An diesem Nachmittag erlebte ich etwas, was beinahe an ein Wunder grenzte. Meine Mutter kam, für ihre Verhältnisse, ziemlich zeitig nach Hause und nachdem ich mit ihr und meinem Großvater einige Zeit lang gemeinsam im Wohnzimmer gesessen hatte, schien ihr offenbar aufzufallen, dass ich mich komisch verhielt.
Notgedrungen, weil sie wieder einen dieser Momente hatte, in denen sie die fürsorgliche Mutter spielen wollte, erzählte ich ihr also von meinem Problem mit Alex. Dass ich mich von ihm vernachlässigt fühlte und mich deshalb auch nicht über seine Anwesenheit freute.
Während ich ihr das erzählte, sah sie mich mitleidig an, was mich alleine fast schon Weißglut brachte. Als ich dann aber erwähnte, dass auch Kai aufgefallen war, dass mit mir etwas nicht stimmte und ich ihm deshalb auch davon erzählt hatte, brachte sie mich mit einer Äußerung tatsächlich dazu, aus der Haut zu fahren.
„Was für eine Ehre für ihn“, bemerkte sie teilnahmslos. „Und das, obwohl du ihn doch seit der Sache mit Ben nicht wirklich ausstehen konntest.“
„Soll das dein Ernst sein?“ Direkt wurde ich lauter. „Das ist das letzte, was du von Kai weißt? Das ist ein Jahr her, Mom!“
„Sprich nicht in diesem Ton mit mir!“, ermahnte sie mich.
„Und ob!“ Der wütende Blick, mit dem ich sie ansah, reichte in meinen Augen nicht aus, um ihr meinen Unmut kundzutun. „Ich frage mich, wie ich zu der Ehre komme, dass du dich überhaupt für meine Probleme interessierst!“
Es gab eigentlich keine Zeit, an die ich mich erinnern konnte, in der es jemals anders zwischen uns gewesen wäre. Trotzdem hatte ich mich nie über unser eher distanziertes Verhältnis beklagt. Bis zu diesem Tag, als es mir rausrutschte, bevor ich es verhindern konnte.
„Was soll das denn bitte heißen?“ Meine Mutter klang empört.
Diese Tatsache regte mich innerlich eigentlich nur noch mehr auf. Konnte es wirklich sein, dass ihr nie aufgefallen war, dass wir kein perfektes Verhältnis zueinander hatten? War es für sie etwa wirklich normal, ihre Tochter den ganzen Tag alleine zu Hause sitzen zu lassen? Sich kaum zu kümmern?
„Du bist nie zu Hause und wenn, dann mischt du dich in Sachen ein, von denen du keine Ahnung hast“, fuhr ich sie an. „Du fragst nie, wie es mir geht. Interessierst dich für nichts in meinem Leben. Sonst wäre dir vielleicht aufgefallen, dass Kai und ich inzwischen Freunde geworden sind und die Sache mit Ben überwunden haben!“
„Ich muss arbeiten, Douphne“, setzte Mom sich zur Wehr. „Da ist es doch normal, dass ich nicht immer alles mitbeko…“
„Das ist nicht normal.“ Entrüstet schüttelte ich den Kopf. „Das, was hier läuft … Unsere Beziehung zueinander. Das ist nicht normal und es ist traurig, dass dir das anscheinend gar nicht auffällt. Noch trauriger ist es, dass sogar Mrs. Ridger mir mehr Aufmerksamkeit schenkt, als du es tust.“
„Sie ist Lehrerin.“ Der Blick meiner Mutter war beinahe kalt. „Es ist ihr Job, sich um ihre Schüler zu kümmern.“
„Du bist Mutter!“, schrie ich reflexartig. „Es ist dein verdammter Job, dich um mich zu kümmern! Aber nein, das tust du nicht. Du bringst Geld nach Hause und füllst den Kühlschrank. Ist das deine Vorstellung von einem richtigen Zuhause?“
Ich schüttelte den Kopf und als meine Mutter Luft holte, um sich zu rechtfertigen, fiel ich ihr ins Wort, weil ich meine Wut nicht mehr bremsen konnte.
