Eine neue Basis aufzubauen, nahm einige Zeit in Anspruch. Es fing damit an, dass sich die Erwachsenen über den Standort der Basis stritten, und zwar jedes Mal, wenn sie sich zum Frühstücken trafen.
„Wir sollten möglichst weit in die Zukunft reisen“, begann etwa Daria: „Um die beste Technik zur Verfügung zu haben, solange sie noch existiert!“
„Ja, und riskieren, dass wir sonstwo landen!“, sagte Liam dann: „Wir sollten in die Vergangenheit.“
„Was, wenn wir die Zeitleiste nochmal verändern?“, warf Lydia ein, und die Diskussion wurde immer hitziger, während Caspar und Jane sich mit ihren Broten beschäftigten und taten, als seien sie nicht da.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Und hoch mit dir“, sagte Daria zum wohl tausendsten Mal an diesem Tag. Ihr Tonfall hatte etwas fröhliches und überlegenes, als würde sie einen Streit mit einem überlegenen Argument beenden. Was sie ja in gewisser Weise getan hatte, wenn man davon ausging, dass ein Schwung mit dem Regenschirm, der Caspar von den Füßen riss, ein Argument war.
Er kämpfte sich mühsam auf seine ungeschickten Füße und packte den Stock, der ihm als Waffe dienen sollte, mit einigem Widerwillen. Er dachte neidvoll an Jane, die irgendwo mit Dakuri zusammensaß und Stück für Stück die Technologien erklärt bekam, die sie niemals gekannt hatte. Währenddessen musste er in den Kampfstunden bei Daria nachsitzen, weil er sehr viel schlechter war als Jane. Seit Tagen bestand sein Körper nur noch aus blauen Flecken.
„Und nochmal“, sagte Daria und kreiste mit ihrem Regenschirm.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Lydia klopfte mit dem Zeigestock auf die Tische von Jane und Caspar wie einer von seinen alten Lehrern: „Ich hoffe, ihr habt eure Vokabeln gelernt“, sagte die blasse, dürre Frau und der Blick huschte über ihre Gesichter.
Jane warf Caspar einen ängstlichen Blick zu, den er ebenso besorgt erwiderte.
„Was sagt ihr auf Altgriechisch, wenn ihr einen Mediziner braucht?“, fragte Lydia.
„Ähh“, sagte Caspar.
„Riii … rüüüü … ryo-mai?“, riet Jane und kaute auf dem Wort wie auf einem zähen Stück Fleisch.
„Iiiiiaaaahhhtrooos?“, fragte Caspar gedehnt.
„Das könnte euch vielleicht retten“, meinte Lydia mit zweifelnden Unterton: „Wie warnt ihr die Menschen auf Chinesisch vor einer Tinea oder einer Blatta?“
„Äh“, machte Jane und sah Caspar an.
„Äh“, machte er und sah seinerseits Jane an: „Ching, chang, chong?“
„Ist das dein Ernst?“, zischte Lydia mit gefährlich schmalen Augen.
„Su mi ma sen?“, fragte Jane.
„Jetzt hast du dich auf Japanisch entschuldigt!“, Lydia drehte die Augen zum Himmel und seufzte aus tiefstem Herzen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Sag mal, Cas?“
Caspar reagierte nicht sofort. Ihm tat alles weh. Er überlegte, ob er den schmalen Streifen Licht, der durch die geöffnete Tür in sein Zimmer fiel, ignorieren sollte und sich besser schlafen stellte. Dann setzte er sich doch auf: „Ja?“
Jane stand in der Tür: „Gibt es wirklich Orte, die sich bewegen könne?“
Caspar zog die Stirn in Falten. Er war zu müde, um zu erraten, was Jane damit meinte. Sie kam einen Schritt in sein kleines Zimmer hinein: „Dakuri sagte … Kuuhtschen oder so.“
„Kutschen!“, Caspar seufzte, „Ja, die gab es. Gibt es. Wird es geben. Naja, irgendwie sowas.“
Janes Augen leuchteten auf: „Wie funktioniert das?“
„Zu deiner Zeit gab es doch schon Räder, oder?“, meinte Caspar und rieb sich die vor Müdigkeit schmerzenden Schläfen: „Die Räder bewegen sich und rollen, ja? Und jetzt kann man in die Mitte des Rades ein Loch machen und eine Stange da rein hängen. Wenn man zwei Stangen mit jeweils zwei Rädern hat, kann man die Stangen verbinden, zum Beispiel mit einem Balken. Und der Balken bleibt dann gerade, wenn sich die Räder bewegen. Danach kann man auf den Balken alles mögliche drauf bauen, solange das nicht zu schwer für die Räder wird.“
„Auch ein Haus?“, fragte Jane.
