Ich glaubte wirklich, dass es vorbei war. Ben würde mich erschießen und es gab nichts, woran ich denken konnte. Fielen einem nicht eigentlich all die schönen Erinnerungen ein, die man erlebt hat? Ich würde sterben. Nicht, weil ich unfreundlich zu einem Mann gewesen war. Nein, ich hatte einen Psychopathen provoziert und das war nun der Preis, den ich dafür zahlen musste. Die Angststarre ließ nicht zu, dass ich mich rührte.
Ich sah Ben in die Augen, dann Kai. Versuchte, die Mündung der Waffe zu ignorieren. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich rechnete nicht mit Hilfe, doch dann, ganz plötzlich, sah ich etwas in Kais Augen aufblitzen, als sich unsere Blicke erneut trafen.
Völlig unerwartet griff er an die Waffe, drängte Bens Hände in die Luft und ein Schuss löste sich. Er ging mir durch Mark und Bein. Nicht ein Muskel meines Körpers ließ sich noch bewegen. Kai hingegen stieß Ben seinen Ellbogen ins Gesicht.
Der taumelte zurück und hob mahnend die Hand, als seine Freunde bereits auf Kai zugingen, um ihn zu packen. Sie hielten augenblicklich inne.
„Du enttäuscht mich.“ Ben ging langsam auf ihn zu, starrte ihn finster an. „Das hier hätte für dich nicht so laufen müssen.“
„Ich habe dir gesagt, dass ich nicht in deinen Scheiß hereingezogen werden will!“ Kai stand selbstbewusst vor ihm und wich einem Schlag gekonnt aus. Daraufhin schlug er Ben in den Magen, riss ihm mit einem Tritt die Beine weg und stieß Ben grob von sich, sodass dieser im Dreck landete.
Er blieb liegen und lachte. Sein Lachen verstörte mich und ich wusste, dass noch nichts gewonnen war. Kai musste es ebenfalls wissen, doch den Schlag an seinen Hinterkopf sah er nicht kommen. Er ging in die Knie und Ben war mit einem Satz wieder auf den Beinen.
Er wandte sich von ihm ab und kam auf mich zu. „Hätte ich gewusst, dass er Moralvorstellungen hat, hätte ich ihn nicht in meine kleine Truppe gelassen.“ Er grinste und richtete erneut die Waffe auf mich.
Genau in dem Moment, war Kai plötzlich erneut hinter ihm und griff ihm von hinten um den Hals. Ben reagierte schnell. Er rammte Kai seinen Ellbogen in den Bauch und wirbelte herum.
Ich ahnte es, bevor es passierte, doch erst der laute Knall in meinen Ohren, ließ mich aufschreien. Intuitiv presste ich mir die Hand auf den Mund, während mein Blick an Kai klebte.
Er stand noch aufrecht, aber sein weißes Shirt sog Blut auf. Ich konnte nicht erkennen, woher es kam. Es war so schnell so viel Blut, dass ich nur fassungslos starren konnte.
Kai fiel auf die Knie. Dass Ben tatsächlich auf ihn geschossen hatte, hieß ganz und gar nichts Gutes. Ich sah ihn im Augenwinkel grinsen. Da erkannte ich es eindeutig in seinen Augen. Wahnsinn.
Ich stand noch immer da, rührte mich nicht. Ich war starr vor Angst, jetzt, wo ich jeden Grund dazu hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, zwang ich mich, mich zu bewegen. Ich stolperte auf Kai zu, ließ mich neben ihn auf die Knie fallen und begann schlagartig, am ganzen Körper heftig zu zittern.
Er sah mich mit aufgerissenen Augen an, doch ich hatte nur Augen für das viele Blut. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viel Angst gefühlt zu haben. Ein Teil von mir zweifelte noch immer daran, dass Ben wirklich abdrücken würde, obwohl er es bereits getan hatte.
Ich spürte, wie der sich hinter mich stellte. Kai schien seine Kraft noch einmal zu sammeln, zog mich zur Seite und warf sich ihm entgegen. Ben schlug ihm auf die Wunde, ohne ein Zögern, und Kai stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus.
Ben stieß ihn von sich und Kai stürzte zu Boden, direkt neben mich.
