Schweigend saß Caspar mit Jane an einem runden Eichentisch, jeweils eine Tasse Kakao vor sich. Genau über dem Tisch – in der Mitte des achteckigen Raumes – hing ein Kronleuchter mit flackernden Kerzen, von denen Wachs auf das Holz fiel. In den Tisch waren Blumen und abstrakte Verzierungen geschnitzt. In Caspar Augen machte es das nur schwieriger, darauf Tassen abzustellen, auch wenn sich die Verzierungen auf die Mitte des Tisches beschränkten.
Die Stühle waren aus dem gleichen, dunklen Holz und ebenfalls aufwendig verziert. Jane rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und betastete alles mit den kurzen, dicken Fingern. Als Lydia ihr wohlwollend gesagt hatte, sie solle Platz nehmen, hatte Jane die Stühle und den Tisch nur verständnislos angeglotzt und dann Anstalten gemacht, sich auf den Boden zu setzen.
Erst als Liam mit zwei Tassen Kakao aus einer der vier Türen kam, hatten sie Jane dazu gebracht, sich richtig zu setzen. Jetzt waren die vier Erwachsenen verschwunden, um ihre Uniformen gegen normale Kleidung einzutauschen. Caspar und Jane waren alleine zurückgeblieben.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Der Raum war düster, mit einer hohen Decke voller Schatten zwischen den Holzbalken und ohne Fenster. An vier der acht Wänden gingen Türen ab, jeweils einander gegenüber. Die restlichen Wände waren mit schmalen Bücherregalen voll gestellt. Während Caspar den Blick schweifen ließ, sah er verschiedene Statuen und Vasen, die zwischen sehr alten und nagelneuen Büchern standen. Da waren verblichene Fotos, Schatullen aus Holz oder Gold, die Figur eines Drachen aus grünem Edelstein, altmodische Pistolen, bunte Plastikbälle, und vieles mehr, das Caspar nicht einordnen konnte. Es war ein buntes Kuddelmuddel, scheinbar wahllos aus Zeiten und Epochen gesammelt.
Wenn es stimmt, was Liam gesagt hatte, waren sie vielleicht direkt aus ihrer Zeit hierher gebracht worden.
Caspar versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, durch die Zeit zu reisen. Würde es wie im Film sein? Einen DeLorean wie in „Zurück in die Zukunft“ hatten sie jedenfalls nicht gebraucht.
Endlich öffnete sich die Tür, durch die die Erwachsenen verschwunden waren, und die vier kehrten zurück. Was sie allerdings unter normaler Kleidung verstanden, ließ Caspar an dem Verstand der Erwachsenen zweifeln.
Dakuri kam als Erster, in eine weiße Toga gehüllt, über der er einen roten Überwurf trug. Er schlurfte in Riemensandalen wie aus dem alten Rom in den Raum und strich sich würdevoll über den weißen Bart.
Dann kam Lydia Iphigenia Hope Phoenix. Sie trug einen gerafften Rock und ein Korsett, einen winzigen Hut mit Feder und metallisch glänzende Stöckelschuhe. Außerdem hing eine große Pistole an ihrem Gürtel. Ihre Kleidung hatte zu viele Nieten, Schnüre und Knöpfe, um wirklich altmodisch zu sein. Ihr Korsett schien sogar mit Metall verstärkt zu sein.
Liam Sylvester Baker war schon fast normal angezogen. Er trug einen Anzug, der ein wenig altertümlich geschnitten war. Mit seinem Schnurrbart und dem strengen Blick wirkte er trotzdem, als würde er aus einem früheren Jahrhundert stammen.
Daria Villasana trug ein elegantes Kleid und hübsche Handschuhe. Der beige Farbton des Kleides passte perfekt zu ihrer kupfernen Haut. Eine Haube, die sich nach vorne trichterförmig öffnete, hielt ihre braunen Locken im Zaum.
Caspar starrte die vier Menschen an und sah dann an sich herunter. Er trug immer noch seinen Schlafanzug, der ihm ein bisschen zu klein war.
Die anderen vier setzen sich an den Tisch. Caspar war ziemlich froh, dass sich Liam neben ihn setze. Auf Liams anderer Seite saß Dakuri. Neben Jane saß erst Daria, dann Lydia. Die zwei Plätze gegenüber von Caspar und Jane blieben frei.
Caspar schlürfte vorsichtig einen zweiten Schluck Kakao und sah in die Runde.
„Also gut, wir fangen am besten langsam an“, begann Daria.