„Vielleicht nicht sowas großes wie dieses Hotel“, meinte Caspar: „Aber es gab in meiner Zeit Wohnmobile. Das war eine Wohnung auf Rädern, ja.“
Jane stand der Mund offen. Caspar lächelte schwach: „Ziemlich cool, was?“
„Ku – kuhl?“
„Ja, das – das sagt man halt einfach so.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Caspar! Sag mal, schläfst du?“
„Nein, Dakuri!“, rief Caspar, der eiligst aus seinem Nickerchen hoch fuhr. Der alte Mann stand direkt vor ihm.
„Das ist jetzt schon das fünfte Mal! Man könnte meinen, die Entwicklung der Religionen interessiert dich nicht!“
„Ich, ähm, doch, natürlich!“, sagte Caspar und unterdrückte mühsam ein Gähnen.
Dakuri hob eine dunkle Augenbraue: „Dann kannst du uns sicher die fünf Gründe nennen, warum Menschen dazu tendieren, an höhere Mächte zu glauben.“
Caspar schluckte. Fünf Gründe? Ihm fiel nicht einer ein.
Hinter Dakuris Rücken machte Jane eine Bewegung. Sie hielt sich die Ohren zu. Caspar brauchte nicht lange, um die Geste zu erkennen. Beim ersten Gewitter, dass sie erlebt hatten, hatte Jan genau das getan.
„Ähm, Angst vor … vor Naturereignissen“, begann er. Dakuri hob einen Finger.
Jane fasse sich mit beiden Händen an die Kehle, verdrehte die Augen und streckte die Zunge aus dem Mundwinkel.
„Angst vor dem Tod und dem Unerklärlichen daran“, fuhr Caspar fort. Dakuri hob ziemlich erstaunt den nächsten Finger.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Was ist das?“
Janes breites Gesicht tauchte hinter den Karten auf, die Caspar vor sich aufgefächert hielt. Sie war kein schöner Anblick, und einen Moment erwog er, sie fortzuschicken, um seine wenige Freizeit ohne ihren ständigen Schatten genießen zu können. Dann seufzte er und drehte die Karten um.
„Das ist ein Kartenset. Guck, hier oben in der Ecke steht eine Zahl.“
„Arabische Zahl“, sagte Jane und strich mit den dicken Wurstfingern darüber.
„Ja, und dann gibt es noch vier Farben.“
„Ich sehe rot und schwarz“, sagte das Mädchen verwirrt und Caspar erklärte ihr, dass die Farben Piek, Karo, Herz und Kreuz waren.
„Jede Karte gibt es nur ein Mal“, sagte er und verteilte die Karten nach Farbe und Zahl auf dem Tisch.
„Was ist mit der hier?“
„Das ist ein König. Es gibt vier Könige, vier Damen und -“
„Da fehlen ja ganz viele Karten!“
„Nein, Jane. Es gibt nicht alle Zahlen, nur sieben, acht, -“
„Warum?“
Caspar seufzte: „Ich habe keine Ahnung.“
„Sollten wir Dakuri danach fragen?“
„Besser nicht“, meinte er, „Der fragt das sicherlich irgendwann ab.“
Jane überlegte und nickte: „Du hast recht.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Und dann standen wir da, Pompeii versank in den Aschemassen. Wir konnten die Kohle in der Luft schmecken.“
Caspar schmeckte ebenfalls Kohle, denn sie hatten den Kamin in dem Aufenthaltsraum ihres Unterschlupfes angezündet, während Liam von den Abenteuern der Papilionis erzählte.
„Habt ihr Pompeii nicht gerettet?“, fragte Jane, als Caspars Vater eine kurze Pause machte.
