Er schaute sie aus seinen dunklen Augen an, ohne mit der Wimper zu zucken. Über fünf Minuten dauerte ihr Blickwechsel schon. Doch Laura war es nicht müde. Sie liebte sein glitzerndes Funkeln, seine klassische Erscheinung, sein freundliches Naturell. Hätte sie mehr Zeit gehabt, sie wäre wohl stehen geblieben, bis sie festgefroren wäre. Aber sie musste weiter. Lachend schwenkte sie ihren geflochtenen Korb, zog sich die Wollmütze tiefer ins Gesicht und hüpfte lachend davon. Wenige Schritte weiter drehte sie sich um und winkte: "Bye, Salomon, bis morgen. Ich werde bestimmt wieder kommen."
Er schaute ihr noch lange nach. Dessen war Laura gewiss. Ebenso sicher war sie, dass er morgen ebenfalls da sein würde. Ebenso, wie er gestern da war. Und den Tag davor.
Gut gelaunt betrat Laura das Teegeschäft. Eine Glocke läutete. Jemand rief etwas, das Laura nicht verstand, aus dem Nebenraum, zu dem eine Tür hinter der Theke verlief. "Nur keine Eile", murmelte sie und schaute sich um. Sie liebte diesen Laden und genoss es, für ihre Großmutter hier einzkaufen. "Bring etwas Gutes von Reynolds. Du weißt schon was, ich vertraue dir." Das sagte sie immer, wenn sie mal wieder mit einem guten Tee überrascht werden wollte. Am liebsten mochte sie exotische Mischungen aus Früchten und Gewürzen, aber auch edle schwarze und grüne Tees fanden Anklang. Dabei gab sie immer reichlich Geld mit, so dass Laura sich auch für sich etwas aussuchen konnte.
"Was darfs denn sein?" Eine Frau mittleren Altes in einer rot-weiß gestreiften Bluse mit weißer Schürze musterte sie durch eine Nickelbrille. Ihre dichten roten Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. "Oh!" Leicht erschrocken drehte sich Laura zu ihr um. "Ich habe Sie gar nicht kommen hören."
"Na, das sieht man dir an. Und, weißt du schon, was du haben möchtest? Wir haben da einen feinen Marokkanischen Minztee mit Nelken und Zitronenaroma neu im Angebot ..." Unschlüssig schaute Laura auf die dargebotene Dose. Sie schnupperte daran. "Nicht schlecht, aber ich dachte mehr an was Feuriges ..." Genau genommen dachte sie an nichts Bestimmtes. Es war nur das erstbeste, das ihr einfiel, um etwas Zeit zu gewinnen.
Die Verkäuferin zwinkerte ihre zu. "Ah, die erste Liebe, was? Dann hätten wir hier ..." "Danke. Ich würde einfach gerne noch ein bisschen rumschauen", unterbrach die Jüngere. Klar, Verkäufer wollen es immer schnell. Aber ihr war danach, ausgiebig zu genießen. So oft kam sie nicht in diesen etwas entlegenen Laden mit den Wasserpfeifen im Schaufenster und den vielen verwirrenden Gerüchen. Das musste sie auskosten. Was Salomon wohl gefallen würde? Bei dem Gedanken musste sie grinsen. Vermutlich wäre er nicht sehr wählerisch und würde sich auch nicht sonderlich für die feinen Unterschiede zwischen kühler Minze und feurigem Zimt interessieren. Sie kannte ihn noch keine Woche, aber in mancherlei Hinsicht hatte sie ein sehr sicheres Gespür. Unschlüssig roch sie an einem halben Dutzend Tees, bewunderte bunt bemalte zweiteilige Teekännchen, bei denen die untere Hälfte als Tasse diente. Eine mit afrikanischem Muster in orangenen und roten Farbtönen gefiel ihr besonders gut. "Großmutter hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich die mitbringe", dachte Laura und nahm sie in die Hände.
"Guten Geschmack hat die junge Dame", kommentierte die Verkäuferin, "die wird ihrem Liebsten bestimmt gefallen."
Laura entfläuchte ein Kichern. Sie verzichtete auf eine Aufklärung des Irrtums und entschied sich für jeweils 100 Gramm von der angepriesenen Minzmischung und einem Spicy Chai Tea. Ihr gefiel die Schlange auf der Verpackung.
"Viel Glück mit der jungen Liebe", rief ihr die Verkäuferin nach, als sie bezahlt hatte und alles sicher in ihrem Rucksack verstaut hatte.
Wortlos hob Laura eine Hand als Abschiedsgruß und verließ den kleinen Laden. Sie wandte sich nach rechts, obwohl es nicht der kürzeste Weg war. Ihre Großmutter müsste eben etwas länger als nötig warten, während sie noch einen Abstecher zu einer Drogerie unternahm.
