„Kai.“
Für einen Moment wirkte er äußerst verwundert, dann drehte er sich zu der Person um, die ihn ansprach. Auch ich kam nicht umher, dem Fremden einen überraschten Blick zuzuwerfen. Vor allem, weil er ziemlich verloren wirkte, wie er da so vor uns stand.
Gleich auf den ersten Blick wirkte er charmant, weil er mich verunsichert anlächelte. Im Vergleich zu Kai hätte aber wohl jeder in diesem Augenblick sympathisch gewirkt.
Der schien von dem Auftauchen des jungen Mannes vor uns beinahe aus der Bahn geworfen zu werden. „Ray.“
Eine merkwürdige Stimmung lag in der Luft und mitten drin war mal wieder ich. Die beiden erweckten den Eindruck, dass Redebedarf bestand, doch meine Anwesenheit störte sie ganz offensichtlich.
Der Fremde musterte mich, warf zwischendurch einen Blick zu Kai und reichte mir dann schließlich seine Hand. „Ich bin Ray Klevens, ein Freund von ihm hier.“
Er lächelte mich an und ohne besondere Absicht erwiderte ich es. Ich war tatsächlich überrascht, dass jemand, der Kai seinen Freund nannte, so nett wirkte. Was hatte es nun aber mit den beiden auf sich? Nun waren schon zwei Fremde im Dorf und über beide wusste man nichts. Es war ungewöhnlich.
„Ich nehme an, dass du sein einziger Freund bist, oder?“ Ich warf Kai einen verstohlenen Blick zu.
Seine schroffe Art konnte nicht einfach vergessen werden und ich war deswegen nicht unbedingt in bester Stimmung. Wirklich, dass er Freunde haben sollte, wunderte mich stark.
Kai starrte mich abweisend an, dann wandte er sich dem Neuankömmling zu. „Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.“
Ray lächelte noch immer, doch dieses Mal schimmerte wieder die Unsicherheit hindurch. Ich nickte bloß und beschloss, den beiden ihren Raum zu lassen. Trotzdem hoffte ich, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt erfahren würde, was es mit den beiden auf sich hatte.
Was mich daheim allerdings erwartete, verblüffte mich beinahe noch mehr, als die Anwesenheit zweier Fremder in Spellington. Meine Mutter verkündete mir stolz, ein Date zu haben.
Um zu verstehen, wieso mich diese Aussage überraschte, muss ich wohl zuerst erklären, wie meine häuslichen Umstände waren.
Es gab nur meine Mutter und mich. Wir lebten alleine in einem schönen, großen Haus mitten in Spellington. Ich wuchs ohne Vater auf. Nicht, dass es nicht einen geben würde, aber aus den Erzählungen meiner Mutter wusste ich nur, dass der uns kurz nach meiner Geburt verlassen hatte. Es gab nie ein Wort, eine Karte zu meinem Geburtstag. Einfach nichts. Zu gerne hätte ich ihn kennengelernt, aber ich wusste nicht, wo er sich befand, also gab es keine Möglichkeit für mich, ihn zu kontaktieren.
Für gewöhnlich blieb meine Mutter alleine. Sie war Anwältin und ohnehin selten zu Hause. Vermutlich fehlte da einfach die Zeit für einen Mann, immerhin konnte sie sich kaum welche für mich nehmen.
„Er heißt Michael Brown.“ Sie klang glücklich und um ehrlich zu sein, war es mir zu diesem Zeitpunkt egal. Ich muss zwar schon zugeben, dass mir ein bisschen die Vaterfigur in meinem Leben gefehlt hat, doch ich war auch nie besonders scharf darauf, sie durch einen Fremden besetzt zu wissen. Vor allem nicht mehr in meinem Alter.
„Und wann gehst du endlich?“ Ich grummelte es nur leise vor mich hin, was aber mehr meiner allgemeinen Grundstimmung an diesem Tag zuzuschreiben war.
„Gleich.“ Sie trällerte es fröhlich. „Willst du mich loswerden?“
Ich ließ mich auf den Sessel fallen und legte meine Füße auf der Rückenlehne ab. „Nur diesen Kerl.“
„Douphne, nimm die Füße runter“, ermahnte meine Mutter mich und sah auf mich herunter. „Du kennst ihn doch noch gar nicht. Gib ihm wenigstens eine Chance.“
Ich sollte wohl noch erwähnen, dass wir ständig aneinander vorbeiredeten. Unsere Beziehung war gut, wie sie war. Ich war selbstständig genug, um alleine klarzukommen. Das lernte ich in all den Jahren, in denen sie so viel arbeitete. Es gefiel mir so, denn umso mehr wir miteinander redeten, umso mehr stritten wir uns. Alleine deshalb stellte ich mir gerne vor, wer wohl mein Vater war. Meine Mutter und ich waren uns nicht wirklich ähnlich, also musste ich ihm eindeutig ähnlicher sein.