„Du reagierst empfindlich, wenn ich dir erzähle, dass ich viel Zeit bei den Jungs verbringe und mit ihnen über alles reden kann. Aber wieso gehe ich denn mit meinen Sorgen zu anderen? Weil du nie da bist. Ist dir mal aufgefallen, dass ich nie zu Hause bin, wenn du auf einer deiner Tagungen bist? Ich bin immer bei Kai und Ray, weil ich es unheimlich finde, alleine in diesem großen Haus zu sein. Ich freue mich jedes Mal, wenn du über Nacht weg bist und ich deshalb bei ihnen schlafen kann!“
„Soll das heißen, du schläfst jedes Mal dort, wenn ich weg bin?“ Diese Tatsache schien meiner Mutter sichtlich zu missfallen. „Du kannst doch nicht einfach bei irgendwelchen Männern übernachten, ohne, dass ich davon weiß!“
„Warum?“ Ich zuckte belanglos mit den Schultern. „Weil du befürchtest, dass etwas passieren könnte, was du nicht gutheißen würdest? Ich kann dich beruhigen. Keiner der beiden hat mich je angefasst. Sie sind meine Freunde.“
„Das ist so nicht in Ordnung, Fräulein!“ Mom fuhr nun ebenfalls aus der Haut, weil ihr nun klarwurde, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Es gab eigentlich keine Regeln und doch setzte sie scheinbar voraus, dass ich sie über solche Dinge in Kenntnis setzte. „Muss ich etwa jetzt jedes Mal jemanden herkommen lassen, damit du dich nicht nachts heimlich davonstiehlst?“
„Heimlich?“ Ich lachte. „Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, Mom. Du bist beinahe über meinen gepackten Rucksack gestolpert neulich, erinnerst du dich? Was denkst du, wieso eine Übernachtungstasche im Flur gestanden hat? Aber vermutlich hast du nichts gedacht, weil du wie immer im Stress warst und keine Zeit hattest, mich überhaupt nach meinen Plänen zu fragen.“
„Du bist doch bisher immer gut alleine zurechtgekommen!“
„Ja, einfach alles läuft hervorragend, nicht wahr?“ Ich konnte die Wut in meinem Bauch einfach nicht beseitigen. „Für dich ist einfach alles wunderbar. Aber bei mir sieht es leider nicht immer so aus. Du warst nicht da, als Kai sich an seinem Geburtstag mit Ian wegen mir geprügelt hat. Du warst nicht da, als Ian mich verletzt hat. Du warst nicht da, als Matt … Das letzte Jahr war für mich nicht einfach, aber du hast es nicht mal mitbekommen.“
Ich holte Luft und glaubte, nun endlich an dem Punkt zu sein, an dem ich alles gesagt hatte, was ich zu sagen hatte. Meine Mutter schien inzwischen sprachlos zu sein. Sah sie vielleicht endlich ein, dass ich Recht hatte? Oder waren ihr nur die Ausreden ausgegangen, mit denen sie ihr abweisendes Verhalten rechtfertigen konnte?
„Eine Sache würde ich gerne an dieser Stelle ansprechen.“ Mein Großvater räusperte sich und ich musste erschrocken feststellen, dass mir seine Anwesenheit gar nicht mehr aufgefallen war. „Trifft Kai immer die Entscheidungen, mit wem du befreundet bist?“
Nun war ich diejenige, die kein Wort herausbrachte.
„Als ich dich gefragt habe, ob Lukasz dein Freund ist, hast nicht du geantwortet, sondern Kai.“
Ich seufzte hörbar. „Das ist kompliziert.“
„Es ist ganz einfach.“ In seinem Blick lag echte Sorge. „Ich muss davon ausgehen, dass er dich irgendwie unterdrückt. Bestimmt er Dinge für dich? Zwingt er dich zu irgendwas?“
„Wie bitte?“ Ich konnte nicht fassen, was er ihm da unterstellte. Machte es wirklich diesen Eindruck? Wirkte es so, als würde Kai mich einschüchtern und bedrängen? „Wie kannst du so etwas über ihn denken?“
Es leuchtete mir nicht ein. Kai war vertrauenswürdig. Zumindest war er das für mich. Objektiv betrachtet, wirkte er aber scheinbar auf Außenstehende anders.
