ausflug komme ich selbst an meine Grenzen. Ich soll Pater Noster fahren. Kennt ihr das? Das ist ein Fahrstuhl ohne Türen. Ohne Türen! Als ich sehe, wie Stück für Stück meine Schützlinge darin verschwinden und irgendwann wieder auftauchen, wird mir ganz schlecht. Tausend Horrorszenarien laufen durch meinen Kopf. Ich stelle mir vor, wie ich dabei ausrutsche, zerquetscht werde, der Aufzug stehen bleibt und noch viele andere gruslige Dinge. Mein Herz rast und ich bleibe wie angewurzelt stehen.
„Na, auch mal eine Runde?“, fragt mich meine Kollegin freundlich, doch ich schüttle nur den Kopf und versuche zu lächeln.
Da senkt sie ihren Kopf in meine Richtung und flüstert: „Sie dürfen nicht sehen, dass du Angst hast.“
Bin ich so leicht zu durchschauen?
Trotz allem verliere ich nicht den Kontakt zu meiner Gruppe. Ich mag sie und bei den meisten könnte ich mir sogar vorstellen mit ihnen befreundet zu sein. Besonders Marleen und ich schwimmen auf derselben Wellenlänge. Manchmal sitzen wir in ihrem Zimmer und sie erzählt mir von sich, ihren Wünschen und den Problemen mit ihrem Vater. Genau kann ich nicht verstehen, warum sie hier ist. Sie sei müde und erschöpft, meint sie und könne sich nicht mehr auf das Studium konzentrieren. Burnout, lese ich in ihrer Akte, doch sie ist so lebenslustig und froh, was überhaupt nicht mit meinem Bild dieser Erkrankung zusammen passt.
Es ist gegen Ende meines Einsatzes in der Psychiatrie. Wir sitzen wieder beisammen und unterhalten uns über Marleens Lieblingsmusiker, als ich bemerke, dass irgendetwas nicht stimmt. Andauernd zupft sie an ihrem Rock und zuckt beim Hinsetzen zusammen.
„Hast du dir weh getan?“, frage ich besorgt und sie druckst herum.
„Ich … ähm …“ Da zieht sie ohne Vorwarnung ihren Rock hoch und ich sehe lauter feine rote Ritze an ihren Oberschenkelinnenseiten.
„Was hast du getan?“ Ich springe vom Stuhl auf um mich gleich wieder vor ihr hin zu knien, ihre Wunden begutachtend.
„Es sieht nicht infiziert aus“, meine ich sachlich und sehe sie an.
„Er hasst mich, weißt du? Ich dachte, dass es wieder besser wird, dass er sieht, wie sehr ich mich hier anstrenge, doch er haut einfach ab. Er darf nicht gehen. Er ist doch mein Vater!“ Ich schlucke hart und versuche ruhig zu bleiben, gleichwohl ich sie am liebsten anschreien würde. Doch sie erzählt weiter. „Er versteht es nicht. Er versteht nicht, was in mir vorgeht. Wenn ich mich schneide, dann geht es mir besser. Ja, das eine Mal war etwas zu doll, doch ich habe es im Griff. Ich pass auf, dass es nicht zu tief geht. Bitte, Stefanie. Verrate mich nicht.“ Sie sieht mich mit großen Augen an. Erkennt sie auch, wie geschockt ich bin?
Marleen bleibt zum Nachmittag in ihrem Zimmer und behauptet, dass sie Kopfschmerzen hat. Die habe ich nun auch. Ruhelos tigere ich hin und her. Was soll ich tun? Was soll ich, verdammt noch mal, machen? Ich schließe die Augen und atme tief durch. Einmal. Zweimal. Immer wieder. Verdammte Sch…! Doch es nützt nichts. So gehe ich zu der Kollegin, die ich am Kompetentesten finde.
„Schwester Marion, haben Sie kurz eine Minute?“ Sie nickt und wir gehen in das Schwesternzimmer.