Jetzt starrte ich sie bloß verwirrt an, weil sie mich mal wieder nicht verstand. „Ich rede doch gar nicht von deinem Date.“
Was sollte ich denn auch gegen einen Mann vorbringen, den ich noch gar nicht kannte? Obwohl ich ehrlicherweise zugeben musste, dass mir nicht der Sinn danach stand, ihn kennenzulernen.
Mom zwängte sich zu mir auf den Sessel und blickte mitleidig auf mich herunter. „Dein Tag war mies, mein Schatz?“
Ich seufzte. „Alex und ich haben Streit und wir haben einen neuen Mitschüler. Ich fand ihn zuerst toll, aber jetzt habe ich gemerkt, dass er es nicht ist.“
In dem Augenblick klingelte es an der Türe. Zwei Minuten später war meine Mutter bereits verschwunden und ließ mich mit meinem Frust alleine zurück.
Als meine Mutter am Abend heimkam, brachte sie ihr Date mit. Für jemanden, der den Abend also eigentlich in Ruhe auf der Couch mit der Lieblingsserie genießen wollte, entwickelte es sich nicht unbedingt toll. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich sogar, sie würde mich dort einfach sitzenlassen, aber kaum fiel die Türe hinter ihnen ins Schloss, ermahnte sie mich bereits, aufzustehen.
So kam es dann, dass ich nur wenig später mit meiner Mutter und Michael Brown an einem Tisch saß und Tee trank. Alles in allem konnte man schon sagen, dass die Situation angespannt wirkte. Wer will denn bitte am Date der eigenen Mutter teilhaben? Sie hätte mir den Mann auch erst Wochen später vorstellen können, oder nicht?
Richtig unangenehm wurde es allerdings erst, als der neue Göttergatte beschloss, mich auszufragen. Keine sinnvollen Fragen, geschweige denn originelle. Er arbeitete offenbar ein Handbuch ab. Vielleicht gab es ja eines, was einem näherbrachte, wie man Töchter des Dates für sich einnehmen konnte. Eine gruselige Vorstellung, oder? Naja, ungefähr so gruselig wie dieser Moment.
Der arme Michael stellte tapfer jede Frage, die ihm einfiel und ich antworte brav, äußerst bemüht, nicht unfreundlich zu erscheinen. Sicherlich wollte ich nicht dazu beitragen, den ersten Mann seit Ewigkeiten gleich wieder zu vergraulen. Welche Strafe es wohl dafür geben würde? Hausarrest mit Sicherheit nicht. Und überhaupt, wer sollte schon kontrollieren, ob ich überhaupt zu Hause bleiben würde? Mom war ja nie da.
Ich lächelte still in mich hinein, während Michael mich ebenfalls anlächelte. Ein wenig gezwungen, das muss ich schon zugeben. Ihm schien die Situation fast noch unangenehmer zu sein, als mir. Dass das überhaupt noch möglich sein konnte.
Regen prasselte gegen das Fenster. Es fiel mir nur auf, weil endlich mal Stille herrschte. Michael schienen die Fragen ausgegangen zu sein. Endlich. Ihm und mir schien die Anspannung aufzufallen, aber meine Mutter bemerkte es nicht. Merkwürdigerweise schien es Michael nicht sonderlich zu stören, dass geschwiegen wurde. Vermutlich musste es ein komischer Abend für ihn sein und er wollte wohl einfach nur noch weg. Dieses Gefühl teilte ich mit ihm. Wirklich.
Als es plötzlich an der Türe schellte, riss es uns alle aus unseren Gedanken und ich schrak auf. Wer wollte wohl noch so spät am Abend was von uns? Vermutlich war es Alex, der wieder mit irgendwelchen Hirngespinsten um die Ecke kommen wollte. Auch danach stand mir nicht der Sinn, aber alles, wirklich alles, war besser, als noch eine Minute länger Teil des Dates meiner Mutter zu sein.
Unglaublich, dass ich da hineingeraten war. Ich schüttelte genervt den Kopf, als ich auf die Türe zusteuerte. Sogar Kai wäre mir in diesem Augenblick ein willkommener Besucher gewesen. Ja, wirklich jeder war nun willkommen. Hauptsache, ich konnte dem peinlichsten Moment meines Lebens entfliehen.
Ganz offenbar waren Dates nicht ganz die Sache meiner Mutter und in Zukunft sollte sie es wohl lieber wieder lassen, denn Michael Brown würde ich nach diesem Abend bestimmt nie wiedersehen.
