Nach und nach fanden sich die Dorfbewohner um das lodernde Feuer zusammen und saßen schließlich eng beieinander, den hell glänzenden Funken zuschauend, die in den dunkler werdenden Himmel stiegen. Stumm warf Jorunn ein ganzes Bündel Beifuß in das Feuer. Dann, als sich der Duft der Kräuter über die versammelten Zuhörer gelegt hatte, begann sie: "Wild ward Wingthor als er erwachte und seinen Hammer vorhanden nicht sah. Er schüttelte den Bart, er schlug das Haupt, allwärts suchte der Erde Sohn."(1)
Andächtig lauschte ihr jeder am Feuer, als sie die sich jährlich wiederholende Geschichte vom Diebstahl des magischen Hammers zu erzählen begann. Fast konnten die Zuhörer Loki vor sich sehen, wie er, in das Federhemd der Göttin Freyja gekleidet, zu den Jötunen flog, um nach dem Verbleib Mjölnirs zu forschen. Die Stimme Jorunns wechselte in einen donnernden tiefen Bass, als sie den Jotunen Thrym bei dessen erster Frage nachahmte: "Hvað er með ásum? Hvað er með álfum? Hví ertu einn kominn í Jötunheima? " (2)
Die Völva schritt umher und je nachdem, wessen Worte der Saga sie vortrug, änderte sie auch ihre Haltung und die Höhe ihrer Stimme. Leise wurde sie, als sie von der List berichtete, die Heimdall sich erdacht hatte - dass sich Thor und Loki als Frauen verkleiden mögen, um sich so nach Jötunheim einzuschleichen. Wort für Wort gab sie die Saga wieder, als sie davon berichtete, wie Thor dem schlauen Asen zunächst widersprach, wollte er sich doch nicht weibisch machen lassen. Ihr Gesicht war dabei so herrlich verzogen, dass nicht nur die Kinder bei ihrem Anblick in Lachen ausbrachen. Zu komisch war die Vorstellung, die Jorunn ihnen gab.
Auch Thorstein musste beim Anblick der angewidert dreinblickenden Völva lachen und schlang dabei liebevoll einen Arm um seine Rúna, die daraufhin noch ein wenig dichter an ihn heranrückte. Allein Ragnar blieb nachdenklich und betrachtete sein Volk, das um ihn herum so fröhlich war. Seine Gedanken waren bei anderen Dingen als der alten Saga. Bald würde der Tag gekommen sein, der das Opfer einforderte, das Odin wünschte. Würde er danach noch einmal ein solches Julfest begehen können? Und würde er den Weg auf seinen eigenen beiden Beinen beschreiten? Der Jarl schafte es nicht, diese Gedanken zu verdrängen. Das, was er fühlte, war nackte, kalte Angst. Und auch, wenn er ein hartgesottener Krieger war, blieb ihm keine Wahl, als sich diese Furcht einzugestehen. Die Schule, durch die ihn Jorunn gerade schickte, war selbst für ihn hart und ungewohnt.
Die Völva aber sah, wohin sich Ragnars Gedanken begeben hatten. Im Stillen hoffte sie eindringlich, dass diese Tage für den Mann eine Lehre sein würden. Nur Weisheit und die Kunst, Maß zu halten, konnten aus ihm den Anführer machen, den Straumfjorður bald benötigen würde.
Ungeachtet ihrer Überlegungen setzte sie ihre Geschichte fort, berichtete von Thors Reise nach Riesenheim, von den Schätzen, die er und sein als Magd verkleideter Bruder Loki den Riesen bescherten, von dem Gelage, dass Thrym zu Ehren Freyjas gab, die er an seinem Tisch wähnte, nicht ahnend, dass sich dort statt dessen der zornige Thor den Bauch vollschlug. Wissend zählte sie auf, was der Odinssohn an jenem Abend verschlang: " Thor aß einen Ochsen, acht Lachse dazu, alles süße Geschleckt, den Frauen bestimmt, und drei Kufen Met trank Sifs Gemahl."