„Wir sind Papilionis. Alle paar Jahre werden zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, auserwählt, um unserer Gesellschaft beizutreten. Dann wachen sie am Stonehenge auf, zur Sommer- oder zur Wintersonnenwende. So ist es auch uns passiert.“
„Jedes Mal kamen Mentoren, um uns zu empfangen und auszubilden“, fügte Liam hinzu: „Daria und ich wurden von Dakuri und Lydia ausgebildet, Dakuri und Lydia von den Papilionis vor ihnen.“
„Was bedeutet Papilionis?“, fragte Caspar dazwischen.
„Schmetterlinge“, antwortete Dakuri mit rauer Stimme: „Es ist Latein.“
„Vielleicht kennt ihr den Butterfly-Effekt“, sagte Liam.
Caspar nickte, Jane schüttelte den Kopf.
„Schon kleinste Veränderungen in der Vergangenheit können in der Zukunft große Auswirkungen haben. Unabsehbare Folgen. Aus dem Flügelschlag eines Schmetterling wird ein Wirbelsturm“, erklärte Lydia. Sie sah blass aus. Vielleicht war es auch ihre Hautfarbe.
„Nun, wir sind die Schmetterlinge“, sagte Liam und Caspar spürte bei den Worten tatsächlich eine Gänsehaut auf seinen Armen.
„Wir verändern die Zeit?“, hauchte er seine Frage.
Liam nickte: „Nicht nur das – wir stehen außerhalb der Zeit. Wir können zwischen Jahren und Orten springen, wie es uns beliebt. Das alles kostet nur ein wenig Konzentration und ein wenig Kraft.“
„Und unseren Verstand“, grummelte Dakuri düster.
„Was heißt das?“, fragte Caspar nervös, doch Liam winkte ab: „Das erklären wir später. Erst einmal müsst ihr müde sein.“
Caspar war kein bisschen müde. Immerhin war er gerade erst aufgewacht – wobei das „gerade erst“ vielleicht ein kleines Problem darstellte, denn er wusste nicht in welcher Zeit sie sich jetzt befanden. Es gab Kaffeemaschinen und alte Kronleuchter, und das gab ihm keinen Hinweis.
„Ich bin nicht müde!“, sagte er trotzig: „Ich will lieber durch die Zeit reisen. Oh, Paps, können wir Dinosaurier sehen? Bitte, bitte, bitte!“
Liam sah seinen plötzlich sehr aufgeregten Sohn mit ein wenig geweiteten Augen an: „Dinosaurier? Das ist gefährlich, Caspar!“
„Oh, bitte!“, flehte Caspar: „Wir können ja irgendwo hin gehen, wo es nur kleine Dinosaurier gab – komm schon! Wir können durch die Zeit reisen!“
„Erst einmal müssen wir herausfinden, woher ihr stammt“, wehrte Liam ernst ab: „Danach sehen wir weiter.“
Schmollend schob Caspar eine Unterlippe vor, schwieg aber.
„Also gut, Caspar kommt aus dem Jahr – wie alt bist du gerade, 12?“
„16!“, erwiderte Caspar beleidigt.
„Dann 2011“, stellte Liam fest.
Daraufhin blickte Daria überrascht auf: „Du hast nicht in deiner Zeit geheiratet?“
Liam schüttelte den Kopf und sagte leise: „In ihrer Zeit. 1990.“
Für einen Moment schwiegen die Erwachsenen und Caspar sah in die Runde: „Moment mal, redet ihr von Mama?!“
Lydia wandte sich laut an Jane: „Und wie alt bist du?“
„13“, knurrte Jane und sah grimmig in die Runde.
„Hey! Ich habe was gefragt!“, schimpfte Caspar.
„Und wir haben nicht geantwortet. Ende der Diskussion!“, erwiderte Liam kalt.
Caspar verschränkte die Arme und begann mit düsterem Blick, gegen das Tischbein vor sich zu treten.
„Hör auf, dich wie ein Kleinkind zu benehmen!“, zischte Liam ihm wütend zu.
„Kannst du uns irgendwas über deine Heimat sagen?“, fragte Daria an Jane gewandt.
Jane zuckte lustlos mit den Schultern.
„Wovon lebt ihr? Wie lebt ihr?“
„In Höhlen“, sagte Jane. „Wir jagen.“
„Benutzt ihr Werkzeuge?“, fragte Daria und zog eine Liste aus einer ihrer Taschen.
Jane nickte: „Steine. Speere. Sowas.“
„Haltet ihr Kühe oder so?“
„Ein paar“, sagte Jane, misstrauisch über das Kreuzverhör.