Er schüttelte traurig den Kopf: „Wir durften nicht. Kurz zuvor ist die Katastrophe passiert und wir haben nicht einmal gewagt, jemanden zu warnen.“
Sehr häufig hatten die Erwachsenen nun die „Katastrophe“ erwähnt. Caspar regte sich unruhig: „Was für eine Katastrophe, Papa? Was ist passiert?“
Liam schüttelte den Kopf: „Das muss Lydia euch erzählen, wenn sie bereit ist, darüber zu sprechen. Drängt sie bitte nicht, Kinder. Also, wie gesagt, vor uns ging Pompeii unter und wir sahen zu. Es war schrecklich und atemberaubend. Im letzten Moment zog Dakuri uns in den Strom der Zeit, denn wir waren so gefesselt von dem Anblick, dass wir nicht reagieren konnten. Wenn ihr unterwegs seid, sollte wenigstens einer von euch einen kühlen Kopf bewahren, statt in der Betrachtung der Landschaft zu versinken.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Caspar humpelte durch die düsten Gänge, als er seinen Vater an einem der Fenster bemerkte. Liam verbarg sich hinter den staubigen Vorhängen.
„Paps?“
„Psst“, Liam legte einen Finger auf die Lippen und winkte Caspar zu sich. Als er neben seinem Vater stand, legte der ihm eine Hand auf die Schulter und ließ ihn vorsichtig aus dem Fenster spähen.
Caspar sah durch die Scheibe und entdeckte einen Vogel, der auf dem Fensterbrett saß. Es war ein kleiner, bunter Vogel.
„Deine Mutter hat sie immer gemocht“, sagte Liam mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen. Caspar sah zu seinem Vater auf. Der strenge Mann schien ihm wie verändert.
„M-meine Mutter?“, Caspars Hals war plötzlich ganz trocken.
Liam nickte, den Schatten alter Schmerzen auf dem Gesicht: „Sie liebte alle Tiere. Aber Meisen besonders.“
Der Vogel hörte ein Geräusch und flog davon. Caspar und Liam sahen ihm hinterher.
„Wenn ich nicht bei ihr geblieben wäre, würde sie noch leben“, sagte Liam leise. Caspar konnte nicht antworten. Glitzerten da Tränen in den Augen seines Vaters? Es war so ungewohnt, dass Liam irgendetwas über seine Gefühle verriet.
Schnell war der Augenblick vergangen. Liam lächelte gekünstelt: „Nun, ich habe immer noch meinen Lieblingssohn.“
„Ich bin ja auch dein einziger Sohn“, sagte Caspar und ging auf den halbherzigen Scherz ein.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Unser Thema heute: Der Zeitkern.“
„Der Zeitkern?“, wiederholte Caspar die Ankündigung seines Vaters. Eine Woche war seit dem Ereignis mit der Meise vergangen, und Liam war wieder nur ein Lehrer und kein Vater mehr. Trotzdem fühlte sich Caspar in der Nähe des großen Mannes ein wenig sicherer als zuvor.
„Der Zeitkern. Das war das, was den Alarm ausgelöst hat, bevor wir euch zu eurem ersten Einsatz mitgenommen haben.“
Caspar schluckte, als unangenehme Erinnerungen wieder hoch kamen.
„Wir wissen nicht genau, was es ist. Ein schwarzer Kasten, könnte Stein oder Metall sein, etwas technisches oder etwas natürliches“, erklärte Liam: „Juriko und Carla haben ihn gefunden. Er ist irgendwie mit dem Zeitstrom verbunden und gibt den Alarm ab, wann immer die Zeitleiste in Gefahr ist.“
„Wo ist er jetzt?“, fragte Caspar. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie den Zeitkern mitgenommen hatten.“
„Der Kern wird uns finden, wenn wir ihn brauchen“, versprach Liam: „Er ist selbst eine Art Papilionis. Daria schwört, dass er lebendig ist und hat ihn November getauft. So oder so, dieser Kasten folgt uns durch die Zeiten, auch nach einer … Katastrophe.“
Caspar seufzte. Da war sie schon wieder. Die Katastrophe.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Nein! Ich will nicht!“
Janes Schrei hallte durch die leeren Gänge. Caspar hörte auch Darias unterdrücktes Fluchen: „Es ist nur ein bisschen Wasser, ehrlich, Jane!“
„Es ist heiß! Es brennt! Au, meine Haare!“
„Stell dich nicht so an, ertönte Lydias Knurren durch die geschlossene Tür von Janes Zimmer. Caspar, sein Vater und Dakuri standen auf dem Gang, noch erschöpft von der Jagd, die sie nach Jane hatten veranstalten müssen, als das Mädchen gehört hatte, dass man sie wachsen wollte. Die zwei Männer hatten mitleidige Mienen für Daria und Lydia aufgesetzt.
„Iiiiihh!“, quiekte Jane.
