Shane starrte ihr noch verwirrt nach, während das Mädchen längst aufgesprungen und zwischen den Bäumen verschwunden war. Er beäugte missmutig seine Fesseln und versuchte, sie durch Winden und Drehen der Handgelenke zu lockern, doch sie saßen unangenehm fest. Er wartete kurz und lauschte, bevor er sich ungelenk erhob und beim Versuch aufzustehen einknickte und auf die Knie fiel. Er verstand nicht, was hier vorging, doch was immer es war, zuerst musste er sich befreien und anschließend schien es das Beste zu sein, das Mädchen zu suchen. Vielleicht war sie bis dahin auch wieder zurück. Falls sie zurückkehrte.
Ein Grund mehr sich zu beeilen. Sie war ihm gegenüber auffällig misstrauisch gewesen.
Wieso hält sie mich für eine Bedrohung? Und wer war dieser Typ? Hat sie mich vorhin für ihn gehalten?
Ihm fiel ein, dass sie während ihres Verhörs permanent in den Wald hinein gelauscht hatte. Jetzt machte es Sinn.
So nervös, wie sie die ganze Zeit war, hat sie ihn erwartet und gleichzeitig eine scheiß Angst davor gehabt. Aber wieso ist sie ihm dann hinterher gerannt?
Er rappelte sich wieder auf und kroch aus dem dichten Gebüsch heraus. Um sich nicht das Gesicht zu zerkratzen, hielt er tief gebückt auf den Bach zu. Bald fand er einen scharfkantigen Stein und machte sich geschickt daran, den Strick durchzuwetzen. Sein Kopf schmerzte, und ihm war noch immer schwindlig von ihrem Angriff. Die Anstrengung und die zunehmende Hitze erschwerten seine Bemühungen. Angesteckt von ihrer Paranoia sah er sich ständig nach allen Seiten um und arbeite hastig weiter. Seine Bewegungen wurden fahrig und seine Muskeln ermüdeten zusehends. Er hatte keinerlei Zeitgefühl, doch es schien ihm ewig zu dauern, bis die Fesseln schließlich rissen.
Mit gehetzten Blicke sah er sich in alle Richtungen um, bevor er die Hände ins kühle Nass des Baches tauchte und es sich ins Gesicht schöpfte. Er nahm seine Mütze ab, um sie kurz durchzuwaschen. Etwas Rotes löste sich im Wasser auf, und er instinktiv berührte er sich am Kopf, wo Sie ihn zuvor mit einem Ast getroffen hatte. Blut. Nicht viel und schon getrocknet. Eine prächtige Beule hatte sich auch schon gebildet. Er setzte sich die nasse Mütze wieder auf und genoss für einen Moment die Kälte. Schließlich trank er noch einige Händevoll Wasser, bevor er sich halbwegs erfrischt erhob und in die Richtung sah, in die das Mädchen verschwunden war. Inzwischen glaubte er nicht mehr an ihre Rückkehr und beschloss, sie zu suchen und herauszufinden, was zum Teufel hier los war.
Shane war ein guter Fährtenleser, doch er hatte es eilig, und sie hatte ihm wenig Spuren hinterlassen. So gut wie gar keine, wenn er ehrlich war, und zollte ihr dafür insgeheim Respekt. Nervös und wütend auf sich selbst, drosselte er sein Tempo und fand statt ihren Spuren, die eines anderen. Jemanden, der eindeutig Schuhe trug. Ein schmaler Pfad aus platt getretenen Waldblumen, Gräsern und Schösslingen wand sich, begleitet von abgeknickten dünnen Ästen, hier und da, ohne ein erkennbares Muster durch den Wald. Shane bemühte sich, keine unnötigen Geräusche zu verursachen und lauschte auf Stimmen oder andere Laute, die nicht in diese Umgebungen passten.
Jetzt verhalte ich mich schon genauso paranoid wie diese Irre.
Das Mädchen hatte sich mehr als nur seltsam verhalten. Obwohl sie gefesselt gewesen war, schien sie, bevor dieser Typ im Wald herumgeschlichen war, keine Angst gehabt zu haben, danach aber umso mehr. Gleichzeitig wirkte sie extrem aufgebracht und als ob sie ihren Zorn kaum in Zaum hatte halten können. Und sie hatte ihn als verdächtig aussehend bezeichnet.
Und was bist du dann, rennst nur in einem Nachthemdchen herum?!
