Schliesslich dann meinte Dyandra: „Nun werden wir bald am Ziel sein. Wir werden den Treffpunkt aufsuchen, den ich mit Trojanas abgesprochen habe. Er liegt in einer gering belebten Gasse, in einem alten, nicht mehr bewohnten Wirtshaus. Dort besprechen wir weiteres.“ Nannios nickte, obwohl er am liebsten gleich in die Stadt gestürmt wäre, um ihre Frauen zu suchen und zu befreien. Doch sie mussten vorsichtig vorgehen. Er und die andern Lunarier und die Harpyas trugen nun verschiedenfarbige Mäntel, die bei den Solianern oft getragen wurden, sie bedeckten auch die Flügel. So fielen sie wenigstens nicht sogleich auf.
Licht drang nun aus einer Öffnung über ihnen. In diesem Teil der Stadt war es schon einiges heller und luftiger als in den unteren Vierteln. „Wir befinden uns nun auf der mittleren Ebene“, sprach Dyandra. Sie schwebte den anderen voraus, aus der Öffnung und sie fanden sich in einer eher dunklen Gasse wieder. „Hier ist seit dem Schliessen des Wirtshauses, kaum mehr etwas los, nur wenn Lieferungen kommen, herrscht hier mehr Betrieb, “ sprach die Seherin nun mit etwas gesenkter Stimme. „Sie wollen das Wirtshaus bald in ein Lager umwandeln, aber das dauert noch etwas. Haltet die Augen offen, es patrouillieren hier manchmal Wachen.“ Die Leute im vorderen Bereich der Truppe, gaben diese Informationen auch an die hintersten weiter.
Irisa, welche sich mit den andern Harpyas in der Mitte befand, nickte Nannios schweigend und freundlich ermutigend zu. Das berührte ihn, denn Anfangs hatten die Harpyas ihn nur schwer respektieren können, nun jedoch schienen sie etwas aufgetaut zu sein. Wenn er sie so sah und ihren Einsatz, den sie für die Lunarierinnen leisteten, keimte in ihm wahre Hoffnung, dass es im Land des dunklen Mondes, auch bald eine Wandlung geben würde, wie jetzt hier im Sonnenreich. Auch er nickte ihnen zu. Vorsichtig um sich blickend, schwebten sie dann durch die Gasse, welche von einigen, eher verwitterten, weiss getünchten Häusern flankiert wurde. Es war hier zwar nicht so ärmlich wie in den unteren Vierteln, aber doch ziemlich ungepflegt. Eine der dunkleren Ecken, der sonst strahlenden Sonnenstadt.
Auf einmal hielt Dyandra inne und lauschte angestrengt. Sie gab den Bogenschützen, welche sich nun im vorderen Bereich der Truppe aufhielten, die Anweisung sich bereit zu machen. Alle drückten sich an die Wand und blickten in Richtung des Zentrums der Stadt. Stimmen näherten sich. Es waren zwei Wachen, mit Kriegsäxten bewaffnet. Dyandra gab einen stillen Befehl. Einige Bogenschützen, darunter auch Mellila, legten an. Die Wächter waren noch kaum in die Gasse eingebogen, als ein leises Zischen erklang und mehrere Pfeile die Kehlen der beiden durchbohrten. Sie hatten keine Chance mehr etwas zu rufen, mit einem gurgelnden Geräusch, brachen sie zusammen. Blut quoll aus ihren Hälsen und bildete unter den toten Körpern, glänzende Lachen. Nannios blickte kurz zu Mellila herüber, einer ihrer Pfeile, hatte sehr präzise getroffen. Er lächelte ihr bewundernd zu und ihre goldenen Augen schienen sogleich etwas mehr zu leuchten. Erst dann kam ihm wieder in den Sinn, dass er sie eigentlich nicht mehr hatte beachten wollen, bevor ihr Auftrag nicht ausgeführt war. Doch er mochte sie irgendwie sehr, auch wenn dies natürlich in keinster Weise, mit der Liebe zu Aellia zu vergleichen war. Mellila war auf ihre Weise besonders, sie strahlte einen seltsamen Zauber aus. Er wusste, dass sie viel durchgemacht hatte und dennoch, sie hatte sich dieses Strahlen irgendwie bewahrt. Er fragte sich, ob sie wohl schon mal ein Kind geboren hatte, denn ihr Bauch besass eine leichte Wölbung, welche meist auf einstige Mutterschaft hindeutete. Sie war noch immer schlank, aber diese leichte Wölbung…, er kannte das von den Frauen seines Volkes, welche schon mal geboren hatten.
Zwar strapazierten die Eierkokons, in denen die Kinder, im Bauch der Mutter heranwuchsen, das Bindegewebe nicht auf dieselbe Weise, wie es bei Menschen der Fall war. Die Geflügelten, wurden auch ziemlich klein geboren, wuchsen jedoch sehr schnell heran, wenn sie auf der Welt waren. Aber man konnte auch bei ihnen meist ein Bisschen erkennen, wenn sie einst schwanger gewesen waren.
Nannios vermutete sowas bei Mellila und er hatte irgendwie das Gefühl das eine traurige Geschichte dahinter steckte. Dennoch sie strahlte trotz allem eine angenehme Wärme und Freundlichkeit und Offenheit aus und das gefiel ihm. Natürlich schmeichelten ihm auch ihr Interesse und ihre Bewunderung sehr. Für sie mussten die Lunarier schon sehr aussergewöhnlich sein, wenn man bedachte unter was für Bedingungen die Solianerinnen bisher gelebt hatten. Er war wohl der erste Mann, der sie wirklich respektierte.
Er riss sich aus seinen Gedanken und wandte sich wieder dem Geschehen vor ihm zu. Sie bewegten sich vorsichtig vorwärts. Auf einmal hielten sie erneut inne. Jemand kam ihnen entgegen. Wieder drückten sie sich gegen die Wand und die Bogenschützen legten erneut an. Doch als sie die Neuankömmlinge erkannten, senkten sie die Bogen sogleich wieder. Es waren ihre Verbündeten, unter ihnen Trojanas. „Mein Sohn!“ sprach Dyandra erfreut und schwebte auf selbigen zu. Dieser lächelte und umarmte sie spontan. Nannios reckte den Hals. Das war also der Königssohn, mit dem Aellia die Wonnen geteilt hatte? Er war wahrlich eine eindrückliche Erscheinung, mit einer sehr feurigen Ausstrahlung.
Der junge Lunarier schwebte an die Spitze des Zuges und reichte Trojanas die Hand: „Ich bin Nannios“, sprach er „es freut mich, dich kennenzulernen.“ Der Königssohn schaute ihn ebenfalls interessiert an, dann erschien ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht: „Dann bist du also der Mann, der das grosse Glück hat zu Aellias Gefährten auserkoren zu sein? Du bist wahrlich zu beneiden!“ Auch Nannios lächelte.
Es war unter den geflügelten Völkern nicht üblich, Eifersucht zu empfinden. Eifersucht war gar sehr verpönt. Jeder durfte die Wonnen mit jedem teilen, das galt nicht als Treuebruch. Es war etwas wie bei den Vögeln, die sie zum Teil ja auch waren. Unter den meisten Vogelarten war es üblich, eine feste Bindung zu einem Partner einzugehen, was jedoch nicht zwangsläufig, körperliche Treue zu bedeuten hatte. So etwas wie Selbstwertprobleme, oder Ängste in dieser Hinsicht, gab es bei den Geflügelten nicht. Wurde man von jemandem als Gefährte auserwählt, dem man sich selbst zutiefst zugetan fühlte, war einem das mehr als genug.