Dort traf sie sich manchmal mit ihrer Freundin Pia. Es war ein toller Ort, um verrückte Glitzernagellacke und Lippenstiftfarben auszuprobieren, die sie sich nie in der Öffentlichkeit zu tragen wagen würde. "Warum eigentlich nicht?" Ihre Freundin war in gehobener Laune. "Micha hat mich ins Kino eingeladen, he, der ist echt voll verknallt, glaube ich." Ihre dunklen Locken wippten von einem Regal zum nächsten. Nirgendwo hielt es Pia heute länger als fünf Sekunden.
"Du bist aber auch echt aufgedreht heute", meinte Laura. Ihre Begegnungen mit Salomon hielt sie geheim. Ihr einziges Geheimnis vor ihrer besten Freundin. Sonst teilten sie alles, was sie bewegte, seit sie zusammen zur Schule gingen. "Der Micha ist wohl hier nicht der einzige, der verknallt ist, was?"
Pia drehte sich ihr schwungvoll zu und zwinkerte verschwörerisch. "Wie kommst du denn darauf?" Gespielt empört erhob sie einen Zeigefinger. "Nicht, dass du noch Gerüchte verbreitest." Sie tupfte sich etwas Makeup auf den Handrücken. Verrieb die Creme, begutachtete sie kritisch und sah wieder Laura an: "Also, nicht bevor was passiert ist."
Die Angesprochene schüttelte den Kopf. "Du bist ja noch mehr verloren, als ich dachte. Aber klar, von mir erfährt niemand was."
Sie probierten noch einige Parfums aus, entschieden, dass sie nichts brauchten, und traten hinaus auf die Straße, wo sie von einer Böe voller Schneeflocken empfangen wurden.
"Lass uns noch ins Maxim gehen", schlug Pia vor und rieb sich die Hände. In ihrem kurzen Rock über einer Nylonstrumpfhose sah sie zwar gut aus, allerdings nicht ganz dem Wetter angepasst. Sie musste noch einige Zeit überbrücken, bevor sie sich mit Micha treffen würde, und draußen war es entschieden zu kalt.
Laura willigte gerne in ihren Vorschlag ein. Das Geld von ihrer Großmutter würde noch für eine heißte Schokolade reichen, wenn sie zu Fuß nach Hause gehen würde, statt den Bus zu nehmen. Das bedeutete, dass sie noch fast eine Stunde zu laufen hätte. Nun ja. Manchmal muss man Opfer bringen. Im Maxim war es ziemlich voll. Gerüchteweise trafen sich hier alle zwischen 15 und 20, die einen Partner suchten. Außerdem war es das beliebteste Café bei den Oberschülern. Sie fuhren auf die Spiegel ab, die überall angebracht waren. So wirkte der Raum viel größer und niemand konnte so genau sagen, wer gerade wen beobachtete. Außerdem wirkten die zusammen gewürfelten Plüschsofas und Sessel sehr gemütlich.
Pia steuerte zielstrebig auf eine Sitzgruppe in der Nähe der Theke zu. "Ist hier noch frei?" Sie ließ ihre Handtasche auf das Sofa fallen, ohne eine Antwort abzuwarten, und warf ihre Jacke über die Lehne.
Einer der beiden Jungen an dem Tisch nickte ihr kurz zu und wadnte sich dann wieder dem anderen zu. Sie diskutierten irgend ein Problem optischer Täuschungen.
Laura setzte sich neben ihre Freundin. Ihren Rucksack stellte sie vorsichtig auf den Fußboden.
"Was ist da denn drin? Du behandelst den wie ein rohes Ei", neckte Pia. Als ihr die Kännchen-Tasse präsentiert wurde, musste sie grinsen. "Du hast aber auch einen Geschmack."
Verlegen wickelte Laura sie wieder ein. "Ich mag sowas. Lass mich doch."
"He, ist doch cool", sagte der andere Junge und lächelte sie freundlich an. Er hatte ein schmales Gesicht, krause, blonde Haare und einen im Verhältnis zum Gesicht breiten Mund.
"Oh, eine Nachricht von Micha." Pia schaute auf ihr Smartphone. Dann verzog sie das Gesicht. "Der Bus ist verspätet. Im Schnee stecken geblieben oder so." Ihre Laune sank deutlich um einige Grade.
"Vielleicht schafft er es noch zum Film", wollte Laura trösten.
"Ob er kneifen will?" Ihre Freundin sprach ungewohnt leise.
Das Erscheinen der Bedienung enthob Laura von der Notwendigkeit einer Antwort. Sie bestellten heiße Schoki mit Marshmallow.