„Ich habe nun keinen Spaß mehr an der Sache.“ Bens Stimme klang kühl und er richtete die Waffe auf mich. „Genug.“
Was im Anschluss geschah, weiß ich nicht wirklich. Es ging alles so schnell, dass ich es kaum realisieren konnte. Ich stand unter Schock und rechnete in diesem Moment fest damit, dass ich sterben würde.
Ich erinnere mich noch an den erneuten Schuss, an die näherkommenden Sirenen und daran, dass Ben regungslos neben mir auf den Boden fiel, während seine Freunde das Weite suchten. Ich erinnere mich an Kais schweren, regungslosen Körper auf mir und daran, dass ich aufgab und die Augen schloss.
Als ich wieder zu mir kam, starrte ich an eine weiße Decke. Wo war ich? Meine Hand ertastete etwas Weiches, auf dem ich lag. Ein Bett. Dann hörte ich hastige Schritte und spürte, wie jemand fest nach meiner Hand griff.
Den Kopf zur Seite drehend, erkannte ich Kais Freund. „Ray?“
Er zog an meinem Arm und half mir, mich aufzusetzen. Mein Blick streifte den Raum und es bestand kein Zweifel. Ich war im Krankenhaus. War ich etwa verletzt? Meine Knie schmerzten, aber der Schock, als ich die Wanduhr im Zimmer bemerkte, traf mich mehr, als diese Erkenntnis. Drei Uhr. Meine Mutter würde mich umbringen. Daran denkend, wurde mir bewusst, was passiert war. Plötzlich schien sie meine geringste Sorge zu sein.
Mein Blick fiel erneut auf Ray. Außer ihm und mir war niemand im Raum. Bevor ich ihn aber fragen konnte, wie ich hierhergekommen war, wollte er von mir wissen, was passiert war. Ich berichtete ihm alles und ließ müde den Kopf hängen.
Er lächelte zaghaft, drückte nervös meine Hand. Und weil er scheinbar ahnte, dass mir einiges durch den Kopf ging, fuhr er leise fort. „Kai und ich waren unterwegs. Ich stand am Schultor und habe auf ihn gewartet, weil er sagte, er müsste etwas überprüfen.“
Ich lächelte abschätzend. Ja, Kai wollte etwas überprüfen, denn er wusste, was auf dem Hof vor sich ging. Unglaublich, wie sich dieser Abend entwickelt hatte. Vor mir saß sein Freund, von dem ich gerade mal den Namen kannte. Ich fragte mich, wieso er bei mir saß und nicht bei Kai. Wieso er meine Hand hielt und scheinbar nun so erpicht darauf war, mich von einer guten Seite an Kai zu überzeugen, die es meiner Ansicht nach nicht gab. Nicht nach diesem Abend.
„Ich habe den Schuss gehört und rief die Polizei.“ Auch Ray ließ müde den Kopf hängen. „Kai sagte zu mir, ich dürfte nicht nachkommen, was ich auch hören würde.“ Er seufzte. „Ich hatte Angst um ihn.“
„Er wusste, was er sehen würde, wenn er den Hof betritt.“ Ich klang abweisend, doch es hatte nichts mit diesem schüchtern dreinblickenden Mann vor mir zu tun. Genau genommen fühlte ich mich in Rays Anwesenheit ziemlich wohl in diesem Moment. „Er wusste, was Ben vorhatte.“
Ray nickte langsam. „Ich weiß. Aber er ist nicht … Kai ist kein Arschloch, glaub‘ mir das bitte.“
Ein Teil von mir wollte es, aber ich konnte nicht. Ich lehnte mich vor und sah Ray direkt in seine rehbraunen Augen, die mich so fürsorglich anstarrten. „Wie geht es ihm denn?“
Ich glaubte, Tränen erkennen zu können. Er sorgte sich wirklich um seinen Freund. „Er wurde zwei Mal angeschossen.“ Es klang traurig und fassungslos zugleich. „Sie haben ihn operiert. Er müsste jeden Moment aufwachen.“
Ich erinnerte mich an all das Blut, an Bens wahnsinniges Grinsen, an meine Angst. Ben hatte versucht, mich umzubringen. Nun, wo ich in Sicherheit war, kehrte die Fassungslosigkeit darüber ein.
„Möchtest du?“ Ray reichte mir einen Becher.
„Danke.“ Ich starrte auf die braune Brühe darin und verzog angewidert das Gesicht, als mir ein komischer Geruch in die Nase stieg.
