Ich stand im Wald und hatte mich hinter einem Baum versteckt, der so groß wie ein Berg und älter als die Menschheit war. Die Luft war vom Nebel verdichtet, doch hier und dort drängten sich Sonnenstrahlen durch den weißen Teppich. Es war kühl, ich konnte meinen Atem erkennen. Meine zitternden Hände hielt ich fest am Baumstamm.
Ich war schon von der Kälte durchgefroren, wozu auch noch beitrug, dass ich sehr nervös war. Kontrolliert richtete ich meinen Blick auf die kleine Wiese, die nicht weit von mir entfernt war und versuchte, ruhig zu bleiben. Denn ich wusste: auf der kleinen Wiese würde ich es sehen, denn es würde heute wiederkommen. Das hörte sich wahrhaft undenkbar an, aber ich war mir sicher, dass ich jetzt nicht träumte. Mein Blick blieb nach vorne gerichtet, aufmerksam beobachtete ich die Stille und wartete auf das zauberhafteste Wesen, das ich je gesehen hatte. Das Einhorn würde bald kommen.
Plötzlich hörte ich ein leises Rascheln, das Rascheln der Blätter an den Bäumen. Mir gegenüber, am anderen Rande der Wiese erblickte ich es: Das Einhorn trat auf das Gras und blieb stehen. Erst jetzt hatte ich gemerkt, dass mein Mund offen blieb. Ich machte ihn langsam zu. Ich war derart aufgeregt, dass meine Finger sich fast in die Rinde des Baumes bohrten.
Es war kein Traum, es war wahr. Vor mir stand das Einhorn, ein Wesen aus Fleisch und Blut. Oder nicht? Es schien alles so surreal zu sein… Ein kaltes Wehen strich mir durch die Haare und ich musste niesen. Ich versuchte, es zurückzuhalten, aber trotz allen Bemühungen hatte mich das wundervolle Wesen bemerkt. Es erhob seinen schneeweißen Kopf und schaute mich mit seinen tiefschwarzen, schönen, ovalen Augen an. Einen langen Moment hielt ich meinen Atem an und hob die Hand vor den Mund. Ich betrachtete die silbern glänzende Mähne des Wesens. Das Tier war bezaubernd elegant. War es eigentlich ein Tier oder etwas ganz anderes? Ein höheres Wesen? Oder doch nur eine Halluzination? Ich wollte das Wesen berühren. Es umarmen, ihm von meinen Sorgen erzählen, es von dieser bösen Welt beschützen. Aber ich konnte mich nicht rühren, meine Beine waren im Boden verankert.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir bewegungslos gegenüber einander standen und uns betrachteten. Ich weiß nur, dass es anfing zu dämmern. Das weiße Einhorn wagte noch einen Schritt näher in meine Richtung und hielt mich mit seinen zauberhaften Augen fest. Noch immer konnte ich mich nicht bewegen, es war, als ob das Wesen mich hypnotisieren würde. Ich schaffte nur meine rechte Hand nach dem Einhorn auszustrecken. Das war alles, wozu ich fähig war.
Wir standen weitere schöne Augenblicke da und sahen uns an. Ich versank im Blick des Einhorns, des wertvollen Wesens, das noch kein Mensch zuvor gesehen hatte. Das wirklich schönste Wesen im Universum… Auf einmal hörte ich einen Schuss, er war hart und knallte laut. Und danach passierte alles ganz schnell.
Mein Blick huschte nach links und dann panisch zurück auf das Einhorn. Ich sah, wie das Wesen mich flehend anschaute und im nächsten Moment seine Beine nachließen. Es stürzte auf den Boden. »Nein!« schrie ich laut und wollte zum Einhorn rennen, doch dann entdeckte ich die Jäger, die von links aus dem Wald zum Wesen eilten, an ihren Seiten hängten riesige Jagdgewehre. Ich sah nichts mehr; meine Augen waren von Tränen benässt Trotzdem konnte ich noch genau erkennen, wie das wundervolle Tier seine Augen schloss und seinen letzten Atemzug wieder ausließ. Schnell drehte ich mich um und rannte, so schnell ich konnte, weg.
Die Tränen flossen mir endlos über das Gesicht, ich lief und lief, bis es dunkel wurde. Meine Augen brannten, ich wollte nichts anderes, als weg aus dieser Welt, weg aus diesem Leben, weg, weit weg von der Menschheit. Mit gesenktem Kopf wurden meine Schritte immer langsamer.
Irgendwann blieb ich stehen und schaute zu den Sternen hinauf. Und ich hätte schwören können, die Seele des Einhorns dort oben erblickt zu haben.