„Conny?! Äh, hi... mit Ari alles in Ordnung?"
Tom saß auf der alten Couch und sah der Frau halb irritiert, halb besorgt entgegen. Sie grinste verschmitzt, als wüsste sie ganz genau was in seinem Kopf vorging. Und das traf mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auch zu. Mütter. Seine war genauso. Sie sahen einem an der Nasenspitze an, was los war, als stünden ihm seine Gedanken und Gefühle auf der Stirn. Und auf Toms Stirn prangte allem Anschein nach in leuchtenden Lettern „What the Fuck?! Wieso bist du hier und nicht deine hinreißende Tochter, auf die ich total stehe, ihr das aber nicht sagen kann."
Cornelia schloss die Tür, ging in aller Ruhe um das Sofa herum, ließ ihren Blick durch den raum schweifen und setzte sich auf den flachen Couchtisch. Sie überschlug die Beine, kreuzte die Arme vor der Brust und neigte den Kopf leicht zur Seite, während sie ihn einer langen, schweigenden Musterung unterzog.
Tom folgte jeder Bewegung mit den Augen und fragte sich mit wachsender Unruhe, wieso Ari nicht gekommen war, wie gewöhnlich - wie erwartet. Hatte sie es ihrer Mutter erzählt? War sie vielleicht gar nicht daheim? Sondern im Krankenhaus oder in einer psychiatrischen Anstalt oder auf Kur? Hatte sie sich versucht etwas anzutun. Eine Horrorvorstellung nach der anderen rollte wie eine nicht enden wollende Lawine durch seinen Kopf.
„Guten Abend, Thomas.", begann Conny. „Schön dich mal Zuhause zu sehen. Ja, mir geht's soweit gut. Danke der Nachfrage. Ach, kein Problem, ich komm doch gern an einem Freitagabend weit nach elf her, um nach dir zu sehen."
Verschämt senkte Tom den Kopf. „Sorry, Conny."
Die Frau seufzte und winkte ab. „Schon gut. Ari geht's gut. Sie muss nur lernen und schickt mich deshalb mal wieder zu dir."
Stutzig kniff er die Augen leicht zusammen und überlegte. Das klang nach einer Ausrede. Doch er konnte nicht erkennen, ob auch Cornelia das Lernen für eine fadenscheinige Entschuldigung hielt. Und falls ja, wusste die Frau auch wofür?
„Lernen? Sind nicht Semesterferien?"
Noch während er die Worte sprach, fiel sein Blick durch die offenen Fenster, nach draußen in die Dunkelheit der Nacht und Connys Worte hallten wie ein Echo durch seine Gedanken: „weit nach elf". Ari hatte Angst raus zu gehen. Wer hätte das in ihrer Lage nicht? Sofort verknotete das schlechte Gewissen seine Eingeweide. Wie hatte er nicht gleich daran denken können, bevor er sie aufgefordert hatte, zu ihm zu kommen, um seine blöde Schulter einzurenken. Ich hätte auch einfach zu ihr gehen können. Wäre dieses Mal echt kein Akt gewesen. Wütend über sich selbst schüttelte er leicht den Kopf.
„Tja", meinte Cornelia schulterzuckend. „Sie hat noch ein paar Prüfungen vor sich und verschanzt sich schon seit Wochen nahezu durchgehend in ihrem Zimmer. Eigentlich verlässt sie es nur, um auf Arbeit, in die Praxis zu gehen."
Sie vergräbt sich also in Arbeit. Tom war nicht sicher, ob Conny ihrer Tochter das Lernen abkaufte und wirklich nicht vermutete, dass noch mehr dahintersteckte. Oder er selbst lag falsch. Und es ging ihr, so unwahrscheinlich es auch war, wirklich gut und sie war einfach nur im Lernstress. Conny sah sich suchend um und runzelte die Stirn.
„Sie ist im Schlafzimmer", beantwortete Tom die unausgesprochene Frage. Die Frau nickte und warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Dann zwang sie sich zu einem strengen Gesichtsausdruck und stemmte die Hände in die Hüfte. Ihre Augen hafteten bereits an seiner Schulter und dem schlaff herunterhängenden Arm.
„Also, Bursche, was hast du wieder mit dir anstellen lassen?" Prüfend ließ sie ihren Blick auch über sein Gesicht und den freien Oberkörper wandern. Er hatte versucht sich ein Shirt anzuziehen, war aber ohne Hilfe mindestens einer weiteren Hand daran gescheitert. „Schön, dass du heute mal nicht ganz so demoliert aussiehst. Wirst du langsam etwa doch noch besser?"
Tom errötete leicht. Die Frau nahm kein Blatt vor den Mund. Das hatte sie mit ihrer Tochter gemein. Beide gnadenlos ehrlich und ein bisschen fies. Er grinste verlegen. „Ja, naja...", stotterte er und deutete ausweichend auf seine Schulter. „Das Gelenk ist wieder rausgesprungen."