Ray brachte das zum Lachen. „Das soll Kaffee sein.“
„Riecht nicht wie Kaffee.“ Ich musste grinsen.
Dass mir danach noch zumute war, erstaunte mich. Ich wäre um ein Haar umgebracht worden. Kai musste es noch viel schlechter gehen. Was sollte sein plötzlicher Mut bezwecken? Erst warnte er mich nicht, dann rettete er mir das Leben. Ohne ihn wäre dieser Abend ganz anders ausgegangen. Das wusste ich und ich konnte es nicht vergessen.
„Ben hat auf dich geschossen“, bemerkte Ray nun wieder leise und sein Blick wurde ernst.
„Das ist mir nicht entgangen.“ Ich sah ihn an, verwundert über seine Äußerung.
„Also auch nicht, dass du unverletzt bist?“ Ray starrte mir so intensiv in die Augen, dass ich glaubte, er blickte mir geradewegs in die Seele. Offenbar wollte er auf etwas Bestimmtes heraus und seine Worte brachten mich zum Stutzen.
Ich war weitestgehend unverletzt, aber ich erinnerte mich deutlich daran, dass Ben abgedrückt hatte, als er auf mich gezielt hatte.
„Kai hat dich geschützt.“ Ray sah mich noch immer eindringlich an. „Er hat die Kugel abbekommen, die dich treffen sollte. Man hat ihn über dir liegend gefunden. Er hat dir das Leben gerettet.“
Mir war klar, worauf Ray hinauswollte. Er wollte mich davon abbringen, Kai für sein Schweigen zu hassen. Machte das eine aber das andere wieder gut? Konnte ich ihm verzeihen? Immerhin wurde er meinetwegen verletzt. Er hätte sterben können und trotzdem war er mir zu Hilfe gekommen. Dieser verfluchte Kai McKenzie. Hätte er nicht einfach nur der Arsch sein können, für den ich ihn hielt? Musste er eine Heldentat vollbringen?
„Gehen wir gemeinsam zu ihm?“ Ich stieg aus dem Bett und warf einen angewiderten Blick auf den Becher in meiner Hand. „Ich suche nur mal eben was, wo ich das hier wegschütten kann.“
Auf dem Weg zu Kais Zimmer trödelte ich etwas, denn ganz so leicht konnte ich nicht vergessen, was für ein Mensch dort lag. Ich war verwirrt, wütend und dankbar zugleich. Kai hatte sich im letzten Moment auf meine Seite gestellt, gegen Ben, hatte mich beschützt. Trotzdem war er einfach unausstehlich.
Ich griff nach der Türklinke, doch als ich Rays Stimme hörte, zögerte ich. „Willst du es ihr sagen?“
„Nein.“ Kais Antwort klang kühl und abweisend. „Es geht sie nichts an. Sie soll sich raushalten.“
„Denkst du?“ Ray erwiderte es in einem verständnislosen Tonfall. „Ihr beide wärt heute beinahe gestorben! Du hast ihr das Leben gerettet! Meinst du nicht, dass es euch ein bisschen verbindet?“
„Hoffentlich nicht.“ Kai schien genervt zu sein.
„Hör‘ auf damit!“ Ray schrie ihn an. Die Wut in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Du hättest heute Nacht sterben können!“ Verzweiflung klang hindurch. „Ich kenne niemanden, der moralischer ist, als du. Der mehr Ehre hat, als du. Spiel‘ es jetzt nicht runter, weil du sie nicht in deiner Nähe haben willst!“
„Ich musste Ben aufhalten.“
„Du hättest es gar nicht so weit kommen lassen müssen!“, ermahnte Ray ihn laut.
„Ich habe ihn für einen Schwätzer gehalten!“, verteidigte Kai sich nun ebenfalls lauter. „Wer hätte denn ahnen können, dass dieser Irre …“ Er brach seinen Satz ab. Einen kurzen Moment schwiegen beide. „Wir können ihr nicht vertrauen.“
„Du vertraust nie Leuten, die du nicht kennst“, erwiderte Ray aufgebracht. „Du lässt nie zu, dass man dich kennenlernt, also vertraust du eigentlich niemandem!“
„Ich vertraue dir“, hörte ich Kai entschieden sagen. „Du bist mein bester Freund, Ray.“
„Ich bin dein einziger Freund“, wies der ihn darauf hin. „Es ist, wie Douphne sagte. Außer mir hast du niemanden, der deine passiv-aggressive Grundstimmung erträgt.“
Kai schwieg und ich hörte Ray seufzen.
