Dion geht mit mir auf die Schule für Fruchtbare bei uns im Viertel. Er ist nicht sehr groß, aber dafür recht muskulös. In seine blonden Haare macht er immer viel Gel, was ich nicht besonders gutaussehend finde, aber er gefällt sich wohl damit. Ich finde, dass seine Kieferknochen zu stark hervortreten und dass seine blauen Augen nichts Warmes an sich haben. Oder um es in einem Satz zu sagen: Ich mag Dion nicht. Mögen wäre noch zu viel, ich hege keinerlei Sympathien für ihn. Im Gegenteil, ich habe Angst vor ihm. Eine Angst, die sich tief in meinem Körper verankert hat. Ich fühle sie in jeder Faser meines Körpers und es beunruhigt mich, dass Dion mich derart beherrscht, ohne es zu wissen.
Dion ist beliebt in unserem Jahrgang. Und noch dazu ist er einer der klügsten Köpfe der Schule. Viele Mädchen werfen sich ihm geradezu um den Hals und hoffen, dass sie ihm am 30.06.3090 zugeteilt werden. Für mich wäre das ein Albtraum. Aber wenn sie gesehen hätten, was ich gesehen habe …
Seine Familie ist die reichste und mächtigste in Sol. Wer ihn zu seinen Freunden zählen kann, hat es sicherlich geschafft. Soweit ich weiß, hat er acht Geschwister, was seine Eltern zu den wichtigsten Vertretern der Fruchtbaren macht. Keine andere Familie hat so viele Kinder wie Dion’s. Sie sind sozusagen der Inbegriff der Arterhaltung und deshalb auch unantastbar.
Zum Glück bin ich unscheinbar, sonst wäre ich Dion an diesem Abend auf der anderen Straßenseite aufgefallen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn sie mich gesehen hätten. Bei dem bloßen Gedanken daran fange ich wieder an zu zittern.
Es war vor genau einem Jahr. Ich weiß das, weil meine blonden Haare ein gutes Stück kürzer waren und weil ich mit meiner besten Freundin über unsere Zuteilung im kommenden Jahr geredet hatte.
Als ich auf dem Heimweg war, bin ich nicht wie üblich durch die schmale Gasse, die unsere Straße mit der Milleniumstraße verbindet, sondern ich bin um den Block gelaufen. Ich wollte noch nicht Zuhause sein, sondern den Moment für mich genießen, ohne meine Eltern.
Schon von Weitem habe ich die kleine Gruppe gesehen und mir im ersten Moment nichts dabei gedacht. Bei uns im Viertel gibt es keine Kriminalität, es würde keinen Sinn machen, Fruchtbare anzugreifen oder gar zu töten, wir sind das wichtigste Glied in der Kette. Als ich nur noch hundert Meter entfernt bin erkenne ich, dass die Gruppe aus Typen von meinem Jahrgang in der Schule besteht. Und eines habe ich sofort erkannt, die blonden Haare von Dion. Es gibt in Sol nicht sehr viele naturblonde Menschen und noch viel weniger davon bei den Fruchtbaren. Und jemand wie Dion sticht einfach in’s Auge. Ich sehe die Gruppe laut lachend und johlend im Kreis stehen, in der Mitte Dion. Zuerst dachte ich, er würde etwas erzählen und die anderen würden sich darüber amüsieren. Dann sah ich das Kleiderbündel, das vor Dion auf der Straße lag. Ich sah, wie Dion mit voller Kraft auf das Bündel eintrat. Seinen Tritten verlieh er mit jedem Schrei, der ihm dabei entfuhr, noch mehr Gewicht. Jetzt wurde mir klar, dass das Kleiderbündel ein Mensch war. Ich sah eine blutige Hand, die aus den Kleidern hervorleuchtete. Das Blut schien wie eine Signalfarbe zu leuchten und ließ mich für einen kurzen Augenblick innehalten. Die Angst und die Erschütterung lähmten mich für einen Augenblick. In dieser Sekunde hörte ich zwischen den Tritten Stöhnen, Keuchen und einen markerschütternden Schrei – der Mensch lebte noch. Mir wurde mit einem Mal schlecht und ich fürchtete, mich übergeben zu müssen. Ich konnte nicht wegsehen, die Angst lähmte mich zu sehr.
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Zuhause im Bett konnte ich lange nicht einschlafen. Immer wieder sah ich Dion’s Augen, die wie wahnsinnig auf das Kleiderbündel starrten. Der wahnsinnige Blick und das genussvolle Grinsen jagten mir einen Schauer über den Rücken. In dem Moment wusste ich, dass Dion gefährlich ist und dass ich mich besser von ihm fernhalten würde. Wenn das doch alles so geklappt hätte …