Conny nickte über das Offensichtliche und zog fragend die Augenbrauen hoch. Ihre Augen brannten sich seine. Er biss sich beschämt auf die Lippen.
„Ansonsten geht's mir gut. Ehrlich."
„Na schön. Los, leg dich auf den Bauch!"
Grübelnd tat er wie geheißen. Vielleicht sollte er sogar froh darüber sein, dass Ari nicht aufgetaucht war. Ihre letzte Begegnung war, auch abgesehen von den schrecklichen Umständen, mehr als intensiv gewesen. Vielleicht war er zu weit gegangen und hätte sich nicht auch noch dazu verleiten lassen dürfen, ihr bevor er abgehauen war, einen Kuss auf den Kopf zudrücken, nachdem er sie die ganze Nacht festgehalten hatte, als wäre er ihr Freund.
„Aah", stöhnte er und biss die Zähne zusammen, als die Frau fachmännisch das Gelenk wieder in seine Pfanne drückte. Der Schmerz verebbte langsam und Tom richtete sich etwas hölzern wieder auf. Conny betrachtete ihn mütterlich.
„Tommy. Warum machst du diesen Unsinn?"
„Conny...", begann er, ohne zu wissen, was er darauf antworten sollte. Er kratzte sich am Kopf. Sie stellte die Frage nicht zum ersten Mal. Genau wie seine eigene Mutter. Tatsächlich hat nur Ari noch nicht danach gefragt. Sie wollte nicht mal wissen, bei was er sich seine Verletzungen zuzog. Er fragte sich, was sie vermutete und wie nah sie an der Wahrheit war. Er hatte weder seiner Mutter noch Conny erzählt, was er wirklich machte, doch er zweifelte nicht daran, dass sie ihre Theorien hatten. Aber sollten sie schon machen. Er war erwachsen und sie konnten ihn weder aufhalten noch einsperren. Und er musste es tun. Für seine Mutter.
„Ich kann das nicht gutheißen, und Katrin auch nicht, auch wenn du mit dem Geld versuchst eure ganzen Rechnungen zu bezahlen. Hör zu, ich biete dir das gern erneut an, ich kann euch ein bisschen unterstützen. Nimm es an."
Thomas wandte mit aufeinander gepressten Lippen den Blick ab und starrte auf die geschlossene Tür zum Schlafzimmer seiner Mama.
„Conny, ich weiß, du meinst es gut, aber sei ehrlich. Was bringt das noch. Sie liegt bereits im Sterben. Und ich kann nichts tun. Gar nichts. Außer das. Auch wenn es am Ende nichts hilft. Ich brauch das. Ich brauche es."
Er ließ den Kopf hängen. Ein leichter Ruck ging durch die Couch und als Conny sich neben ihn setzte und an sich zog. Die kleine Frau umarmte ihn schweigend und streichelte ihm besänftigend über den Rücken, als wäre er ein kleines Kind. Die Geste löste beinahe ein Schluchzten aus, doch Tom beherrschte sich. Trotzdem nahm er sie an und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Es tat gut. So gut, mal nicht der zu sein, der Trost spenden und sich um alles sorgen und kümmern musste. Für einen Moment verschwand die ganze Last, die seit Monaten auf seinen Schultern lastete und er genoss die Ruhe und Wärme, einer mütterlichen Liebkosung. Er stellte sich seine eigene Mutter an Connys Stelle vor und erwiderte die Umarmung voller Sehnsucht. Als er die Tränen in seinen Augen spürte, löste er sich behutsam und lächelte zerknirscht.
„Du kannst immer vorbeikommen oder anrufen, dann kommen ich oder Ari her, das weißt du, richtig?"
Tom nickte stumm und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Conny erhob sich von der Couch, wuschelte ihm liebevoll zum Abschied durch die Haare und legte ihre schmale Hand auf seine Schulter.
„Ich komm morgen Vormittag wieder vorbei und seh nach ihr. Bleib nicht zu lange wach, ja?"
„Jawohl", sagte er und sah ihr nach, während Conny zur Tür ging. „Und danke!"
Sie drehte sich um und lächelte. „Kein Thema. Aber pass besser auf dich auf! Gute Nacht."
„Gute Nacht."
Als die Tür leise ins Schloss fiel, atmete Thomas tief ein. Ari... ich hoffe, dir geht's gut. Er zog sein altes iPhone aus der Hosentasche, entsperrte es und öffnete Whatsapp.
Seine letzte Nachricht an das Mädchen, mit der Bitte wegen seines Gelenks vorbei zu kommen, prangte im Chatverlauf ganz oben und schien ihn zu verhöhnen. Sein Daumen verharrte über der digitalen Tastatur, ohne sich zu rühren. Er starrte auf die Buchstaben und wusste nicht was er tun sollte. Vielleicht würde sie gar nicht antworten. Sie hatte ja auch vorhin nicht geantwortet, dass sie nicht kommt und ihre Mutter herschickt. Er schmiss das Handy ans andere Ende der Couch und stand auf, um wie versprochen ins Bett zu gehen.
