Corey flitzte so leise und schnell wie möglich zu den nächsten dicht stehenden Gebüschen, die sie sah und kauerte sich dazwischen. Sie lauschte einen Moment, doch als kein Rascheln, Surren, Knistern oder sonstige Laute, die auf nahe Kontrahenten und ihre Waffen hindeuteten an ihr sensibles Ohr drangen, wähnte sie sich sicher genug, um etwas den Kopf über die Gebüsche zu recken und sich umzusehen.
Wie erwartet sah sie nichts, außer einem schweigsamen Wald, der allem Anschein nach nicht nur sie selbst verlässlich vor feindlicher Aufklärung verbarg. Doch sie wusste, dass die anderen nicht weit sein konnten. Vermutlich verbargen sie sich selbst irgendwo und warteten nur darauf, dass Corey und Shane ihr Versteck verließen. So würde sie es machen. Und sie würde aus den Bäumen heraus den Boden und jede Bewegung beobachten. Glücklicherweise wussten die anderen aber nicht genau, wie weit Shane und sie gekommen waren und wo genau sie sich versteckten. Das zu beobachtende Areal konnte also relativ groß sein.
Suchend drehte sie sich im Kreis, bis ihr einige Meter entfernt ein Ahorn auffiel, der sich kaum anderthalb Meter über dem Boden gabelte und in zwei immer noch beeindruckend breiten Armen und dicht belaubt, weiter in die Höhe wuchs. Der Kronenumfang war gewaltig, wie bei den meisten alten Bäumen in diesem Wald, der seit etlichen Dekaden in Ruhe gelassen worden war. Die unteren bis mittel-hohen Äste verzweigten sich gelegentlich mit benachbarten Bäumen und bildeten ein grobmaschiges Netz über dem Boden.
Corey hatte es bereits am vergangen Morgen geschafft, oberhalb des Erdbodens unentdeckt ein Ziel zu verfolgen und einzuholen. Nun galt es unsichtbar an vier Ziele heran- oder zumindest an ihnen vorbei zukommen. Doch sie war dieses Mal nicht in Eile und die Sonne ging erst in ein paar Stunden unter. Die einsetzende Dunkelheit würde ihr dann eher noch in die Karten spielen. Sie musste nur leise sein und durfte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sonst könnte es eng werden.
Noch immer trunken vor Euphorie, konnte sie es kaum erwarten auf ihren nächsten Gegner zu treffen. Innerhalb von nur anderthalb Tagen hatte sie bereits über die Hälfte besiegt. Trotz der Anstrengungen des Kampfes und des Laufens, fühlte sich das Mädchen höchst fokussiert und in Topform. Weder Schmerz noch Müdigkeit lähmten ihrer Glieder. Nie zuvor hatte sie eine Ekstase, wie sie sie nach Carolin ergriffen, überwältigt und noch nicht wieder losgelassen hatte, so intensiv und anhaltend erlebt. Diesem Hochgefühl, ging das Versprechen einher, dass niemand ihr gewachsen war. Sie fühlte sich unbesiegbar, unaufhaltsam und unwiderstehlich. Und Shane hatte es ihr bestätigt. Sie hatte ihn gespürt und es genossen. Ihre eigene Erregung musste auf ihn übergeschwappt sein. An ihn gedrängt, hatte sie sich in seinem vor Verlangen triefendem Blick gesuhlt und ihn mit jeder noch so leichten Bewegung bewusst angestachelt. Der Gedanken heizte sie an und sie wusste, dass sie nun eine ganz neue Gewalt über den Mann hatte. Doch vor dem Vergnügen, kam die Arbeit.
Das drahtige Mädchen würde ihre Kameraden in die ewigen Jagdgründe schicken, einen nach dem anderen. Doch trotz des Rausches, war sie nicht so verblendet zu glauben, sie würde es gegen alle vier gleichzeitig aufnehmen können. Zwei, vielleicht sogar drei, wenn es Gerrit nicht dabei war. Doch nicht alle vier.
Leichtfüßig lief sie zu dem Ahorn, sprang aus der Bewegung in die Gabelung und kletterte geschmeidig wie ein Leopard die abzweigenden Äste nach oben. Sie ließ sich Zeit, um keine Erschütterungen und damit auffälliges Rascheln der Blätter zu provozieren und hielt inne, als sie dem nächsten Ast nicht mehr zutraute, ihr Gewicht zu tragen, ohne sich deutlich unter ihr zu beugen. Sie robbte auf dem Bauch den Ast entlang, bis dieser sich mit dem eines Nachbarbaumes leicht überkreuzte.