„Ich habe von seinem Ruf gehört“, setzte Opa bloß hinzu.
Ja und, wer hatte das noch nicht? Kais Schattenseiten waren wirklich kein Geheimnis mehr in Spellington. Trotzdem ging doch sonst niemand davon aus, dass er mich irgendwie unter Druck setzte oder bedrohte.
„Und ich habe mir sagen lassen, dass er ein aggressives Verhalten an den Tag legt und keine Schlägerei scheut“, setzte Mom nun hinzu.
Ich saß einfach da und starrte die beiden an. In ihren Augen erkannte ich, dass sie es ernst meinten. Mich trieb es nur zur Fassungslosigkeit.
„Ihr seid anscheinend beide verrückt geworden“, bemerkte ich deshalb bloß kopfschüttelnd.
„Douphne, jetzt ist aber genug!“, fuhr meine Mutter mich herrisch an.
Ich stand allerdings auf, wackelig und humpelnd, und versuchte so wütend zu wirken, wie ich es war, indem ich sie entsprechend ansah und die Arme verschränkte.
„Ja, es reicht!“, schrie ich sie an. „Da bin ich ganz deiner Meinung! Nichts kriegst du mit, aber das hast du gehört? Dass Kai Eigenschaften hat, die du nicht billigst? Wen kümmert es, dass er nicht immer nett ist? Er ist immerhin da, wenn ich ihn brauche. Geh‘ arbeiten und tu, was du am besten kannst. Dich um mich zu kümmern gehört nämlich definitiv nicht zu deinen Stärken.“
Ich humpelte aus dem Raum, riss die Haustüre wütend auf und drehte mich abrupt um, als ich merkte, dass Mom mir folgte und mich aufbrausend fragte, wohin ich wollte.
„Was denkst du wohl?“ Bei dem Versuch, das Haus zu verlassen, stieß ich prompt mit jemandem zusammen und musste feststellten, dass Kai und Ray, zu denen ich eigentlich hatte flüchten wollen, bereits vor der Türe standen. Mit durchaus sprachlosen Gesichtern. Wie lange hatten sie da wohl bereits gestanden, ohne den Mut aufzubringen, zu klopfen, weil sie uns hatten streiten hören?
Niemand wusste etwas zu sagen, bis Opa schließlich die dröhnende Stille unterbrach und die beiden bat, hereinzukommen. Ray sah zwischen uns hin und her, ziemlich verunsichert. Er wusste es und ich wusste es auch. Um ihn ging es hier nicht. Auch Kai schien aufzufallen, dass sie Stimmung nur seinetwegen so eisig war und nickte schließlich einsichtig.
„Ray, da war doch noch diese Sache …“ Er warf ihm einen bedeutenden Blick zu und sein bester Freund verabschiedete sich höflich, als er sich auch schon aus dem Staub machte.
Kai hingegen betrat das Haus, griff nach meinem Arm und stützte mich auf dem Weg zur Couch im Wohnzimmer. Dort ließ er sich in die Polster fallen und stöhnte genervt auf.
Ich saß neben ihm, die Arme mürrisch verschränkt. Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, den Streit weiterzuführen. Kai hingegen schien daran interessiert zu sein, eine Einigung herbeizuführen.
Er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und blickte zu meiner Mutter. „Ich habe einen schlechten Eindruck bei Ihnen hinterlassen. Scheinbar. Ich weiß aber leider nicht, wann das gewesen sein soll.“
„Es geht nur um die Dinge, die wir über dich gehört haben“, meldete mein Großvater sich zu Wort. „Du hast auf mich einen ruhigen und verschlossenen Eindruck gemacht. Das ist erst mal nichts Schlechtes, aber …“
„Aber trotzdem habe ich anscheinend etwas getan, was dir missfällt.“ Kai musterte ihn ausdrucklos und kühl.