~ ~ ~
Ari tigerte durch ihr Zimmer. Seit ihre Mutter weg war, hatte sie sicher schon sechs Zigaretten gedreht und geraucht. Das schlechte Gewissen fraß sie auf. Nachdem sie Thomas Nachricht erhalten hatte, war sie direkt aufgesprungen und schon halb aus der Tür, als ihr bewusst wurde, wie spät es war. Wie dunkel es draußen war. Wie weit der Weg zu Tom war. Wie allein und hilflos sie war.
Unsichtbare schwarze Ranken wuchsen aus dem Parkett, schlangen sich um ihre Knöchel und hielten sie eisern an Ort und Stelle, während ihr Herz seinen Takt verlor und sie holpernd in die Knie zwang. Ari verschluckte sich hyperventilierend an ihrem Speichel, würgte und schnappte nach Luft. Auf allen Vieren kroch sie zurück in ihr Zimmer, hievte sich ins Bett und versteckte sich unter ihrer Decke. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Muster auf ihrem Bettbezug an und zwang sich zur Ruhe. Langsam fand die Luft wieder den Weg in ihre Lungen und ihr aufgewühltes Herz seinen Rhythmus. Als sie endlich sicher war, wieder normal reden zu können, ist sie zu ihrer Mutter gegangen, die im Wohnzimmer auf der Couch ein Buch las und bat sie, an ihrer statt zu Tom zu gehen, da sie gerade voll im Stoff war und die Unterbrechung nicht gebrauchen konnte. Conny war zwar überrascht, hinterfragte die Bitte ihrer Tochter jedoch nicht. Also ging sie und ließ ihre Tochter auf heißen Kohlen zurück.
Ari wollte gerade wieder auf den Balkon zusteuern, als sie endlich hörte, wie jemand von draußen einen Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür steckte und sie öffnete. Ari war drauf und dran, auf ihre Mutter zu zustürmen, doch sie riss sich am Riemen und setzte sich stattdessen bewusst ruhig an ihren Schreibtisch. Sie legte ihre rechte Hand auf die Maus, um die Illusion von höchster Konzentration aufrechtzuerhalten, und die linke, zur Faust geballt, in ihren Schoß, um das Zittern vor den scharfen Augen ihrer Mutter zuverbergen. Ungeduldig wartete sie, bis Cornelia endlich kam, um Bericht zu erstatten.
„Puh, Kind. Rauch nicht so viel. Tom hat gleich nach dir gefragt", begann sie völlig übergangslos und rammte ihrer Tochter den bereits steckenden Dolch noch ein Stück tiefer ins Herz. Ari biss sich auf die Unterlippe. Sie war nicht in der Lage, etwas Vernünftiges darauf zu antworten, das gleichzeitig ausreichend teilnahmslos wirken würde, um die Illusion von Desinteresse und emotionaler Unabhängigkeit von diesem Thema aufrechtzuerhalten.
„Habt ihr euch irgendwie gezofft? Du bist komisch, seit du das letzte Mal dort warst. Naja, eigentlich schon seitdem ersten Mal."
Ari unterdrückte ein Stöhnen und schüttelte den Kopf, ohne ihre Mutter anzusehen.
„Naja, jedenfalls geht's Thomas gut. War nur die Schulter. Hallo? Rede ich mit einer Wand?"
Ari seufzte und drehte sich zu ihrer Mutter um. Die hatte sich auf ihre Bettkante gehockt und sah ihre Tochter erwartungsvoll an. „Schön", sagte Ari und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.
„Ist das alles? Ehrlich Kind, ich dachte du brennst drauf, endlich wieder einen Vorwand zu haben, um ihn zu sehen."
Überrascht klappte Aris Mund auf und ihre Mutter lächelte triumphierend. Ertappt drehte sie sich wieder um und starrte auf ihren Monitor.Soviel zu ihrer mühsam aufgebauten Illusion. Wieso wissen Mütter scheinbar immer alles? „Er will mich nicht", nuschelte sie und legte den Kopf auf ihre Arme.
„Den Eindruck hatte ich gerade nicht."
„Dann irrst du dich."
„Ari, er war total geschockt, als ich durch die Tür trat und nicht du."
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Er ist nur an mich gewöhnt. Bitte lass mich, Mama, ich muss lernen."
„Süße..."
„Mutter! Alles gut, ok?! Geh, bitte."
Ihre Mutter strich ihr über den Kopf und verschwand leise. Sie zog die Tür hinter sich zu und Ari hörte sie ins Bad gehen. Sie stand auf, griff sich ihren Tabak und ging ein weiteres Mal zu ihrem Balkon.