Ich glaube mittlerweile, dass dies so hatte sein müssen, die Göttin hat das so gewollt aus irgendeinem Grund. Ich habe auch erkannt, dass Lilithia anders sein muss, als sie sich unser Volk immer vorgestellt hat. Wir haben aus ihr etwas gemacht, dass sie eigentlich nicht ist, nicht sein kann. Es kann nicht ihr Wille sein, dass ihre Kinder sich so ins Unglück stürzen, weil sie ihre Mitgeschöpfe, das andere Geschlecht, so gering achten. Es kann nicht sein, dass sie so lieblos ist, denn diese Sichtweise ist lieblos. Wir sind alle doch irgendwie gleich, wir mögen etwas anders leben, etwas andere Gottesbilder haben, aber wir bleiben doch immer gleich und die grosse Göttin liebt alle auf dieselbe Weise. Es gibt keine besseren oder schlechteren Geschöpfe.
Tatsache bleibt, dass mein Volk dem Untergang geweiht ist, sofern… uns keine Lösung für unser Problem einfällt. Ach Nannios, ich weiss einfach nicht was ich tun soll!“
Der junge Lunarier sah sie mitfühlend an. „Das ist wirklich eine schlimme Sache“, sprach er nachdenklich. „Ich denke, wir müssen uns da etwas einfallen lassen. Wir sollten mal mit Mutter reden. Es werden sich doch wohl noch einige willige Männer hier finden lassen, welche sich dazu bereit erklären, den Fortbestand der Harpyas zu sichern, wenn alle bei euch so wundervoll sind, wie du!“ Er lächelte und streichelte ihre Wange liebevoll. Seine Worte berührten sie tief, doch sie machte sich Sorgen. „Ich denke nicht, dass die Harpyas alle so sind wie ich. Sie haben ja auch nicht dasselbe erlebt wie ich. Sie sind immer noch in ihren alten Denkmustern verhaftet. Sie würden euch sehr geringen Respekt entgegenbringen.“ „Ich glaube, wenn es um ihren Fortbestand geht und wir sozusagen ihre einzige Hoffnung sind, werden sie uns schon respektieren lernen.“ „Ich weiss nicht so recht…die Väter würden dann nur sehr wenig Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben. So schnell lässt sich mein Volk bestimmt nicht das Heft aus der Hand nehmen und was wäre mit den männlichen Nachkommen? Man müsste dafür sorgen, dass sie ein lebenswertes Leben bei uns führen können, nicht wie bisher unsere Masculinas.“ „Dann müssen neue Gesetze her!“ sprach Nannios optimistisch. „Neue Gesetze? Du stellst dir das etwas einfach vor. Du weisst, dass es sehr schwierig ist einem Volke, das Jahrhunderte auf dieselbe Weise gelebt hat, neue Gesetze zu geben, die dann auch befolgt werden. Du musst wissen, die Harpyas haben die Vorstellung, dass alles Männliche eigentlich von Übel ist. Wir durften uns deshalb nie verlieben, denn das kam einem Verrat an der Göttin gleich, weil diese so unter der männlichen Herrschaft gelitten hat, dass sie dann schliesslich aus eigenen Stücken das Paradies verliess. Sie wird deshalb als sehr stark und eigenständig angesehen, als eine Frau, die sich nicht vom Patriarchismus beherrschen liess, sondern sich selbst treu blieb und dafür viel aufgab.“ Nannios sprach: „Man muss dabei bedenken, dass sie sich gegen die Ungleichwertigkeit der Geschlechter aufgelehnt hat. Aber euer Volk, hat das anders ausgelegt. Es hat diese Legenden, als Herrschaft der Frau über den Mann ausgelegt und dass man sich auf keinen Fall zu sehr von einem Mann beeinflussen lassen darf, weil er ja doch nur auf die Allmacht aus ist. Doch weder Mann noch Frau sind allmächtig und in meinem Volke erhebt auch niemand den Anspruch der Allmacht. Es ist eine Ergänzung von Frau und Mann von Mond…“ er deutete in den Himmel „und Sonne…“ Lilithia ist auch Mond, aber sie verkörpert die kämpferische, kriegerische Seite des Mondes. Der Mond steht für das Weibliche und die Sonne für den Mann.“ „In unserer Welt nicht. Da gibt es nur den schwarzen Mond.“ „Ja und das ist wohl auch der Grund, warum ihr euch gar nicht mit der Sonne, oder dem Männlichen auseinandergesetzt habt. Das gab es schlichtweg nicht bei euch, darum dient ihr dem Dunklen Mond, was euch…übrigens auch sehr verführerisch macht, muss ich sagen…“ Er lächelte sie wieder an und erhob sich. „Ich liebe deine kriegerische Seite, ich verehre sie und ich werde sie auch ehren, darum wirst immer du entscheiden, was zwischen uns weiter passiert. Dieses Versprechen gebe ich dir und nun…muss ich mit meiner Mutter reden! Kommst du mit?“ Er streckte ihr die Hand entgegen und sie ergriff sie, von inniger Liebe erfüllt. Ja, Nannios sollte ihr fester Gefährte werden! Noch wusste sie zwar nicht, wie genau es weiter ging, aber sie vertraute auf ihre Göttin…
Es war noch nicht sehr spät am Abend, als sie bei Nannios Mutter Artemia eintrafen. Sie war oft noch bis in die späte Nacht hinein wach, denn sie diente der Mondgöttin.