„Weißt du was?“ Ray lachte leise. „Ist mir egal. Mach‘ du dein Ding, ich mache meins. Ich bin kein Einsiedler und finde sie nett. Ich glaube, dass ich ihr vertrauen kann und deshalb möchte ich den Kontakt zu ihr aufbauen.“
Ich lehnte von außen an der Türe und lauschte. Ray würde also auch bleiben? Immerhin ein kleiner Lichtblick. Als ich keine Stimmen mehr hörte, betrat ich den Raum. Kai lag auf seinem Bett, während Ray, in Gedanken versunken, am Fenster stand.
Kai wirkte stark mitgenommen, obwohl seine Stimme etwas anderes vermuten ließ. Er klang stark und wütend. Seine Verletzungen waren allerdings nicht zu übersehen. Sie versetzten mir einen Stich, denn mir war klar, dass er meinetwegen Schmerzen hatte.
Sein Arm war bandagiert und auf seiner Brust befand sich ein großes Wundpflaster. In seinem Arm steckte ein Katheter, wohl um die Stabilität seines Kreislaufes nach der Operation zu überwachen. Außerdem war ihm ein venöser Zugang gelegt worden, wodurch ihm Schmerzmittel verabreicht wurden.
Das alles schien Kai aber nicht zu kümmern. Er lag beinahe selbstbewusst auf dem Krankenbett, vermied den Blickkontakt zu mir, ignorierte mich gekonnt.
Ich musste mich bedanken, das wusste ich. Ein Dank war wohl das Mindeste für seinen Einsatz in dieser Nacht. Doch als er so dalag und mich eindeutig mit purer Boshaftigkeit nicht wahrnehmen wollte, brachte ich dieses eine Wort einfach nicht über die Lippen.
Ich wandte meinen Blick von ihm ab, ging direkt auf Ray zu und stellte mich neben ihn. Er wirkte traurig. Welches Geheimnis verbargen die beiden wohl vor mir? Wieso waren sie in Spellington?
Auf dem Weg vom Krankenhaus in Biwacho bis zur Schule in Spellington sagte niemand etwas. Ich machte mir Gedanken, während Ray neben mir herlief und schweigsam durch die Gegend blickte.
Was trieb ihn her? Wieso war Kai so distanziert? Woher hatte er die ganzen Verletzungen? Woher kamen die beiden? Was wollten sie hier?
Ich entschied mich für die dringendste Frage, die mir auf der Seele brannte, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Woher hat Kai die ganzen Wunden?“
„Welche Wunden?“ Ray vermied den Blickkontakt.
Ich lächelte leicht. Es war klar, dass er es verschwieg, weil es seinen Freund betraf und ich es offensichtlich nicht wissen sollte.
„Er hat Schürfwunden, blaue Flecke, Wunden und Schnitte an den Handgelenken.“ Nachgiebigkeit war nicht meine Stärke. Ich war hartnäckig, wenn ich etwas herausfinden wollte.
Ray lächelte. Es war kein offenes Lächeln. Er suchte wohl nur nach einem Ausweg.
„Er hat nicht versucht, sich umzubringen.“ Es klang sicher und selbstbewusst. „Das waren Unfälle.“
„So viele, ja?“ Ich wollte nicht aufgeben. „Was für ein Zufall, dass es immer dieselben zu sein scheinen.“
Ray seufzte. „Bitte, halt‘ dich da raus. Kai mag es nicht, wenn man sich in seine Angelegenheiten einmischt.“
Ich lachte laut auf. „Wer hätte das gedacht?“ Verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Und du? Was stimmt mit dir nicht?“
Ich erwartete nicht wirklich eine Antwort, immerhin kannten wir uns kaum. Obwohl ich wusste, dass Ray Kontakt zu mir suchen wollte, glaubte ich nicht, dass er mir vertraute.
Umso überraschter war ich, als er mir beinahe intuitiv mitteilte, was ihm auf dem Herzen lag.