„Ich habe ein Problem“, beginne ich, doch schon zweifle ich, ob es die passende Wortwahl war.
„Spucken Sie es aus“, fordert mich meine Kollegin aufmuntern auf. Sie lächelt dabei sogar! Ich knete an meinen Hände und mir ist schlecht. Mein Herz rast.
„Ich … Ich habe etwas gesehen. Nein, das ist schlecht ausgedrückt. Was wäre, wenn Ihnen jemand was anvertraut und sie wissen, dass es falsch ist, was sie macht, doch sie auch nicht verraten wollen und …“
Marion unterbricht mich. Wahrscheinlich hat sie kaum etwas verstanden, so schnell rede ich.
„Stefanie, Stopp! Was ist passiert?“ Marion fragt mit einer solchen Intensität, dass ich mich doch offenbare.
„Marleen hat sich geritzt. Sie kommt mit ihren Vater nicht klar. Die Wunden sind sauber und nicht sehr tief, aber trotzdem … Das ist doch kein normales Verhalten.“
Meine Kollegin sieht mich an und ich habe das Gefühl, dass sie sich gerade ein Augenrollen verkneift. Doch sie antwortet ganz ruhig: „Natürlich ist das nicht normal. Sie ist krank, Stefanie. Psychisch krank und man muss ihr helfen. Doch ich glaube nicht, dass unsere Station die richtige ist.“ Sie betrachtet mich kurz überlegend. „Gehen Sie doch eine Rauchen und dann reden wir noch mal darüber.“
Marion verlässt den Raum und ich bleibe noch kurz sitzen. Habe ich das richtige getan? Welche Konsequenzen wird das für Marleen haben und woher weiß sie, dass ich rauche? Noch in Gedanken versunken laufe ich zu meinem Rucksack, um die Zigaretten zu holen. Auf der Suche nach einer anderen Pflegekraft, wo ich mich abmelden kann, höre ich von der oberen Etage Tumult. Schnell laufe ich nach oben und stehe plötzlich mitten in meiner Gruppe. „Was ist los?“, frage ich Richard. Doch er muss gar nicht antworten, als ich die Antwort schon bekomme. Marleen kommt, flankiert von zwei Fachkräften und dem Arzt voran, um die Ecke. Mein Herz rutscht in die Hose, als ich sehe, wie blass meine Freundin ist. Dann sieht sie mich und die ganze Situation eskaliert.
„Verräterin! Du miese Verräterin!“ Mit Zornestränen in den Augen kommt sie auf mich zugerannt, doch wird von den Pflegekräften zurückgezogen. Instinktiv trete ich einen Schritt zurück und auch in meinen Augen bilden sich Tränen.
„Verräterin! Ich habe dir vertraut! Ich hasse dich! Ich. Hasse. Dich!“ Sie strampelt, zetert und flucht. Sie weint. Ich weine. Doch es hilft alles nichts. Ehe ich mich versehe wurde sie von der Station gebracht. Geschockt stehe ich da und starre auf die Stelle, wo wenige Sekunden vorher Marleen war. Das alles kommt mir vor wie in einem schlechten Film. Das kann doch gar nicht passiert sein. Ich habe sie verraten. Was habe ich getan?
„Du solltest jetzt gehen“, holt mich eine vertraute Stimme aus meinen Gedanken. Richard sieht mich an, doch sein Blick lässt mich erschauern. Ich sehe mich um und erkenne, dass nicht nur er mich hasserfüllt betrachtet. Meine ganze Gruppe starrt mich wütend an und ich fühle mich unwohler in meiner Haut als vorher.
„Verräter mag keiner!“
„Wie konntest du das tun!“
„Sie hat dir vertraut!“
Ihre Stimmen hallen noch in meinem Kopf, als ich die Treppe runter renne. Was habe ich nur getan?
„Stefanie, Sie haben sich vollkommen richtig verhalten!“
Ich schluchze und mir wird ein Taschentuch von dem Arzt gereicht. So weit ist es nun gekommen. Mich nimmt die Situation so mit, dass ich nicht aufhören kann zu weinen. Kurzerhand bringen mich meine Kollegen zu dem Nervenarzt, eine Etage höher.