Ihr Quartier lag direkt unter dem Mondtempel, welcher sich im obersten Teil des kristallenen Kuppelbaus befand. Sie hatte hier zwei grosse Räume für sich, welche durch silberne Vorhänge voneinander getrennt wurden. Den einen Raum nutzte sie zum Schlafen. Ein Bett, mit weissen Laken und in allen Farben leuchtenden Kissen und Decken, hing an der weissen Decke. Die Wände waren geschmückt mit verschiedensten Mosaiken, welche mythologische Szenen zeigten. Der Boden war belegt mit weichen Teppichen und die Möbel bestanden aus elfenbeinfarbenem Holz, verziert mit Schnitzereien, die Tiere und Blumenranken zeigten. Bei den Tieren handelte es sich meist um Stiere und Hirsche, manchmal Vögel. Diese waren, laut Legende, die Lieblingstiere der Göttin Lunaria gewesen und sie hatte sich auch mit Vorliebe in eins dieser Tiere verwandelt. Laut der Legende hatte sie der Sonnengott einst in Stiergestalt besucht, als sie gerade selbst die Gestalt einer Kuh angenommen hatte, um sich mit ihr zu paaren. Eine andere Legende erzählte dass, als der Gott die Gestalt des Himmelsvogels angenommen hatte und sich mit der Mondgöttin paarte, die Lunarier dabei entstanden waren. Die Legenden hier waren ganz anders, aber Aellia erkannte immer mehr den tieferen Sinn dahinter. Auch im Wohnraum, wo sich ein grosser Tisch mit einigen Stühlen befand, gab es diese Mosaike. Es waren wahre Kunstwerke und funkelten in allen Farben des Regenbogens. Säulen stützten auch hier, den oben etwas abgerundeten Bau und auch sie waren mit den üblichen Tieren und Pflanzenmotiven geschmückt. Als Nannios und Aellia Artemias Räumlichkeiten ehrfürchtig betraten, sass sie gerade an einem kleineren Tisch und war in ein Buch vertieft.