„Meine Eltern sind vor zwei Monaten bei einem Autounfall gestorben.“ Ich riss überrascht die Augen auf, kaum dass er es aussprach. „Ich bin noch keine einundzwanzig, also laut Gesetz nicht alt genug, mich um mich selbst zu kümmern. Die Fürsorge will mich in ein Heim stecken, also bin ich weggelaufen. Ich wusste, dass Kai hier ist, deshalb bin ich hergekommen.“
Der Schock über seine Offenbarung traf mich heftig. Sofort weckte sie Mitleid für den Fremden mit den treuen, braunen Augen. Nun wusste ich, warum Ray in Spellington war. Allerdings brachte es nur noch mehr Fragen auf.
„Aber was sagen Kais Eltern dazu?“ Ich versuchte, mir die Umstände zusammenzureimen. „Es ist eine große Sache, dass du einfach verschwindest. Ich behalte es natürlich für mich, aber denkst du nicht, dass sie es melden werden?“
„Kai kam alleine her“, wies Ray mich darauf hin. Es klang, als ob ich es hätte wissen müssen.
Kai war alleine? Wie konnte das sein?
„Also ist er einundzwanzig?“ Ich stellte die Frage, doch in Rays Blick konnte ich bereits die Antwort erkennen. Ein Seufzen drang aus meiner Kehle.
„Er wird in ein paar Tagen zwanzig“, klärte Ray mich ziemlich leise auf.
Unsere Blicke trafen sich und er wartete scheinbar auf eine Reaktion von mir. Auf eine Entscheidung, die ich wohl treffen sollte.
Aber was erwartete er nun von mir? Sie waren hier, beide auf der Flucht vor etwas. So schien es zumindest auch bei Kai der Fall zu sein. Ich wollte ihnen dieses Vorhaben nicht erschweren, aber ich wusste auch nicht so recht, wie ich damit nun umgehen sollte. Dann nickte ich und beschloss, mich mit den Umständen abzufinden.
„Am besten behauptet ihr, dass eure Eltern euch hier zusammen wohnen lassen.“ Noch einmal nickte ich. „Für das Abitur. Niemand sollte erfahren, dass du Waise bist. Wissen Kais Eltern, dass er hier ist?“ Erneut sah ich diesen merkwürdigen Ausdruck in Rays Augen. „Ach, was frage ich eigentlich …“
Er lächelte nur verlegen.
„Wo wohnt ihr?“ Ich wollte ihn hinbringen, immerhin musste ich davon ausgehen, dass er es alleine nicht finden würde.
„Kai besitzt ein Haus … Irgendwo da hinten, glaube ich.“
Ich stieß ein Lachen aus. „Wer ist er? Was treibt er hier?“
Ray senkte den Blick und ich sah ihm an, dass er es zwar sagen wollte, aber er und Kai waren ganz offenbar eine verschworene Einheit. „Du musst nur wissen, dass Kai genug Geld hat, damit wir davon leben können.“
„Das hat er ganz offensichtlich“, stieß ich aus und klang vermutlich genauso fassungslos, wie ich mich fühlte. „Immerhin hat er sich mal eben ein Haus gekauft.“
„Zeigst du mir das nächste Hotel?“ Ray lächelte schüchtern. „In dem ganzen Durcheinander habe ich vergessen, mir den Schlüssel geben zu lassen. Ich will Kai nicht noch mal stören.“
Ich nickte bloß, doch in diesem Moment kam mir ein Einfall, den ich nie bereute. Es war der Startschuss zu etwas Wundervollem. „Du schläfst heute bei mir. Den Schlüssel kannst du morgen immer noch holen.“
„Danke, aber ich will dir kei…“
„Umstände machen?“ Ich musterte ihn mit einem Grinsen.
Vor mir stand offensichtlich kein Axtmörder, ganz im Gegenteil. Er wirkte eher, wie ein ausgesetzter Hundewelpe. Verlassen, allein und einsam. Ich wollte ihm das Gefühl vermitteln, dass es jemanden gab, der für ihn da war. Da Kai im Krankenhaus lag, blieb da nur ich.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein musste, so viel durchzumachen. Seine Eltern zu verlieren, vor der Fürsorge zu flüchten. Vor Sorge um den besten Freund zu zittern, der angeschossen im Krankenhaus lag. Es brauchte nur einen Blick und ich war mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung traf.
„Ich lasse dich heute Abend nicht alleine, Ray.“
Er lächelte. Es war ein dankbares Lächeln.