„Dieser Lukasz …“
„Der ist ein Freund von mir“, unterbrach ich ihn entschlossen, obwohl ich es nicht wirklich war. Ich wusste nicht, was wir waren, aber ich musste Kai den Rücken stärken. „Meine Antwort ist dieselbe, wie die von Kai, also mach keinen Staatsakt daraus, dass nicht ich sie dir gegeben habe.“
„Darum alleine geht es doch auch gar nicht.“ Opa lächelte sanft. „Es macht im Dorf nur bereits die Runde, dass Kai anscheinend bereit ist, über gewisse Grenzen zu gehen. Ich habe von dem Streit mit diesem Ian gehört und …“
„Das hier führt doch so zu nichts!“, ermahnte ich ihn laut. „Ihr beide habt Dinge gehört, wart aber nicht dabei. Ich kenne die Geschichten, die man sich über Kai erzählt. Ich weiß, was davon wahr ist. Könnt ihr das auch von euch behaupten, oder stützt ihr euch nur auf euren Kaffeeklatsch?“
Meine Mutter wirkte, als würde sie ersticken. Sie wollte sich zur Wehr setzen, während Opa nachsichtig nickte. Ihr fehlten die Argumente. Alles, was sie über Kai wusste, hatte sie von anderen gehört. Nichts davon hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Worauf sollte sie sich also berufen?
„Mittwoch“, murmelte sie plötzlich kaum hörbar. „Ich erwarte Kai und deine anderen Freunde am Mittwoch zum Essen. Du sagst, dass ich mich nicht interessiere, aber das ist nicht wahr. Ich will mir die Zeit nehmen, deine Freunde kennenzulernen.“ Sie griff nach einem Blatt und einem Stift, während Kai und ich sie überrascht musterten. „Sag‘ mir ihre Namen. Ich werde sie bis dahin können.“ Offenbar meinte sie es ernst, wirkte fest entschlossen und brachte mich damit aus dem Konzept. Die Wut wich, dafür drängte sich ein neues Gefühl auf. „Ich muss mir scheinbar selber ein Bild davon machen, wie deine Freunde so drauf sind. Das ist deine Chance, Kai. Zeig‘ mir, dass die anderen sich in dir täuschen.“
Ich warf ihm einen Blick zu. Klang es nur für mich so, oder verstand auch er es eher als Drohung? Ich kannte meine Mutter zu gut. Sie wollte Kai keine Chance geben. In ihren Augen hatte er schon längst verloren. Sie wollte eine Möglichkeit, ihn zu diskreditieren. Aber wieso erhoffte sie sich genau das von einem Abendessen in geselliger Runde?
Mom sah mich fordernd an und ich nannte ihr Ray, Van und Lukasz als Gäste. Für Erste schien die Situation damit beruhigt zu sein, als Opa mich plötzlich auf Jess ansprach.
Den hatte ich ja ganz vergessen. Ich wollte nicht, dass er kam. Vor allem, weil Kai mich in diesem Moment wieder so merkwürdig anstarrte. Jess würde allerdings erwarten, zu diesem Essen eingeladen zu werden und ich konnte ihm wohl kaum vor den Kopf stoßen, wenn er Rays Geheimnis für sich behalten sollte.
„Ja“, stimmte ich deshalb zu und fand es selber furchtbar, dass ich log. „Jess gehört auch auf die Liste.“
Kai ging es gegen den Strich, aber er wagte es wohl nicht mehr, in der Gegenwart meines Großvaters deswegen seine Meinung zu äußern, um nicht wieder zu missfallen.
Nachdem die Sache nun geklärt war, begleitete ich Kai vor die Türe und zog sie hinter mir zu. Schweigend, angespannt.
„Was wird sie tun?“ Kai wirkte kein bisschen entspannter, als ich. „Womit muss ich rechnen?“
„Ich weiß es nicht.“ Leicht lächelnd wandte ich mich zu ihm. Er hatte es also auch bereits erkannt. Das Essen würde für ihn schwierig werden. Auf welche Art meine Mutter es ihm allerdings unmöglich machen würde, von sich zu überzeugen, das wussten wir wohl beide nicht.