„Könnt ihr Metall bearbeiten?“
Jane schüttelte den Kopf: „Nur ein paar.“
Daria sah auf ihre Liste: „Übergang von der Jungsteinzeit zur Kupfersteinzeit. Achtes Jahrtausend vor Christus.“
„Was?“, rief Caspar: „Warum kann ich sie dann verstehen?“
Dakuri wiegte seinen kahlen Kopf bedächtig hin und her und antwortete dann: „Das liegt am Strom der Zeit. Er hat uns offenbar mit einer neuen Sprache ausgestattet. Wir können sie automatisch sprechen, ohne nachzudenken.“
„Cool. Einfach so?“, fragte Caspar, seinen Zorn hatte er völlig vergessen. Liam betrachtete seinen Sohn nur kopfschüttelnd.
„Nicht ganz“, gab Dakuri zu: „Die Sprache – wir nennen sie Babel, damit wir einen Namen dafür haben – ersetzt sozusagen deine Muttersprache. Du kannst jetzt kein Englisch mehr sprechen.“
„Deutsch“, berichtigt Caspar automatisch: „Echt nicht?“
„Ich dachte, du wärst wie dein Vater Engländer“, meinte Dakuri: „Und nein. Du musst deine Muttersprache neu erlernen. Jede andere Sprache, die du gelernt hast, kannst du aber noch.“
„Das ist doch bescheuert“, murrte Caspar: „Warum ersetzt dieses Babel nicht französisch, das braucht doch keiner!“
„Als Zeitreisender wirst du viele Sprachen können müssen“, fuhr Liam dazwischen.
„Aber ich kann doch dieses Babel“, setzte Caspar an und wurde unterbrochen.
„Normale Menschen können Babel nicht sprechen“, sagte Lydia leise und versteckte ihr Gesicht hinter weißen Haaren: „Nur Papilionis beherrschen diese Sprache.“
„Nur -“, Caspar unterbrach sich, als ihm klar wurde, was das bedeutete: „Heißt – heißt das, ich kann nie wieder mit Menschen reden?!“, rief er entsetzt.
Jetzt setzte sich auch Jane auf und beugte sich vor, den Blick ebenso wie Caspar auf Liams müdes Gesicht gerichtet.
„Du könntest Englisch lernen, oder jede Sprache der Welt. Von jetzt an wirst du alle Zeit haben, die du dir nehmen willst.“
Caspar tauschte einen kurzen Blick mit Jane, in deren Augen die gleiche Angst stand.
„Kö-können wir nicht mehr nach Hause?“, fragte Caspar totenbleich.
Liam schüttelte den Kopf: „Eure Heimat ist jetzt der Strom der Zeit. Es tut mir leid.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Wenig später saß Caspar in seinem eigenen Zimmer, einem kleinen, gemütlichen Raum auf einem Bett, dass mit Bettwäsche in Weiß und Blau bezogen war. Caspar strich über den Stoff und sah geradeaus in den Spiegel, der über einem kleinen Tisch aus hellem Holz an der Wand hing.
Das Zimmer hatte einen viereckigen Grundriss, in den sich jedoch als abgetrennter Raum eine Toilette hinein schob. Die Tür des Badezimmers lag direkt neben der Eingangstür, gegenüber von einem kleinen Regal. Der Rest des Zimmers hatte einen annähert L-förmigen Grundriss, Caspars Bett stand hinter der Ecke des Badezimmers geschützt vor Blicken und vielleicht auch vor Gefahr.
Die freie Seite, auf die man vor der Tür her blickte, war mit einem großen Gemälde behängt, das wie eine große Fensterseite aussah, durch die man in einen Garten voller Blumen sah. Im ersten Moment hatte Caspar der Hoffnung nachgegeben und sich endlich dem Sonnenschein gegenüber gewähnt. Dann hatte er bemerkt, dass die Vögel im Flug erstarrt waren, und kein Wind die grünen Blätter rauschen ließ.
Das Bild erzielte das Gegenteil des Zweckes, zu dem man es geschaffen hatte – es deprimierte ihn. Nicht nur, dass er jetzt alles verloren hatte, Heimat, Freundschaft und sogar seine Zeit. Alles hing auch noch mit dem schweigsamen Mann zusammen, der sich sein Vater nannte und ihn nur selten besucht hatte. Und mit der geheimnisvollen Frau, die seine Mutter gewesen war.
Caspar wurde aus seinen düsteren Gedanken gerissen, als die Tür knarrte. Erschrocken sprang er auf und strauchelte über seinen verkrüppelten Fuß, als er in die Mitte des Raumes eilte, um den Eindringling zu sehen.
Es war Jane, die schüchtern in der Tür stand, unsicher und ängstlich.
„Hi“, sagte Caspar und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.
