Zuerst war da dieses Kleid.
Zufrieden legte es die Erdenfee auf den Boden. Grob gewoben war es, aus allen möglichen Materialien, welche ihr Pflanzen und Bäume geschenkt hatten: Rinde, Bast, Pflanzenstängel, Blätter, Schnüre. Zur Zierde hatte sie auch einige Tannenzapfen, Kieselsteine und verschiedene Nüsse in dieses Kleid hinein verarbeitet.
Sinnend betrachtete sie ihr Werk. Bald würde sie es hergeben müssen. Ihre Aufgabe war nun erfüllt. Sie würde sich dem nächsten Kleid zuwenden; auch dieses würde einzigartig sein, neu ausgedacht und erschaffen. Gemeinsam waren all ihren Kleidern nur die Erdfarben und das grobe Material.
Der Allerhöchste selbst hatte sie damals für diese Aufgabe ausgewählt und ihr dabei den Namen "Erdenfee" gegeben. Wie sehr sie sich gefreut hatte über diesen Auftrag, ihre Mitarbeit am grossen Werk!
"Deine Kleider werden die ersten sein, die die Seelen tragen werden. Damit werden sie ihre ersten Schritte tun auf dieser Erde. Arbeite sorgfältig und mit Liebe. Betrachte jedes Kleid als Kunstwerk und mache nie zwei der gleichen Art! Jede Seele hat Anrecht auf ihr eigenes Kleid!"
Der Allerhöchste hatte ihr ein gütiges Lächeln geschenkt und sie aus seinen liebevollen Augen warm angeschaut.
"Noch etwas, Erdenfee", hatte ER hinzugefügt. "Wenn du deine Arbeit an einem Kleid beendet hast, dann segne es in meinem Namen. Wünsche ihm, dass es voller Vertrauen durch die Prüfungen des menschlichen Daseins gehen und sich dabei verfeinern möge. Erzähle ihm von der unendlichen Schönheit und Vielfalt der Natur, der Tierwelt in all ihren Formen, der Gestirne. Sage ihm, dass dies alles Geschenke von mir sind - kostbare Geschenke!"
Segnend hatte der Allerhöchste daraufhin seine Hand erhoben.
Unzählige Kleider hatte sie seither verfertigt. Jedes war abgeholt, bewohnt und nach einer Weile wieder abgelegt worden. Wenn sie solch ein Kleid wieder irgendwo fand, sah sie sehr schnell, was sie damit zu tun hatte. Manchmal musste sie in den tiefen Wald, schwarze, dicke, steife Schnüre binden und diese neu in das Kleid einweben. Dies mochte sie nicht besonders, denn sie wusste, dass es lange dauern würde, bis sie diese schweren Schnüre wieder herauslösen konnte. Häufig aber durfte sie einen Beerenzweig einflechten, eine Vogelfeder oder gar zarte Spinnenfäden. Hatte sich die Seele - und damit ihr Kleid - noch mehr verfeinert, kam ihr ein Engel zu Hilfe. Denn nur im Himmel gibt es diese wunderbar feinen, in allen Regenbogenfarben schillernden Fäden, die sie dann gemeinsam verwoben. Wunderschöne, engelsgleiche Kleider wurden dann daraus, luftig, leicht. Sie wusste, dass deren Weg zum Allerhöchsten nur noch kurz war und freute sich sehr.
Die Erdenfee schreckte auf. Viel zu lange hatte sie nun schon da gesessen und geträumt. Dabei spürte sie, dass da jemand nach einem Kleid suchte. Rasch legte sie das fertige Stück auf einen Stein, segnete es und zog sich dann schnell zurück. Von weitem sah sie, wie ein Mann sich das Kleid verwundert überstreifte, damit eins wurde und dann seinen Weg antrat.
"Machs gut", murmelte sie ihm nach. "Trag dir, deinem Kleid und allem, was dir anvertraut wird, Sorge!"