„Ich habe Sie verraten…“, sage ich kleinlaut und erneut laufen mir Tränen über mein Gesicht.
Der Arzt erklärt mir lange und ausführlich, warum und dass ich mich richtig verhalten habe. Richtig für die Stellung, die ich hier einnehme – als Pflegekraft – nicht als Patient.
Er hat Recht und ich straffe meine Schultern. Ich bin nicht der Patient. Ich bin nicht der Patient. Ich bin nicht der Patient.
Die restliche Zeit auf der Station verläuft ruhig. Der Vorfall hat den positiven Nebeneffekt, dass die geforderte Distanz zwischen mir und „meiner“ Gruppe nun kein Problem mehr ist. Ich kann mich nun vollkommen auf mich und meinen Job konzentrieren. Dann ist auch schon der Einsatz vorbei. Sie benoten mich mit einer Zwei, was ich, im Nachhinein und dem nötigen Abstand betrachtet, viel zu gut empfinde. Ich hätte mir eine drei oder vier gegeben.
Am Ende umarmen wir uns sogar. Ich würde gern bleiben.
„Vielen Dank für alles! Wirklich! Der Einsatz war für mich … war … wie eine Therapie! Vielen Dank!“
Sie lächeln. Freundlich. Echt.
Heute denke ich, dass sie mich bewusst in die verschiedenen Therapien gesteckt haben. Jahrelange Erfahrung hat ihnen gezeigt, dass ich nicht ganz ich war. Der Einsatz hat mich geprägt, bis heute. Nun weiß ich, wo meine Grenzen sind, meistens jedenfalls. Außerdem erkenne ich meine Symptome körperlicher und geistiger Überlastung.
Doch warum schreibe ich euch das?
Vorurteile sind schnell gefasst. Wer in der Psychiatrie ist, ist geisteskrank. Viele Patienten verlieren nach einem Aufenthalt ihren kompletten Freundeskreis oder die Familie distanziert sich. Warum eigentlich? Burnout, Borderline oder Depressionen sind nicht ansteckend. Wie schnell man jedoch daran erkrankt habe ich selbst gesehen. Vier Wochen massives Mobbing haben mich so aus der Bahn geworfen, dass ich komplett an mir gezweifelt habe. Ich kenne Leute, die an der Verantwortung auf der Arbeit verzweifelt sind. Der Tod des Ehepartners kann genauso zu Depressionen führen wie der wohlverdiente Ruhestand. Leute mit Helfersyndrom sind gefährdet und so weiter. Letztendlich kann es jeden treffen. Auch euch.
Fazit: Passt auf euch auf! Pflegt euch – geistig und körperlich. Sucht euch Auszeiten. Tut das, was euch gut tut. Von euch wird so viel abverlangt und ihr habt auch das Recht und die Pflicht zu euch gut zu sein. Wenn das nicht mehr gelingt, wenn ihr zweifelt und euch jeder Tag quält, dann sucht euch Hilfe. Das ist überhaupt nicht schlimm sondern verdient Respekt! Macht euch nicht kaputt.
Übrigens: Ich hatte mit Marleen auch nach meinem Einsatz noch Kontakt. Als es ihr wieder besser ging, verlor sich diese Freundschaft jedoch.
Auch einen anderen „Schützling“ traf ich, zufällig, an einem Ort an dem ich nie mit ihm gerechnet hätte. Der junge Mann litt an Agora-Phobie, also die Angst vor großen Flächen meist inklusive großer Menschenmassen. Dementsprechend überrascht bin ich gewesen, als ich ihn inmitten zehntausender Menschen auf einem Festival sah – die Augen geschlossen, die Arme wie zum Flug ausgebreitet und einem Lächeln im Gesicht. Wahnsinn! Ich ließ ihn fliegen und tanzte an einer anderen Stelle.
Ihr seht also – es kann sich lohnen!