Jane kam ein paar Schritte in sein Zimmer getapst. Eine der Frauen, vielleicht Daria, hatte Jane geholfen, die Dusche zu benutzen. Ohne die dicke Dreckschicht sah sie jünger aus. Dennoch blieben die wilden Gesichtszüge und der dümmliche Ausdruck der Augen.
„Hallo“, sagte Jane und sah sich in seinem Zimmer um: „Ich habe auch einen falschen Himmel.“
Sie deutete aus das große Bild. Caspar nickte: „Deprimierend, nicht?“
Jane sah auf den Boden. Caspar überwand sich und deutete auf den Schreibtischstuhl: „Möchtest du dich setzen?“
„Nein“, sagte Jane und sah ihn an: „Ich stehe gerne.“
Caspar war einen Moment verwirrt, dann dachte er sich, dass Jane vermutlich keine Höflichkeit kannte. Schweigend humpelte er zu seinem Bett zurück: „Ich werde mich jedenfalls setzen.“
„Dein Fuß – wie ist es passiert?“, fragte Jane neugierig.
Caspar klopfte mit angewidertem Gesichtsausdruck auf sein kaputtes Bein: „Bei meiner Geburt ist was schief gelaufen. Also, vorher schon. Ich hatte nicht genug von einem Stoff, den man braucht, um einen Körper zu bilden.“
er sah hoch und bemerkte, dass er Jane damit vollends verwirrt hatte, also kürzte er ab: „Ich wurde so geboren.“
Jane nickte: „Ich kenne Menschen, die so sind. Bei uns sind die Medizinmänner – Schamanen. Weise Geistseher. Bist du auch so einer?“
Caspar schnaubte und schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin immer nur der behinderte Krüppel, den man entweder bemitleidet oder verspottet!“
„Und das ist beides schlecht?“, fragte Jane. Caspar rieb sich die Stirn. Was glaube sie denn – natürlich war es schlecht!“
„Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass jemand ehrlich zu mir ist!“, schimpfte er.
„Hast du dein Zuhause gehasst?“, fragte Jane jetzt nach.
Caspar musste auch das verneinen: „Ich hatte Freunde. Und eine Adoptivfamilie, die sehr nett war. Sie müssen sich furchtbare Sorgen um mich machen.“
Jane scharrte mit den Füßen über die hellen Dielen: „Caspar … Daria meinte, Niemand könnte mir meine Sprache neu beibringen. Das“, sie atmete tief durch, „das heißt, ich werde sie nicht mehr lernen können. Ich werde meinem Stamm nie erzählen können, was passiert ist.“
Caspar spürte, wie ihm kalt wurde. Es war ungewohnt für ihn, Mitleid für jemand anderen zu empfinden. Aber er tat es – Jane tat ihm furchtbar leid.
„Ich – ich möchte dich um etwas bitten“, sagte Jane schüchtern: „Können wir Freunde sein?“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
An anderer Stelle in dem Haus saß Liam auf seinem Bett. Er hatte das Zimmer direkt neben seinem Sohn, auf der anderen Seite lag Dakuris Zimmer. Daria war aus dem Zimmer gegenüber in seines gekommen, kaum, dass er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Jetzt saß die junge Frau neben ihm und rieb seine Schultern.
Liam hatte die Stirn in seinen Händen vergraben: „Er ist mein einziger Sohn – ich hatte gehofft, das würde ihm erspart bleiben!“
Daria drückte ihn an sich: „Unser Leben ist nicht nur schlecht, Liam.“
„Aber Caspar – er ist so schwach. Er kann kaum rennen. Dieses Leben ist nichts für ihn!“
Daria rückte ein Stück von Liam ab: „Kannst du nicht in dein eigenes Kind vertrauen?“, fragte sie streng: „Musst du an ihm zweifeln, wo er es sicherlich schon selbst tut?“
Liam sackte nur noch ein Stück mehr zusammen: „Ich habe Angst um ihn, Daria. Er kann nicht kämpfen, und er kann auch nicht flüchten. Er hat schon so viel durchgemacht. Und ich kann ihn nicht beschützen!“
Als die Tränen kamen, wurde Darias Stimme nur schärfer: „Hör auf, dir die Schuld an Helens Tod zu geben! Wir tragen alle die Schuld, und wir sind auch alle gleich unschuldig. Keiner von uns wusste, was geschehen würde!“
Liam konnte lange Zeit nicht sprechen. Helen. Sie stand ihm wieder vor Augen, ihr Lachen, ihre lebendigen Augen.
Und dann der Ausdruck in diesen Augen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Es zerriss ihm heute wie damals das Herz.
Denn für die Papilionis spielt Zeit keine Rolle.