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Augen zu machen“, schimpfte Daria.
„Ich bin blind! Aua, das brennt! Au, au, au!“
Als Jane endlich aus dem Bad kam, sah sie nicht viel anders aus als zuvor. Die Fingernägel waren jetzt sauber, aber immer noch schief und rissig, die Haare waren trotz der Anstrengungen der Bürste eine wilde Masse, obwohl Caspar das Gefühl hatte, ihr Farbton wäre ein wenig heller geworden. Auf Janes Gesicht hatten sich Flecken von hartnäckigem Schmutz gehalten, aber wenigstens roch sie jetzt nach Seife.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Caspar! Was tust du nur?“, fragte Lydia und rang die Hände. Caspar rollte stöhnend über den Boden und hielt sich den Magen.
„Das reicht jetzt aber!“, meinte Jane laut und hob ihren eigenen Stock. Die wenigen Trainingsstunden, die sie gemeinsam hatten, waren für Caspar noch schlimmer, weil er sah, wie viel besser Jane war. Er konnte seine Waffen mit der verkrüppelten Linken kaum halten, hatte kein Gleichgewicht und erst recht nicht Janes verbissenen Kampfgeist. Er würde am Liebsten auf dem Boden liegen bleiben, obwohl sich der Herbst bereits ankündigte und die Steine kalt waren.
„Ja?“, fragte Lydia spöttisch an Jane gewandt: „Und wie soll er sich im Kampf verteidigen?“
„Ich bin ja auch noch da!“, fauchte Jane und stürzte sich mit ihrer Waffe auf Lydia. Caspar konnte nur mit offenem Mund zusehen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Ich habe heute Menschen gesehen“, verkündete Dakuri beim Frühstück unvermittelt: „Sie waren ganz in der Nähe.“
„Und was willst du damit sagen?“, fragte Lydia in gereiztem Ton.
„Wir sind zu lange hier“, erklärte Dakuri mit sanfter Stimme: „Die Tinea könnten uns finden. Oder Blatta.“
„Ihr sollt also weiter ziehen“, sagte Lydia mit eisiger Stimme: „Vielleicht weit in die Vergangenheit? Und noch mehr ändern?“ Sie schob ihren Teller mit einer schwungvollen Geste von sich weg. Caspar und Jane wechselten nervöse Blicke und zogen die Köpfe ein. Die Streiterei ging schon wieder los!
„Wir können auch in die Zukunft“, warf Liam hier: „Oder nur ein Stückchen weit reisen.“
„Klar, wir setzen unsere Kräfte ein und machen die Motten auch noch auf uns aufmerksam“, höhnte Daria.
„Es ist alles riskant“, versuchte Dakuri, zu schlichten.
Jane verschwand geschickt unter dem Tisch. Nach kurzem Zögern folgte Caspar ihr etwas weniger elegant. Die Erwachsenen bemerkten nicht, wie sich die jüngsten der Papilionis davon schlichen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Die Entdeckung der Radioaktivität machte den Weg frei für welche Erfindungen? Ja, Caspar?“
„Röntgenstrahlen in der Medizin, Altersbestimmung in der Archäologie, Energiegewinnung und leider auch Atombomben.“
„Sehr gut“, sagte Dakuri mit einem leisen Lächeln. Caspar strahlte selbst wie ein Radiumion vor Stolz.
„Und Jane – warum führen die Menschen Kriege?“
„Ähm. Rache“, sagte sie und blicke hilfesuchend zu Caspar. Er legte unauffällig, da Dakuri ihm nicht den Rücken zudrehte, eine Hand auf ihr Blatt mit den unordentlichen Notizen und zog es zu sich herüber, um dann ganz schwach eine Raubtierhaltung einzunehmen, als würde er sich über seine Beute beugen.
„Um – um äh Sachen zu erhalten“, stammelte Jane weiter. Caspar kratzte sich an der Nase und deutete dabei unauffällig auf die Landkarte, die statt einer Tafel an der Wand des Hotelzimmers hing, das sie zum Schulraum umgewandelt hatten.
„Land“, sagte Jane: „Und … und Macht.“
„Weitere Kriegsgründe?“, hakte Dakuri nach.
Caspar malte ein dickes Kreuz auf sein Blatt, dann einen sechseckigen Stern und noch einen Halbmond.
„Religion ...“ sagte Jane: „Um ihren Glauben zu verteidigen.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Caspar fluchte, als ihm die Karten schon wieder aus den Händen fielen. Er schlug mit der verkrüppelten Linken auf den Tisch vor sich.