Sie war schlank, aber nicht unterernährt, wie man dieser Tage vielleicht erwarten würde, sondern eher auf eine drahtige, durchtrainierte Art. Ihre selbstbewusste Haltung, wie sie sich bewegte und ihn gemustert hatte, zeugte von Stolz und einer gewissen Arroganz. Und sie schien es auch nicht seltsam zu finden, nur in Unterwäsche, einem knappen Nachthemd und auch noch gefesselt in diesen Wäldern herum zu spazieren. Sie hatte gesagt, sie wisse genau, wo sie sich befände, und Shane war sich sicher, so wie sie sich umgesehen und ständig gelauscht hatte, wusste sie auch warum sie hier war. Vielleicht wusste sie ebenfalls, warum er hier war, und verbarg bewusst es vor ihm.
Jedenfalls hat sie dieser andere Typ eindeutig nicht überrascht. Er ist höchstens zu früh aufgetaucht...
~ ~ ~
Das Mädchen kannte nur die grobe Richtung und suchte mit geübten Augen den Boden nach seinen Spuren ab. Er war eindeutig kein Anfänger, auch wenn er sich zu laut bewegte, doch seine Spuren verwischte er hervorragend. Sie zirkelte um ihren Ausgangspunkt, bis sie endlich von schweren Stiefeln niedergedrücktes Gras, auf dem jemand länger gestanden haben musste, und von schleifenden Schritten weggeschobenes Laub entdeckte. Vorsichtig untersuchte sie den Boden darum herum genauer, um die Richtung zu erkennen, in die er sich bewegte. Schließlich wand sie sich nach Osten, da ihr diese Richtung am wahrscheinlichsten und auch am einfachsten erschien. Man musste sich nicht durch unendliches Gestrüpp mit spitzen Dornen quälen.
Über einen tief hängenden Ast schwang sie sich auf einen Baum und setzte ihre Verfolgung durch das miteinander verwachsene Geäst benachbarter Bäume fort. Auf diesem Weg fühlte sie sich sicherer. Sie wusste noch nicht, wem sie auf der Spur war, und bis dahin war es von Vorteil, nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Er hatte sich bereits weiter entfernt, als sie angenommen hatte. Dennoch hielt sie häufig inne, um auf die Schritte zu lauschen. Als sie endlich welche vernahm, konnte sie ihn bereits aus der Ferne sehen.
Wie sie es sich bereits gedachte hatte, war er in die typische Uniform gehüllt, die sie auch während des Trainings getragen hatten. Ein eng anliegender Tarnanzug, mit etlichen sichtbaren und verborgenden Taschen, die sicher einige nützliche Accessoires enthielten. Doch im Gegensatz zum Training, war dieser Anzug nicht schwarz, sondern in mehrere Grün- und Brauntöne gefärbt. Perfekte Tarnung im Wald.
Der passt mir bestimmt auch.
Die Ärmel waren an den Schultern abgetrennt, und die Weste trug ihr Feind offen.
Arroganter Idiot.
Die Sonne stand hoch am Himmel, und es war heiß. Keiner von ihnen schwitzte nur noch wegen des Adrenalinrausches, den jedoch zweifellos alle durchmachten.
Unendlich langsam bewegte sie sich auf ihn zu. Vor jedem Schritt und Griff nach einem Ast prüfte sie behutsam, ob er ihr Gewicht problemlos tragen oder sich knarzend verbiegen würde. Sie nahm mehrere Umwege in Kauf, doch behielt ihr Ziel stets im Auge. Er drehte sich nicht einmal um und ließ auch sonst nicht erkennen, dass er sie bemerkt hatte. Sie erkannte, dass er abwehrend ein Messer mit schwarzer Klinge in der behandschuhten Faust vor sich hielt. An seinem Gürtel hing ein kleiner olivgrüner Wassersack, und in der Tasche daneben war sicher etwas Proviant. Wie aufs Stichwort knurrte ihr Magen, als sie sehnsüchtig an das Essen dachte. Erschrocken erstarrte sie, und duckte sich hinter einen dicken Stamm, doch natürlich hatte der Mann es nicht gehört. Verärgert schob sie den Gedanken zur Seite und arbeite sich weiter voran, bis sie einen Ast etwa vier Meter über ihm erreichte. Er war stehen geblieben und sah sich in alle Himmelsrichtungen um. Nur nicht nach oben. Sie konnte kaum glauben, dass dieser unvorsichtige Typ dasselbe Training wie sie durchlaufen hatte. Sie erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, und erkannte endlich mit wem sie es zu tun hatte. Es war Noël.