Kaum öffnete ich die Haustüre, war ich mir aber plötzlich nicht mehr sicher, ob mir tatsächlich alles gelegen kam, um verschwinden zu können. Vor mir stand ein Freund von Ben. Einer dieser großen Typen, der dieses Unheilvolle ausstrahlte.
In diesem Moment tat er das nicht. Er war aus der Puste, wirkte gestresst. Noch dazu klatschnass, denn das Wetter passte sich offenbar der Stimmung im Haus an.
„Ben und Alex sind auf dem Schulhof“, informierte er mich schließlich. „Irgendwas stimmt nicht. Es läuft aus dem Ruder. Sie streiten und Alex will sich nicht beruhigen. Du bist doch seine Freundin, oder? Kannst du mitkommen und versuchen, das zu beenden?“
„Mom!“, rief ich knapp. „Alex braucht mich!“
Ich bekam nicht mal eine Antwort, aber sie war es nicht anders gewohnt, dass ich für meinen besten Freund alles stehenließ. Vielleicht war ihr Date außerdem ohne meine Anwesenheit noch irgendwie zu retten.
Ich schlüpfte bloß in meine Sneakers und folgte Bens Freund reichlich genervt durch den strömenden Regen, bis hin zum Zaun des Schulgebäudes. Obwohl es ein lauwarmer Regen war, bereute ich nach nur wenigen Minuten, dass ich keine Jacke trug. Alex sollte sich schleunigst beruhigen, sonst würde ich meine Laune deswegen an ihm auslassen. Darauf konnte er sich verlassen.
Was zum Teufel war los? Noch am Vormittag hatte er Ben vor mir verteidigt und nun musste ich bei dem miesesten Wetter des Jahrhunderts und ohnehin schon genervt zu einem Streit herbeieilen, den man auch gut und gerne am Tag hätte führen können. Die Sonne war bereits untergangen und obwohl Spellington der wohl sicherste Ort auf Erden war, fühlte ich mich nicht wohl dabei, mit einem Fremden durch die Straßen zu laufen.
„Worüber streiten die Idioten sich denn?“ Ich seufzte, als man mir das Schultor öffnete und mich vorbeitreten ließ.
Ich bekam keine Antwort, stattdessen passte sich Bens Freund meiner Geschwindigkeit an und lief langsam neben mir her. Wir waren nun auf dem Hof und ich lauschte der Stille. War es nicht ein bisschen zu still? Ich selbst stritt oft mit Alex, aber weder er, noch ich, waren dabei jemals so leise, dass man uns auf einem leeren Schulhof nicht hätte hören können.
Mein plötzlich gewecktes Misstrauen ließ mich noch langsamer werden und dann spürte ich den groben Stoß, der mir verpasst wurde. Es kam so kräftig, dass ich vornüber stolperte und fiel. Ich landete unsanft auf den Knien und mir schoss der Schmerz durch die Beine, als ich sie mir auf dem rauen Asphalt aufschlug.
Im nächsten Moment wurde mir klar, dass Alex nicht da war. Ben kam in mein Sichtfeld und ich begriff, dass es bei dieser Sache nicht um meinen besten Freund ging, sondern um mich.
Beinahe hätte ich schmunzeln müssen. Wieso sollte er auch ausgerechnet Alex die Stirn bieten? Dem einen Menschen, der immer zu ihm hielt? Da passte ich doch viel besser ins Bild. Die Frau, die nie ein gutes Wort an ihm ließ, ihn immer wieder provozierte und vor den Leuten vorführte.
Rückblickend hätte ich meine Abneigung wohl lieber für mich behalten sollen, denn offenbar war Ben wütend. Die Frage war nur, was wollte er jetzt von mir?
Verwundert sah ich zu ihm, als er sich mit einem Grinsen vor mich hockte. Ihm schien es zu gefallen, dass ich im Dreck kniete. Die aufgeschlagenen Knie blutig. Von Kopf bis Fuß durchnässt.
„Was willst du von mir?“ Ich gab mir Mühe, kühl und gelassen zu wirken.
Hatte nicht sogar Kai mich erst vor wenigen Stunden davor gewarnt, nicht zu vorlaut gegenüber Ben zu sein? War ich vielleicht wirklich zu forsch und zu unfreundlich? Wollte Ben sich nun rächen? Aber wie? Was würde er tun?
„Mir war klar, dass wir dich mit Alex herlocken können“, bemerkte Ben ebenso kühl.