Wieder ließ sie ihrem Spiel freien Lauf, als sie Thryms Rede darbot, in der er sich über die Gefräßigkeit seiner Braut verwunderte. Ebenso gab sie Loki mit verstellter Stimme die Ehre, der auch auf diese verzwickte Frage eine Antwort wusste: "Át vætur Freyja átta nóttum, svo var hún óðfús í Jötunheima. "(3)
Ein weiteres Mal wurde Lokis Schläue benötigt, bevor die traurige Schwester Thryms eintrat und um ein Brautgeschenk bat. Dann aber, als sich ihre Geschichte dem Höhepunkt entgegen neigte, unterbrach sich Jorunn für einen Moment, um die wartenden Mägde anzuweisen, den Met über die Kochfeuer zu hängen. Während das Gebräu begann, sich zu erwärmen, nahm auch die Saga der Völva ihren allbekannten Verlauf. Thrym ließ Mjölnir bringen und legte ihn seiner vermeintlichen Braut in den Schoß. Thor aber, der auf diesen Augenblick lange gewartet haben musste, kannte keine Gnade. Mit dem Hammer in der Hand löschte er das Riesengeschlecht des Thrym vollständig aus. Das Ende war schnell erzählt und auch hier hielt sich Jorunn an die Vorgabe der alten Saga: "Svo kom Óðins sonur endur að hamri. "(4)
Schweigend zollten die Zuhörer ihrer Erzählerin den gehörigen Respekt. Erst nach einer ganzen Weile begann eines der Kinder in die Hände zu klatschen und alle anderen folgten ihm nach. Jorunn freute sich. Noch immer gelang es ihr, die Dorfbewohner mit den alten Geschichten zu fesseln. Auch das war eine wichtige Aufgabe der Völva, den Glauben an die Asen lebendig zu halten und die Geschichten über die Götter von Generation zu Generation weiterzugeben.
Mit einer Geste eröffnete sie das abendliche Fest und die Mägde an den Feuern begannen, den Julmet, der eigens für diesen Abend gekeltert worden war, auszuschenken. Hörner wurden herumgereicht und frisches Brot in Form von symbolstarken Tieren wie Ebern und Hähnen wurde gebrochen und unter freudigen Rufen und geflüsterten Gebeten verzehrt.(5)
Lange saßen die Nordmänner an diesem Abend im Hain um die Feuer, tranken, aßen und wurden sich ihrer Wünsche für das kommende Jahr gewiss. Denn genau das war die Aufgabe, die jeder von ihnen heute hatte - den Göttern vorzutragen, was sich die Menschen von ihnen in der Zukunft erhofften und erbaten.
Auch Thorstein und Rúna folgten dem alten Brauch. Hatte sich der Steuermann in den letzten Jahren immer Ruhm und gute Beute gewünscht sowie ein großes Maß an Kriegsglück, so musste er heute feststellen, dass seine Zeit als Krieger wohl ihrem Ende zuging. Der Kampf interessierte ihn nicht mehr. Viel wichtiger erschien ihm sein Glück, das er bei Rúna und Solvig gefunden hatte, waren Frieden und Wohlstand für Straumfjorður und ganz Schonen in den Vordergrund getreten.
Mit großer Konzentration und voller Ernst zerrieb er das Julbrot in seinen Händen zu feinen Krumen, die er als Opfer für die Götter ins Feuer warf, dabei leise seine Bitten für das neue Jahr vorbringend. Ein Schluck Met folgte dem Gebäck und Thorstein fuhr sich nachdenklich über das Gesicht. Mochten die Götter ihm gnädig sein und seine Wünsche als angemessen erachten!