Hätte ich mir eigentlich auch denken können. Ein Wunder, dass es dieses arme Kerlchen überhaupt soweit geschafft hat.
Noël wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als sie ihre Chance erkannte und leise seinen Namen in den Wind hauchte.
„Noël."
Sie zog das ë in die Länge und freute sich über seine entgleisenden Gesichtszüge. Er musste glauben, ein Geist rufe nach ihm. Panisch drehte Noël sich um seine Achse und suchte das Unterholz nach ab. Die Angst, die sie erst vor kurzem selbst erlebt hatte, stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Er warf sich herum, suchte sie, aber dachte immer noch nicht daran, nach oben zu sehen. Das Mädchen balancierte auf dem dicken Ast, bis sie exakt über ihm stand und flüsterte noch einmal seinen Namen. Endlich hob der Jäger, der begriff, dass er zum Gejagten geworden war, den Kopf und entdeckte sie.
„Corey ...?" hauchte er ungläubig und sie weidete sich an seinen vor Schreck geweiteten Augen.
~ ~ ~
Shane folgte noch immer der Spur – nicht ganz mühelos – durch den seit Jahrzehnten unberührten Wald. Hier und da machte er einige Baumstümpfe aus, doch seit dem Krieg, der vor über vierzig Jahren ausgebrochen war, ist in dieser Gegend, so wie vermutlich überall, keine Forstwirtschaft mehr betrieben worden. Die Menschen waren mit Sterben und ums Überleben kämpfen beschäftigt. Fast über Nacht waren damals Börse und Wirtschaft zusammen- und globales Chaos ausgebrochen. Shanes Eltern waren damals selbst noch zu jung gewesen, um sich richtig zu erinnern, doch sein Urgroßvater musste als Offizier einer ABC-Abwehreinheit irgendwie involviert gewesen sein. Er hatte seinem Sohn etwas von einer neuen Seuche erzählt, entwickelt in Laboren radikaler Öko-Aktivisten, doch er hatte selbst nichts Genaues gewusst. Ihr Ziel war es gewesen, die Erde und ihre unschuldigen Lebewesen zu retten. Die Gruppierung hatte sich selbst natürlich ebenfalls als unschuldig definiert und plante ihre Mitglieder sowie ausgewählte weitere Personen durch einen Impfstoff zu immunisieren. Doch irgendetwas ist entsetzlich schief gelaufen. Es kam zu einer Korruption innerhalb der Gruppierung und einer unkontrollierten Freisetzung des Erregers. Innerhalb weniger Wochen versank die Welt in Massenpanik und Chaos. Neben den Aktivisten, die bereits geimpft waren, ihren Vertrauten, denen das Mittel verabreicht worden war und jenen, die es gestohlen oder gekauft hatten, stellte es sich heraus, dass es auch einige wenige Menschen gab, die eine natürliche Immunität besessen hatten. Shanes Großvater und ein Ahne seiner Mutter hatten dazu gehört, und sie an ihre Kinder und Enkel vererbt.
~ ~ ~
Corey lächelte, hob den Stein, den sie schon zuvor benutzte hatte, um sich von ihren Fesseln zu befreien, und danach an Shanes Kehle gedrückt hatte, über den Kopf und sprang Noël mit den Knien voran an. Noch im Fall griff sie mit der freien Hand nach seinem erhobenen Arm, mit dem er das Messer hielt, und drückte ihn beiseite. Ihre Knie rammten mit voller Wucht gegen seine Brust, die ihn nicht nur umwarf und den Atem aus seiner Lunge presste, sondern mit einem lauten Knirschen auch einige seiner Rippen brachen, als sie gemeinsam im Dreck landeten. Sein Gesicht war verzerrt von dem grauenhaften Schmerz, und er gab ein ersticktes Keuchen von sich. Corey fürchtete, er würde das Bewusstsein verlieren, bevor sie ihn befragen konnte, und nahm den Druck von seiner Brust, um ihn nicht mit seinen eigenen Rippen zu erstechen. Sofort bäumte Noël sich auf und versuchte sie abzuschütteln. Doch seine Verletzungen behinderten ihn und er schien kaum atmen zu können. Seine Zähne waren blutig und schaumig roter Speichel rann aus seinen Mundwinkeln. Sie schlug ihm mit dem eigenen Kopf gegen die Stirn und drückte ihm fest ihren Stein gegen den Kehlkopf. Keuchend kam er zu Ruhe starrte sie mit hervortretenden Augen wütend und mit vor Pein zusammengebissenen Zähnen an. Sie hoffte innständig, dass er sich nicht die Zunge abgebissen hatte und noch sprechen konnte.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen, Noël. Tatsächlich bist du derjenige, dem ich mit Abstand am liebsten zuerst über den Weg laufen wollte."