Im Liegen untersuchte Corey mehrere Minuten seelenruhig jeden Winkel, den sie einsehen konnte. Erst dann hangelte sie sich herab und balancierte gewandt über die glatte Rinde zum nächsten Stamm. Sie drückte sich gegen das feste Holz und lies die Augen erneuert wandern, bis sie sicher war, nichts gesehen zu haben und nicht gesehen zu werden. Sie hängte sich mit den Armen an den nächsten Ast schräg über ihr, nahm mit gestreckten Beinen Schwung und zog sich kraftvoll hoch. Sitzend drücke sie den Rücken an den Stamm und suchte sich, nachdem sie sich gründlich lauschend umgeschaut hatte ihren Pfad über durch das Geäst. So arbeitete sie sich einmal im Kreis um Shane, der noch immer in dem hohlen Baum wartete. Doch niemand zeigte sich oder gab einen verdächtigen Laut von sich und so erweiterte das Mädchen geduldig seinen Suchradius.
Die Schatten waren bereits deutlich länger, als Corey endlich eine Form wahrnahm, die nicht zu passen schien. Sie erstarrte sofort, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sollte sie richtig liegen. Um ihren Augen eine Pause zu gönnen, schloss für einen Moment die Lider, damit sie am Ende nicht auf ein Trugbild herein fiel. Die allgegenwärtigen Grün-, Braun- und Grautöne verschwammen zunehmend und erschwerten es scharfe Konturen zu erkennen. Und natürlich waren ihre Kameraden in genau diesen Tönen gekleidet. Deutlich beherrschter als zu Beginn ihrer Suche, atmete sie stoisch ein und aus, bevor sie die Augen wieder öffnete und neu fokussierte. Ebenfalls in einem Baum, westlich von ihr und vielleicht dreißig Meter entfernt, hockte jemand. Wer immer es von den Vieren war, er oder sie kehrte ihr leider nicht den Rücken zu, sondern sah genau in ihre Richtung, doch das Gesicht konnte sie nicht deutlich genug erkennen. Corey erstarrte sofort. Hin und wieder drehte die Gestalt leicht den Kopf, doch wie es aussah, war der Blick hauptsächlich auf den Boden gerichtet.
Hmm. Ich müsste viel näher ran. Die zarten Messer waren zu leicht, um ein Ziel sicher zutreffen, dass weiter als fünfzehn, maximal siebzehn Meter entfernt war. Und sie musste versuchen, hinter den Feind zu gelangen. Die Gefahr, dass er ihr sonst erfolgreich auswich, wäre sonst viel zu groß und Corey wollte ihr Messer nicht verschwenden. Sie hatte nur diese drei und das größere Kampfmesser dabei. Die anderen warteten in ihrem Nachtlager.
Sie drückte sich an den Stamm und schob sich hinter ihn, außer Entdeckungsgefahr, um sich einen Pfad suchen zu können. Sie überlegte, denselben Weg den sie kam ein Stück zurück zu gehen, die Baumkronen zu verlassen, sich über den Boden anzuschleichen und erst wieder hinein zu klettern, wenn sie nah genug dran war. Doch sie verwarf den Gedanken, unsicher, ob nicht auf dem Weg weitere versteckte Gegner im Geäst hockten.
Wie lange halten die das wohl durch? Bis zur Dämmerung oder die ganze Nacht? Soll ich zurück zu Shane und da warten, bis es dunkel ist? Wenn die kommende Nacht so finster wie die letzte werden würde, und davon war auszugehen, könnten sie in diesem Baum jedoch auch in der Falle sitzen. Eine sehr unbequeme Falle. Leise würde sie es dann niemals durch den Wald schaffen und eine Lichtquelle, wie eine Fackel zu benutzen, wäre reiner Selbstmord. Nein, sie mussten verschwinden, so lange es hell war. Doch sie brauchte einen halbwegs sicheren Pfad, an vier Augenpaaren vorbei, die genauso wachsam und ausdauernd waren, wie sie selbst.
Möglicherweise war es sogar klüger, sich hinter den bereits aufgeklärten Feind zu bringen und von dort nach den anderen zu suchen. Sie waren nur zu viert und konnten kein allzu großes Areal wirklich gründlich überwachen.
Wo habt ihr uns verloren? Corey spähte noch einmal um den Baum herum, zu ihrem Kameraden. Er blickte in ihre Richtung. Gelegentlich nach rechts und links. Sie nahm sich die Zeit ihn genauer zu beobachten. Mit der verblüffenden Regelmäßigkeit einer Uhr, wendete er exakt alle fünfzehn Sekunden den Kopf. Als würde er die Sekunden zählen. Doch innerhalb von zehn Minuten sah er nicht einmal hinter sich. Er sah nur nach innen. Als wäre er Grenzposten eines bestimmten Gebietes, den nur interessierte, was sich darin abspielte. Corey lächelte.