"Das tut gut", meinte Laura und pustete auf das Getränk, das viel zu heiß zum Trinken war.
"Ja, wenn wir die getrunken haben und Micha nicht kommt, fahr ich mit dir nach Hause", meinte Pia. Ihre Blicke wanderten über einige Spiegel, die an den Wänden recht unterschiedliche Perspektiven auf die Gäste gewährten. Auf einigen wirkten sie unnatürlich dünn, auf anderen aufgeblasen wie Luftballone. Um ein realistisches Bild zu erhalten, musste man schon sehr wählerisch mit der Blickrichtung sein.
Das Smartphone vibrierte wieder. "Oh, Mist!" Pia warf es genervt auf den Tisch, so dass es das Bierglas des krausharigen Jungen fast umgeworfen hätte. Reaktionsschnell griff sie sofort danach - allerdings verschüttete sie dieses Mal Lauras Schoki.
Erschrocken sprang die auf, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch der Kraushaarige tat - bei dem Versuch, sein Bierglas zu retten - dasselbe. Sie knallten mit den Köpfen aneinander.
"Autsch!" Unisono erklangen ihre Ausrufe.
Als sie sich danach unwillkürlich in die Augen sahen, mussten sie gleichzeitig losprusten vor Lachen.
Nur Pia schmollte vor sich hin. Notdürftig versuchte sie, die Überschwemmung mit ihrer Serviette aufzuwischen.
"He, ich bin übrigens Lars." Der Kraushaarige fasste sich zuerst und hielt Laura die Hand hin.
"Cool. Ich bin Laura." Sie nahm seine Hand und sah ihm in die Augen. Die funkelten so lebendig, dass sie gleich wieder losprustete. Fast so wie Salomons", schoss ihr durch den Kopf.
"Kann ich dir eine Schoki spendieren?" Er hatte sich wieder gesetzt.
"Das müsste ich eigentlich", fiel Pia ein. "Schließlich habe ich ja die Tasse verschüttet."
Ihre Freundin hatte sie gar nicht gehört. "Ja, gerne." Sie lächelte Lars zu.
Dessen Freund versuchte vergeblich, mit Pia ein Gespräch anzuknüpfen.
Lars und Laura schauten sich minutenlang an und lächelten. Zwischen ihnen war eine Vertrautheit, als würden sie sich schon lange kennen.
Schließlich verabschiedete sich Pia. Lars Freund war schon seit längerem zu einem anderen Tisch gegangen, an dem einige seiner Kumpel saßen.
Schließlich tauschten Lars und Laura doch noch einige Worte aus - so nützliche wie ihre Handynummern und was sie Weihnachten machen würden. Dabei stellten sie fest, dass sie beide am ersten Weihnachtstag frei hatten. "Wir könnten zusammen einen Schneemann bauen", schlug Lars vor.
Laura errötete. Sie fühlte sich ertappt und begann zu stottern.
"Was ist? Nicht? Dann gehen wir so lange im Park um den Ententeich spazieren, bis wir selbst Schneeskulpturen sind", meinte Lars. Er grinste. "Okay, wir können uns auch so treffen, oder ins Kino gehen ..."
"Nein, nein", wimmelte Laura ab, "Schneemann bauen finde ich schon cool. Die Sache ist die, da gibt es jemanden ..." Sie sah seine klassisch-elegante Erscheinung vor ihrem inneren Auge. Als sie Lars Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte sie und fasste einen Entschluss: "Keine Angst. Weißt du was, ich habe nicht mehr genug Geld für die Heimfahrt. Wenn du mich ein Stück begleitest, zeige ich dir, was ich meine."
Als sie das Maxim verließen, empfing sie ein strahlender Vollmond. Das Weiß auf den Dächern und Wegen ließ das Städtchen sehr hell leuchten. Sie hakten sich unter und marschierten los, bis sie dort hinkamen, wo Laura auf dem Hinweg fast fest gefroren wäre. "Darf ich vorstellen? Lars, das ist Salomon, Salomon, das ist Lars."
Dem Kraushaarigen blieb der Mund buchstäblich offen stehen. "Das ist er? Unglaublich!" Dann versuchte er, Laura durchzukitzeln, als das wegen der winterlichen Klamotten nicht half, bückte er sich blitzschnell und formte einen Schneeball. Im Nu waren sie in eine wilde Schneeballschlacht rund um Lauras Schneemann verwickelt. Muss ich erwähnen, dass sie sich natürlich am ersten Weihnachtsfeiertag trafen? Laura schenkte Lars die afrikanisch gemusterte Tee-Kanne-Tasse. Er lud sie ins Kino ein. Und auf dem Heimweg bauten sie eine Schneefrau, damit auch Salomon eine neue Freundin bekäme.