Als sie die beiden sah, hob sie den Kopf und hiess sie mit einem freundlichen Lächeln willkommen. „Schön dass ihr mich besucht! Gerade habe ich etwas sehr Interessantes in unseren Stadtchroniken gelesen. Das wird besonders dich interessieren Aellia. „Was ist es denn?“ fragte die junge Harpya, ihre Neugier war geweckt. Sie flog etwas näher zu Artemia heran und schaute in das dicke, in Leder eingebundene Buch. Nannios folgte, fast ebenso neugierig. „Es scheint mir“, sprach die Hohepriesterin welche heute in einen hellblauen, wallenden Stoff gehüllt war „das du nicht die erste Harpya bist, welche hier landete.“ „Aellias Herz klopfte zum Zerspringen. „Hier steht es, es war schon mal vor vielen Jahre eine Harpya hier, sie verbrachte einige Monate im Land des Silber- Mondes. Ihr Name war Calipsia. Sie sei vom Himmel gefallen und man habe sie wie dich, hier gesund gepflegt. Dann… verliebte sie sich in einen Mann unseres Volkes, er nannte sich Apollios. Ein Mädchen entstand aus dieser Verbindung, man gab ihm den Namen…“ „Kelana!...“ stiess Aellia ungläubig hervor, als sie den Namen las. Sie blinzelte, um sicher zu sein, dass sie auch richtig gesehen hatte. Aber der Name stand da, ganz klar. KELANA. „Aber das kann doch nicht sein! Kelana ist unsere Hohepriesterin!“ sprach sie. „Sie ist… also halb Harpya, halb Lunarier? Darum ihre weissen Federn! Aber wenn das stimmen würde…“ Sie schaute Nannios an und sie verstanden sich sofort. „Wenn das wirklich stimmen würde, dann haben wir vielleicht bessere Chancen, deinem Volke zu helfen“, vollendete er den Satz. Artemia schaute die beiden etwas irritiert an. „Es scheint, als hättet ihr beiden etwas ausgeheckt. Nun gut, bestimmt seid ihr hier, um mich auch einzuweihen?“ „Ja, genau darum sind wir hier“, sprach Nannios, gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und liess sich gegenüber von ihr, auf einem der hellen Stühle mit den hohen, verzierten Lehnen nieder. Aellia setzte sich neben ihn. Und dann erzählten sie der lunarischen Hohepriesterin die ganze traurige Geschichte der Harpyas. Diese hörte ernst und mitfühlend zu.
Als das Paar seine Erzählungen beendet hatte meinte Nannios. „Mutter, wir müssen Aellias Volk helfen. Wäre es nicht möglich einige der Männer ins Reiche des Dunklen Mondes zu schicken, damit sie sich mit den Harpyas paaren können?“ Artemia schaute nachdenklich auf das nun geschlossene Buch vor sich. „Ich weiss nicht recht mein Junge…so einfach ist das wohl doch nicht.“ „Aber warum nicht?“ Die Hohepriesterin schaute Aellia ernst an. „Ich weiss, ihr lebt in einer sehr lebensfeindlichen Umgebung dort oben. Die Drakonier haben mir gesagt, dass wir dort nicht überleben könnten. Es ist also nicht so einfach, die Männer unseres Volkes dorthin zu schicken. Auch wenn ich sicher bin, dass sich einige gern dazu bereit erklären würden. Besonders junge Männer, welche noch keine feste Partnerschaft haben, doch vielleicht auch einige ältere. Es ist ja nicht so, dass eine Partnerschaft bei uns bedeutet, sich nie mehr mit einer andren Frau, oder einem andren Mann zu paaren. Wir sind da aufgeschlossen und viele unserer Männer, wären sicher gerne die Retter solch besonderer Frauen wie den Harpyas…“ Sie lächelte ihren Sohn vielsagend zu „Aber wie Aellia bereits andeutete, leben die Harpyas ganz anders. Sie sind es sich gewöhnt, die Herrschaft zu haben und die Männer werden bei ihnen nur gering geachtet. Dazu kommt, dass die Harpyas dann, vor allem bei den weiblichen Kindern, die Erziehung übernehmen wollten. Die Männer, welche die Väter dieser Kinder, egal ob Junge oder Mädchen sind, würden nicht befähigt sein, einen Bezug zu selbigen aufzubauen. Was sich als grosser Verlust für die Kinder, wie auch für die Väter erweisen würde. Dazu kommt noch, dass die Gefahr besteht, dass die Söhne sich bereits von klein auf, den Frauen unterwerfen müssten. Doch das lasse ich nicht zu! Mein Volk ist mir zu wichtig, als dass ich ihm so etwas zumuten würde. Denn diese Kinder würden automatisch auch zu meinem Volk gehören, da auch das Blut der Lunarier durch ihre Venen fliessen würde. Also wir stehen da vor einigen Problemen, die nicht so einfach zu lösen sind. Wir müssen uns das sehr gut überlegen.“ Aellia nickte stumm. Sie wusste, dass Artemia recht hatte, dennoch musste sie sich beherrschen nicht in Tränen auszubrechen. Sie war einerseits erfüllt von Scham, andererseits von Verzweiflung darüber, dass ihrem Volk der Untergang drohte, wenn sie keine Lösungen fanden.