Noël knurrte hasserfüllt und spuckte ihr ins Gesicht. Unbeeindruckt lächelte Corey auf ihn herab und verpasste ihm einen kräftigen Fausthieb auf die Nase. Aus dem Augenwinkel sah Corey, dass Noël das schwarze Messer noch immer fest hielt. Sie drückte ihr Knie auf den Oberarm und legte ihr ganzes Gewicht hinein. Der Druck schnitt ihm die Blutzufuhr ab und schon nach wenigen Sekunden glitt ihm das Messer aus der zitternden Hand. Corey verstärkte zur Warnung den Druck gegen seine Halsschlagader, verlagerte ihr Gewicht und streckte das Bein nach der Waffe aus. Mit dem Fuß schob sie es zu sich heran und griff danach. Sie ließ den Stein los und setzte ihm stattdessen sein eigenes Messer unters Kinn. Sachte ritzte sie seine Haut.
„Also Noël, bist du schon irgendwem sonst über den Weg gelaufen?"
„Nein", presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, während ihm das Blut aus Nase und Mundwinkeln rann.
„Ganz sicher?", fragte sie und presste ihm das Messer so fest gegen die Kehle, dass sich ein dünnes Blutrinnsal löste. Ihm schossen Tränen des Schmerzes in die Augen, doch er blinzelte sie tapfer weg.
~ ~ ~
Shane war den Kämpfern inzwischen so nahe gekommen, dass er ihre Stimmen hörte. Er blieb stehen und lauschte. Als er die Stimme des Mädchens erkannte, schlich er sich nun wieder bewusst leise näher heran.
Gefunden!
Ganz vorsichtig, um sich nicht zu verraten, duckte er sich zwischen Bäume, Gestrüpp und die Überreste einer Mauer. Behutsam schob er sich von hinten an die Szenerie heran, damit sie ihn nicht mit ihren nervös umherstreifenden Blicken entdeckte. Das Mädchen hockte auf der Brust des Jägers, wobei Shane jedoch nicht erkennen konnte, ob es derselbe Mann war, da er eigentlich nur seine Stiefel sah. Das inzwischen völlig verdreckte und teils am Saum zerfetzte graue Nachthemd war dagegen unverkennbar. Shane fragte sich, wie sie ihn gestellt und zu Boden gebrachte hatte, andererseits wusste er aus eigener Erfahrung, wie lautlos sich das Mädchen bewegen und einen Überraschungsmoment ausnutzen wusste.
Er war noch zu weit weg, um die Bedeutung der Worte zu verstehen, doch der Ton ließ keinen Zweifel daran, wer die Situation beherrschte. Sie schien ihre volle Aufmerksamkeit auf den Mann zu konzentrieren und so arbeitete Shane sich noch dichter heran und bewegte sich in einem leichten Bogen, um mehr zu sehen, als ihren Rücken. Sie schien ihm etwas an den Hals zu halten und selbst von seiner Position aus war klar, dass es diesmal kein Stein war. Sie hatte ein Messer in der Hand und beugte sich dicht über das Gesicht des Jägers.
~ ~ ~
„Wann und wie wurdest du hergebracht?", fragte Corey scharf. Noël ließ seinen Blick über ihr kurzes Nachthemd gleiten und grinste anzüglich. Corey kniff wütend die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und drückte mit einem Knie fest gegen seinen angeknacksten Rippenbogen. Ein rasselndes Keuchen zeugte von seiner Qual, doch er blieb weiterhin stumm.
„Du wirst sterben, Noël, " sagte sie kalt, „aber du kannst es schnell haben. Oder wär es dir lieber, wenn ich noch eine Weile mit dir spiele?"
Noël war von Natur aus blass, doch jetzt wich auch noch die letzte Farbe aus seinen Zügen.