„Wer hätte das nicht gewusst?“ Ich schüttelte lachend den Kopf. Nein, ich konnte wirklich nicht anders. Ich nahm Ben nicht für voll, konnte und wollte ihn in keiner Weise respektieren. „Er ist mein bester Freund.“
„Richtig.“ Ben nickte und erhob sich wieder. „Die Freundschaft, die in deinen Augen ewig bestehen wird. Aber um ihn geht es hier nicht. Das hier ist eine Sache zwischen dir und mir, nicht wahr? Darauf hast du es doch schon lange angelegt, oder?“
Ich seufzte, allerdings eher innerlich. Niemals wäre ich davon ausgegangen, mal so zu enden. Ben war nie auf meine bissigen Kommentare eingegangen. Er zeigte niemals Wut, wenn ich ihn vorführte. Nun wurde mir klar, dass er es sich aufgespart hatte. Wohl für einen Moment, wie diesen.
„Und was?“ Ich rappelte mich auf und starrte ihm geradewegs in die Augen. „Was willst du jetzt von mir, Benjamin? Dir passt es nicht, wie ich mit dir rede? Seit Ewigkeiten lässt du es zu, aber ausgerechnet heute fühlst du dich stark und willst mir Konter geben? Bestärkt von den Gorillas, die du Freunde nennst? Brauchst du die, um dich stark zu fühlen?“
Es war nicht zu leugnen, dass ich in der Klemme steckte, doch was wollte er mir schon antun? Vermutlich wollte er sich vor seinen neuen Freunden aufspielen, den harten Kerl mimen. Von mir aus sollte er das tun. Was konnte schon groß dabei herumkommen?
Ich lachte leise, immerhin konnte ich ihn noch nie wirklich ernstnehmen. Als Ben dann aber einem seiner Freunde zunickte und etwas auffing, verging mir mein Humor. Ich hörte das Klicken, noch bevor ich realisieren konnte, dass er mir eine Waffe vor die Nase hielt.
Eine echte Waffe. Ich starrte in die Mündung einer Handwaffe und ganz plötzlich ging mir der Arsch gehörig auf Grundeis, verzeih‘ die Ausdrucksweise.
„Ben …“ Ich sprach ihn zögernd an, obwohl mir die Worte beinahe im Hals steckenblieben. „Was soll das?“
Die Angst schoss mir in die Knochen. War das sein Ernst? Ich ging in Gedanken durch, was ich jemals zu ihm gesagt haben könnte, was das rechtfertigen würde.
Mir fiel nichts ein. Welchen Grund lieferte ich ihm, mir eine geladene Pistole an den Kopf zu halten? Es gab keinen. Wirklich keinen. Das ließ nur einen Schluss zu. Die Vermutung, die ich schon so lange hegte. Ben war unausstehlich, keine Frage. Aber etwas veränderte sich zunehmend. Es war der Ausdruck in seinen Augen. Mal für Mal, wenn wir uns sahen, wurde es schlimmer und an diesem Abend machte es mir das erste Mal wirklich Angst.
Verrücktheit. Ja, das war es, was ich erkannte. Er wirkte überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig. Benjamin Grolf hielt mir eine Waffe an den Kopf und lächelte. Seine Augen funkelten, als würde er sich über etwas freuen. Er empfand Freude, weil er mich verängstigte. Das war nicht normal. Ben war nicht normal. Er war krank. Das wurde mir nun deutlich bewusst.
Wie sollte ich nur aus der Sache herauskommen? Was sollte ich tun? Wie sollte ich Ben dazu bringen, die Waffe zu senken?
„Ben!“
Kai McKenzie schob sich zwischen uns, genau in die Schusslinie. Wo kam er her? War er schon die ganze Zeit über dagewesen? Was passierte nur? Wieso war er da?
Ben senkte die Waffe und Erleichterung machte sich in mir breit. Egal, wo Kai herkam oder wann er aufgetaucht war. Ich war nur froh, nicht mehr in diese Mündung starren zu müssen.
„Wolltest es also doch nicht verpassen?“ Ben winkte ihn mit einer laschen Handbewegung aus dem Weg.
Mir riss seine Aussage beinahe den Boden unter den Füßen weg. Wie bitte? Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen und ich starrte Kai ungläubig an. Er wusste davon? Er war da, weil er wusste, was Ben tat?
Zu diesem Zeitpunkt hielt ich nichts mehr von ihm. Ich hasste ihn regelrecht. Er hatte gewusst, dass Ben mich in eine Falle locken wollte und trotzdem hatte er keinen Ton darüber verloren. Was für ein Mensch tat so etwas? Wie konnte man so etwas verheimlichen?
Kai stellte sich neben Ben und sah mich an, bis sich unsere Blicke trafen. In seinen Augen konnte ich Wut erkennen, doch das war nichts Neues. Kai machte den Anschein, von Natur aus ein wütender Mensch zu sein. Aber was interessierte es mich? Er war kein guter Mensch und auch alles andere kümmerte mich in diesem Augenblick nicht, als Ben erneut die Waffe auf mich richtete.