„Verdammtes, nutzloses Ding!“, schrie er seine Handfläche an.
Seit Monaten versuchte er, einen einfachen Kartentrick zu lernen, doch die steifen und fast gefühllosen Finger der linken Hand vereitelten ihm jeden einzigen Versuch.
Jane, die ihm gegenüber saß, fing seine Hand ab, bevor er sie wieder auf den Tisch schlagen konnte.
„So solltest du nicht reden“, belehrte sie ihn.
„Es ist doch wahr! Was nützt mir sowas?“, fragte Caspar und hielt ihr die Hand vor das Vollmondgesicht.
„Du magst deinen Körper nicht“, stellte Jane fest.
„Nein“, fauchte Caspar: „Ich hasse ihn!“
Er wäre am liebsten als ein normaler Junge geboren worden.
„In meinem Zuhause wärst du ein Tyrn“, erklärte Jane ihm.
„Was ist ein Tyrn?“, fragte Caspar.
„Das sind die, die so wie du sind. Die entweder am Körper oder im Kopf kaputt sind“, sagte Jane. Bevor Caspar sich aufregen konnte, sprach sie schon weiter: „Sie sind … wie Medizinmänner. Die mit dem kaputten Kopf können mit den Geistern reden, und die mit dem kaputten Körper sind Berater vom Häuptling, weil ja ihr Kopf besser funktioniert, wenn der Körper kaputt ist. Sie sind … große Männer. Sie kriegen Geschenke und große Hütten und alles.“
Das Mädchen suchte sichtlich nach Worten: „Es ist eine Ehre, ein Tyrn zu sein!“
Caspar starrte sie nur an: „Glaubst du das echt?“
Jane nickte eifrig: „Ja. Du bist viel schlauer als ich. Dafür bin ich stark. Ich bin eine Kriegerin und muss den Tyrn beschützen, aber der Tyrn entscheidet und denkt nach und so.“
„Ein Tyrn“, wiederholte Caspar nachdenklich und sprach eine ganze Weile nicht mehr, während Jane die Karten nach Farben und Formen sortierte und ihre Lieblingsköniginnen heraus legte.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Wir müssen wirklich aufbrechen!“, sprach Liam das Thema an, über das die Erwachsenen nun schon so lange sprachen. Caspar und Jane warfen sich wieder Blicke zu. Sie waren bald ein halbes Jahr in dem verlassenen Hotel, und bisher war es niemals zu einer Einigung gekommen. Obwohl die Erwachsenen sonst sehr gut zusammen hielten, waren sie in diese Frage hoffnungslos zerstritten.
Bei diesem Frühstück war es noch schlimmer.
„Wir sind viel zu lange hier“, sagte Liam mit fester Stimme: „Morgen müssen wir gehen. Sonst riskieren wir einen Angriff!“
Lydia sprang auf und knallte die Fäuste auf den Tisch. Es war erschreckend, wie viel Kraft in der zierlichen Frau stecken konnte.
„Ich reise nicht mehr!“, fuhr sie die Versammelten laut an, aber ihre Stimme zitterte von mühsam unterdrückten Tränen: „Wir bleiben hier, bis es keinen anderen Weg mehr gibt, aber wir reisen nicht!“
Ihre Stimme steigerte sich zu einem Schrei, und dann rannte sie mit wehenden, spinnwebenweißen Haaren aus dem Zimmer.
Mit einem Seufzen ließ sich Liam in den Stuhl zurück fallen, der sich ebenfalls ein Stück erhoben hatte, und legte die Finger an die Schläfe: „Die ist so halsstarrig! Sollen wir hier warten, bis wir umzingelt sind?“
Daria legte eine Hand auf Liams: „Wir müssen Geduld mit ihr haben.“
„Wir haben schon viel zu lange Geduld!“, Liams Stimme wurde wieder lauter: „Das bringt uns noch um!“
Den beiden Erwachsenen fiel Dakuris Schweigen auf.
„Sag du etwas!“, zischte Liam wütend.
„Zeitreisen sind gefährlich“, sagte Dakuri bedächtig: „Es ist beides ein Risiko. Reisen genauso wie bleiben.“
„Das ist nicht hilfreich!“, tobte Liam.
Caspar stand leise auf und humpelte aus dem Raum. Er hörte, wie Jane ihm folgte.