Corey kannte ihn seit über zehn Jahren. Sie hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen, die ihr einfach nur gleichgültig waren, empfand sie gegenüber Noël eine tiefe Abneigung, die sie sich selber nicht richtig erklären konnte. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie es ihre Art war. Bei jeder Gelegenheit hatte sie ihn deutlich spüren lassen, dass sie ihn für einen Schwächling und Versager hielt, der besser im Dienst eines Latrinenreinigers aufgehoben gewesen wäre. Sie hatte bewusst Distanz zu den anderen gewahrt und sich arrogant, emotionslos und bisweilen grausam gezeigt. Sie hatte sich sogar geweigert mit Noël und einigen anderen zu trainieren, und offen ausgesprochen, dass sie ihre begrenzten Fähigkeiten für unter ihrer Würde hielt. Als Ares Liebling hatte sie natürlich immer ihren Willen bekommen.
Corey wartete nicht länger auf eine Antwort, sie wusste, sie würde keine bekommen. Ohne Vorwarnung schlug sie ihm hart gegen den Kiefer, der mit lautem Knacken nachgab und brach. Ihre Hand schmerzte sogar ein wenig, so fest hatte sie ihn getroffen. Blut trat zwischen seine zusammengebissenen Zähne, und Corey sah an seinen sich verklärenden Augen, dass er um sein Bewusstsein kämpfte. Sie war einigermaßen stolz auf sich. Auch wenn Noël ohne Zweifel der schwächste Gegner war, dem sie sich stellen musste, ist er doch durch seine Ausrüstung im Vorteil gewesen. Auch physiologisch betrachtet. Er war größer und als Mann hatte er schon durch reine Veranlagung mehr Kraft als sie. Und doch hatte er sich durch Unaufmerksamkeit von einem Mädchen besiegen lassen, dass nichts hatte außer einem kleinen Stein und bald alles haben würde, sobald sie sich seiner entledigt hatte.
Noël hob den Blick und sah Corey mit trüben Augen an. Sie sah ihm an, dass er aufgegeben hatte.
„Sonnenaufgang", hauchte er qualvoll und mit schwerer Zunge. Er konnte seinen Mund nicht mehr richtig öffnen, und versuchte seine untere Gesichtshälfte so wenig wie nötig zu belasten.
„Kurz vorher vielleicht… Geländewagen. Die anderen auch… , aber alle betäubt, nach dem er startete.“
Immer wieder unterbrach er sich. Das Sprechen viel ihm sichtlicher immer schwerer. Doch Corey war erbarmungslos. Nach jeder Pause ermunterte sie ihn mit Hilfe des Messers weiterzureden.
„Keine Ahnung… welchen Abständen … abgesetzt ..." Ein schmerzhaftes Husten unterbrach ihn, als er sich an seinem Blut verschluckte. Sie ritzte ihm mit dem Messer. Anklagend und mit Tränen in den Augen, hielt er ihrem kalten Blick stand.
„… allein im Wald aufgewacht. Weiß nicht mehr ... Du bist die Erste, die ich getroffen ..."
Corey glaubte ihm. Sie hatten von den Prüfungen aus vergangenen Jahren schon gehört, dass alle Teilnehmer sediert worden waren.
Sie sah auf ihn hinab. Ihr erstes Opfer. Er war schwach und schwer verletzt. Vermutlich wäre er auch ohne weitere Hilfe gestorben. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie ihm weiteres Leid ersparte.
„Tut mir leid", flüsterte sie tonlos. „Letzte Worte?"
„Fick dich!", flüsterte er.
Corey lächelte bitter und stieß ihm sein eigenes Messer in den Hals. Mit einem harten Rucken zog sie durch Sehnen und Muskeln.
Innerlich hatte Corey schon vor Tagen versucht sich auf diesen unvermeidlichen Moment vorzubereiten. Sie rief sich in Erinnerung, dass er tot war – so oder so. Selbst wenn seine Verletzungen ihn nicht umgebracht hätten, wäre er später von irgendeinem anderen ermordet worden.
Das Leben floss schnell aus Noël heraus. In einem Schwall ergoss es sich über seine Brust, sickerte in sein Hemd und rann über seine Schultern ins Gras.
Ein leises Knacken erregte Coreys Aufmerksamkeit. Einige Meter entfernt stand Shane zwischen den Bäumen und starrte sie voller Entsetzen an.