Obzwar sich Silvia sehr wunderte, dass Gerhard nicht ans Telefon ging, versuchte sie es kein zweites mal. Sie hatte die Entscheidung getroffen sich von Gerhard zu trennen und selbst, wenn sie jetzt schwanger wäre, es änderte nichts daran, dass sie nicht mehr wollte. Gerhard würde sich schon melden. Er hatte es so oft versucht, sie zu kontaktieren und sie hatte ihn sogar blockiert. Sie konnte durchaus verstehen, dass er sich jetzt zierte. Sie hatte ihm den Ring und die Schlüssel hingelegt! Sowas muss man erst mal verdauen.
Sie würde schon durchkommen. Und wenn sie schwanger war, so war das im Moment unpassend, aber das kleine Würmchen in ihrem Leib konnte nichts dafür und Silvia würde alles dafür tun, dass es eine schöne Kindheit haben würde. Sie war eine Frau, für die das Tragen einer Verantwortung ein ganz wichtiger Bestandteil eines Charakters war. Das hatte sie von ihren Eltern ihr Leben lang so gesehen und so würde sie ihr Leben lang agieren. Das mag so klingen, als wäre sie eine kalte Person gewesen, die nur erlernten Normen und nur strenger Disziplin folgte. Doch so war es nicht. Silvia war eine warmherzige Person, die durch so manche Entbehrungen und Erfahrungen eine Richtung eingeschlagen hatte, die gewissen Grundsätzen folgte. Das verlangte unter Anderem auch eine gewisse Konsequenz. Und die hatte sie! Bei Gott! Tief in ihrem Herzen war sie ein liebes sanftmütiges Wesen, das eben nicht immer ans Licht konnte, weil das Leben ihm noch wenig Gelegenheit dazu gegeben hatte.
Das Leben... wie hatte es ihrem Vater mitgespielt? Er war immer ein anständiger, fleißiger und treusorgender Familienvater gewesen und jetzt, da das kleine Reihenhäuschen abbezahlt war und seine Tochter mit der Ausbildung fertig und flügge geworden, hätte er sich ein ruhiges Altwerden verdient gehabt. Doch das Leben hatte einen anderen Weg für ihn vorhergesehen und was man dabei nicht vergessen sollte: Auch für Mutter war es ein hartes Brot, nun im Rentenalter einen Pflegefall als Partner zu haben, anstatt mit ihm kleine Reisen zu unternehmen. Das war immer der Traum ihrer Eltern gewesen. "Wenn Silvia groß ist und wir in Rente, dann kaufen wir uns ein Wohnmobil und machen kleine Reisen. Vielleicht auch mal nach Skandinavien. Rauf zum Nordkap. Wir werden sehen." Ihr Leben lang hatten die beiden ihre Pflicht erfüllt, als Eltern wie auch als Arbeitnehmer. Doch statt sich jetzt ausruhen zu können, verfiel Vater geistig und körperlich zusehends und Mama hatte für die Pflege zu sorgen. Natürlich kam Silvia fast jeden Tag nach Hause und half ihrer Mutter bei den körperlich schweren Aufgaben, aber den Löwenanteil an Arbeit und Kraft musste schon ihre Mutter leisten. Ganz abgesehen davon, das die beiden Renten und das Pflegegeld kaum ausreichten, die Kosten zu decken!
Silvia ging zum Kühlschrank und erkannte, dass sie heute wohl ohne Abendessen ins Bett gehen musste. Ihre Übelkeit am Nachmittag hatte sie vergessen lassen, einkaufen zu gehen. Naja, ein halb-hartes Brötchen mit ein Wenig Margarine und ein Glas kalte Milch... das war ja auch nicht zu verachten. Sie würde sich sowieso Gedanken machen müssen, wie sie ihr weiteres Leben gestalten sollte. Ewig würde sie hier nicht wohnen können. Sie musste sich langsam um etwas Adäquates umschauen. Auch im Hinblick auf die Tatsache, dass sie möglicherweise ein Kind erwartete. Diese Woche hatte sie noch frei, sie musste Überstunden abbauen, nächste Woche aber ging die Arbeit wieder los. Als Erstes würde sie morgen Lebensmittel einkaufen. Und einen Schwangerschaftstest...