Auch Rúna ließ sich von der Feierlichkeit und der tiefen Bedeutung des Rituals mitreißen. Aufmerksam verfolgte sie Thorsteins Anrufung der Götter, die sie nach ihm ebenfalls zelebrieren würde. Seine Wünsche und Bitten berührten sie, ahnte sie doch, dass für einen Mann wie ihn andere Sehnsüchte und Begierden üblich waren. Dass er sich nun Frieden wünschte und Glück für seine neue Familie, war etwas ganz anderes, als sie es erwartet hatte.
Doch auch sie, Rúna, hatte Bitten an die Götter. Und es war eine unter ihnen, die sie zunächst Thorstein vortragen wollte. Nur wenn er ihr darin zustimmte, würde sie es wagen und den Göttern diesen innigen Wunsch nennen. Still fuhr sie über den Armreif, der ihre Gefährtenschaft zu dem Mann neben ihr besiegelt hatte. "Ich möchte die Asen bitten, dass die Versprechen in diesen Runen im kommenden Jahr wahr sind", verriet sie dann Thorstein, der ihre Geste beobachtet hatte. Als ihr Gefährte sie daraufhin freundlich anlächelte, schmiegte sie sich eng an ihn und sah ihm in die Augen. "Und ich möchte die Götter bitten, dass ich dir ein Kind schenken darf", flüsterte sie und errötete dabei bis zu den Ohren. "Wäre dir das recht?"
Thorsteins Herz schien einen Moment lang stillstehen zu wollen. Ein Kind mit Rúna … In seiner Erinnerung sah er sie, wie sie zum ersten Mal die kleine Solvig im Arm gehalten hatte. Schon damals war ihm der Gedanke an eigene Kinder gekommen. Nun aber, da sie es selber wollte …
Zärtlich ergriff er ihre Hand, die das zerriebene Opferbrot hielt. "Ein eigenes Kind ist ein Wunsch, den ich nicht auszusprechen gewagt hätte. Doch es würde mich unendlich glücklich machen, mit dir ein Kind zu haben, Rúna. Lass uns diese Bitte gemeinsam vorbringen!"
Und so kam es, dass erneut eine Handvoll zerriebener Brotteig seinen Weg ins Feuer fand, gefolgt von einem ordentlichen Schluck Julmet. Das Paar aber, das mit dem Opfer seine letzte Bitte vorgetragen hatte, saß noch lange eng umschlungen und sah den Flammen und Funken des glücksbringenden Julfeuers zu. Erst, als die meisten der Dorfbewohner längst ihr Julholz über die Flammen gehalten hatten und in ihre Häuser und Hütten zurückgekehrt waren, erhoben die beiden sich. Still ließ auch Rúna einen Kloben Holz von den Flammen ansengen. Dann gingen sie gemeinsam zu der kleinen Hütte aus Zweigen und Grassoden, die Thorstein für die Tage des Fastens bewohnen würde. Morgen würde er dort allein hungern und schweigen. Doch heute, und das ließen sie sich beide nicht nehmen, würden sie das kalte, harte Lager miteinander teilen. Vielleicht konnte diese Nacht schon ein Vorgeschmack auf die Erfüllung jener Wünsche sein, die sie dem Julfeuer übergeben hatten.
(1) alle folgenden Zitate sind entweder dem Original des Thrymskvida-Liedes aus der Edda entnommen oder deren excellenter Übersetzung von Karl Simrock
(2) "Wie stehts mit den Asen? wie stehts mit den Alfen? Was reisest du einsam gen Riesenheim?"
(3) "Nichts genoß Freyja acht Nächte lang, so sehr nach Riesenheim sehnte sie sich."
(4) " So holte Odins Sohn seinen Hammer wieder."
(5) Über die Feste der Wikinger ist außer den Daten sehr wenig bekannt. Etwas mehr weiß man über germanische Kulturen, deren Götterglaube dem der Nordmänner wohl recht nahe kam. Also habe ich meine Auswahl an "Speis und Trank" an Vermutungen orientiert.