Eng an ihren Baum geschmiegt, kletterte sie einige Äste weiter nach oben, bis sie so hoch war, dass ihr Ziel deutlich den Kopf heben musste, um sie zwischen den Blättern zu erspähen. Außerdem hoffte sie, so die Wahrscheinlichkeit zu senken, dass eine bloße Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte. Zwischen zehn und fünfzehn Metern über dem Boden, kroch das Mädchen bäuchlings soweit es ging, von Ast zu Ast und Baum zu Baum. Sie vermied es vollständig sich aufrecht zu halten, es sei denn sie konnte die Deckung eines breiten Stammes nutzen.
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis sie einen Halbkreis um ihren Feind geschlagen hatte, ohne die Distanz zwischen sich zu verringern zu haben, sondern im Gegenteil sogar soweit ausgedehnt hat, bis das Mädchen den anvisierten Baum gerade noch ausmachen konnte. Obwohl die Kampfeslust in ihr schwelte, warf sie nicht ihre Disziplin über Bord und bewegte sich nach wie vor bedacht. Corey konnte nur annehmen, dass ihr Kamerad sich auf denselben Bereich ausgerichtet hatte, wie seine drei Verbündeten und diese entsprechend weit entfernt sein müssten, doch sie hatte nicht vor ein Risiko einzugehen.
Sie bewegte sich inzwischen nicht mehr ganz so hoch über dem Boden, was vor allem an der Beschaffenheit der Bäume auf ihrem Pfad lag. Die Sonne nährte sich bereits dem Horizont und schimmerte orange durch den Wald. Ihre Zeit wurde langsam knapp, wenn sie noch zu Shane zurück und mit ihm zusammen in ihr Nachtlager verschwinden wollte. Als sie die Distanz zu ihrem Ziel etwa halbiert hatte, wendete ihr Gegner gerade den Kopf und sie erkannte das Profil von Filipa. Pechschwarze lockige Strähnen rahmten ihr braun gebranntes Gesicht ein. Corey hielt wieder eine Zeit lang inne, um zu prüfen, ob das andere Mädchen ihren Rhythmus immer noch bei hielt. Sie zählte die Sekunden wortlos mit und bis auf geringe zeitliche Abweichungen, hatte Filipa ihre Methode nicht geändert.
Als Corey endlich eine Hainbuche im Rücken der Schwarzhaarigen erreichte, die mit einem geschätzten Abstand von zehn Meter nah genug war, und den Fuß auf einen stabilen Ast auf derselben Höhe stellte, hielt sie für eine weitere kurze Pause inne. Ihr Adrenalinspiegel war mit jedem Meter, den sie an das Mädchen heran gekommen war, gestiegen. Ihre Hände waren ruhig, während ihr Herz vor Erregung hart gegen ihren Brustkorb hämmerte. Sie entschied sich noch ein Stück weiter nach oben zu Klettern. Ein Messer nach unten werfen, war nicht nur einfacher als nach oben, es gewann auch an Durchschlagskraft, statt sie einzubüßen.
Ohne den noch einmal den Blick von dem Lockenkopf abzuwenden, überwand sie weitere anderthalb Höhenmeter und platzierte schließlich den rechten Fuß in der Gabel zwischen Baumstamm und einem fast aufrecht gen Himmel gewachsenen Ast. Den breiten Stamm behielt sie als Deckung vor dem Körper und lehnte sich als zusätzliche Stütze mit der Schulter dagegen. Das linke Bein gegen einen nicht ganz so steilen Ast hinter sich gestemmt, hielt sich mit einer Hand an der zerklüfteten Rinde des Stamms fest. Ohne Hast zog Corey eines der drei Messer aus dem engen Holster, das sie am Morgen um ihren Oberschenkel geschnallt hatte. Ihr Ziel fest im Blick, richtete sie ihren schmalen Oberkörper aus, hielt das Messer an der Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger dicht neben ihrem angeritzten Ohr. Sie wartete, zählte die Sekunden, bis Filipa den Kopf wieder so drehen würde, dass sie ihr das Messer direkt in die Schläfe schleudern konnte und atmete kontrolliert. Ein. Und aus. Ein und aus.
Filipa schien nicht mehr mit zu zählen. Sie verspätete sich bereits um 7 Sekunden. Corey wurde unruhig. Hatte die andere etwas gesehen oder gehört? Ihre Gedanken rasten zu Shane. War er noch im Baum oder hatte er sich etwa entgegen ihres Befehls auf eigene Faust daraus entfernt und lief schnurstracks in sein Verderben? Dann drehte Filipa den Kopf. Mit einer geringen Verzögerung warf Corey ihr Messer. Und verfehlte.
Abgelenkt von der Angst um Shane, verlor Corey den Fokus und das Messer drang nicht wie geplant in Filipas Schädel, sondern in die Borke dicht neben ihrem Ohr.
Fuck!