Mareike hastete durch vier Wagen, bis sie endlich ein leeres Abteil in der zweiten Klasse fand. Nachdem sie ihren Koffer und die Tasche mit den Vorräten verstaut hatte, setzte sie sich auf einen Platz am Fenster, lehnte ihren Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Die Musik aus den Kopfhörern ihres Smartphones vermischte sich mit dem Rattern der Räder.
Die wenigen Tage daheim bei den Eltern waren viel zu schnell vergangen.
In Frankfurt bewohnte sie ein möbliertes Zimmer, das sie einem Krankenhauspriester verdankte, dem sie von ihrer Wohnungssuche berichtet hatte. Die Eigentümerin, eine kauzige ältere Dame, wohnte im Obergeschoss. Früher hatte sie eine kleine Pension geführt. Heute waren die Zimmer an Dauermieter vergeben.
Bei der nächsten Station füllte sich der Zug. Ein alter Mann setzte sich schnaufend neben sie.
»Fährst du nach Frankfurt?«
Mareike nickte.
»Ich besuche meinen Sohn. Er ist im Gefängnis. In Preungesheim.«
Mareike sank im Sitz zusammen. Warum zog sie ständig problembeladene Menschen an?
»Kennst du Preungesheim?«
Sie schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Der Alte redete unbeirrt weiter. »Er hat Pech gehabt. Er ist ein guter Junge. Aber diese Schlampe ...«
Er musterte Mareike. Sein forschender Blick war ihr unangenehm. Ihr wurde kalt, trotz Mantel und Wollmütze.
»Bist du verheiratet?«
Mareike biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Wo arbeitest du?«
Der Greis fixierte sie mit tiefliegenden kleinen Augen. Sein Gesicht bestand fast nur aus Falten.
»Ich bin Krankenschwester.«
Sie wandte ihren Blick ab und schaute auf die vorüberziehende Landschaft.
»Mein Sohn. Ich habe ihn gewarnt!«, nahm ihr Sitznachbar seinen Faden wieder auf, »Schlangen, widerliche unzüchtige Schlangen. Gott wird sie alle strafen«, zischte er und es schien ihn nicht zu interessieren, ob Mareike zuhörte oder nicht.
Quietschend öffnete sich die Abteiltür. Ein im Gotik-Stil geschminktes Paar trat ein. Das Mädchen setzte sich auf den Schoß des Jungen, kuschelte sich an ihn.
Die Missbilligung, mit der der Alte die beiden anstarrte, war fast körperlich greifbar. Mareike fühlte sich so unbehaglich, dass sie eine Station zu früh ausstieg.
In der Straßenbahn bemerkte sie, dass sie die Tasche mit den Leckereien im Zug vergessen hatte. Sie verzog genervt das Gesicht, bei der Vorstellung, dass der Alte die Süßigkeiten seinem Sprössling ins Gefängnis bringen könnte. Noch dazu musste sie zweimal umsteigen, bis sie endlich ihr Zuhause erreichte.
Morgen war Halloween. Viele Häuser waren geschmückt. Mareike lief an grinsenden Kürbissen und gruselig beleuchteten Hexen vorbei. Das Haus, in dem sie lebte, war als Einziges in der Straße dunkel.
Neben dem Eingang lehnte ein weißes Holzkreuz, auf dem ein Spruch in altdeutscher Schrift geschrieben stand. Die Tür öffnete sich, bevor sie ihn entziffern konnte. Vor ihr stand ein junger Mann. »Kann ich helfen?« Er war etwas größer als sie. Sein blondes Haar wirkte leicht verstrubbelt, sein Gesicht war gebräunt, der Körper athletisch. Zu einer dunklen Jeans trug er ein weißes Hemd.
»Ich heiße Mareike Stein und wohne hier«, erwiderte sie, während sie den Flur betrat.
»Fein, dann sind wir Nachbarn«, freute er sich und rechte ihr die Hand. »Ich bin Jan Breuer.« Blaue Augen musterten sie freundlich.
»Können wir weitermachen?«
Eine griesgrämige Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Rasch zog sie ihre Hand zurück, die Jan noch immer hielt, und begrüßte Frau Grund, die aus der Wohnküche lugte. Die Mitbewohnerin, die das Zimmer am Ende des Ganges bewohnte, nickte knapp zurück. Jan zwinkerte Mareike zu, bevor er sich in der Wohnküche neben die Grund setzte, um mit ihr ein Formular auszufüllen.
Mareike schloss die Tür ihres Zimmers. Ihr Herz klopfte. Wer war der junge Mann? In welchem Zimmer wohnte er? Alle vier Räume dieser Wohnung waren vermietet. Außer Karin Grund gab es noch einen älterer Mann, der selten zuhause war, und neben ihrem Zimmer logierte eine alleinerziehende Mutter. Vielleicht war er der Vater des Kindes? Frau Döring lebte mit ihrem Baby sehr zurückgezogen. Ab und an waren sie sich in der Küche begegnet. Einmal, als sie sich das Baby anschauen wollte, hatte die Mutter den Kinderwagen wortlos in ihr Zimmer gefahren und die Tür zugeschlagen. Seitdem ging sie der Frau aus dem Weg.
Sie zog sich um, bevor sie in die Küche ging, um sich einen Tee zu kochen. Der junge Mann saß jetzt allein auf der Eckbank und las in einer Zeitung. Frau Grund schien sich zurückgezogen zu haben.
»Ist Herr Schneider ausgezogen?«, fragte sie.
»Herr Schneider? Nein. Ich wohne in dem Zimmer direkt neben dem Eingang.«
»Oh, dann sind Sie der Vater?« Sie hoffte, dass er ihrer Stimme die Enttäuschung nicht anmerkte.
»Nein, ich habe noch keine Kinder. Ich lebe allein.« Er lächelte. In ihrem Bauch tummelten sich Schmetterlinge.
»Dann ist Frau Döring ausgezogen.«
»Frau Döring?«
»Sie wohnte mit ihrem Baby in diesem Zimmer.«
»Ich habe das Zimmer vor fünf Tagen gemietet. Die Vormieter kenne ich nicht.«
»Hier gab es kein Baby!«, mischte sich Frau Grund ein, die mit einem Ordner die Küche betrat. »Niemals. Das Zimmer stand schon ewig leer. Herr Schneider kann das bezeugen.« Ihre stechenden Augen fixierten Mareike.
»Also bitte, ich kannte Frau Döring und habe vor zwei Wochen noch mit ihr gesprochen.«
»Vielleicht war einmal eine Besucherin da, obwohl es, wie Sie wissen, verboten ist. Gewohnt hat in diesem Zimmer niemand!«, belehrte Karin Grund sie. Jan zuckte nur mit den Schultern und schaute Mareike hilflos lächelnd an. Sie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
Sie schluckte eine Erwiderung hinunter, nickte ihrem neuen Nachbarn zu und verzog sich mit ihrer Teekanne in ihr Zimmer. Als sie später durch den Flur zum Bad ging, drang dumpfes Gemurmel durch die jetzt verschlossene Küchentür. Noch im Bett überlegte sie, wieso Frau Grund die junge Mutter verleugnete. Die beiden schienen engen Kontakt gehabt zu haben. War die junge Frau illegal hier gewesen?
In dieser Nacht träumte sie von Jan. Seine Hände streichelten zärtlich über ihren Körper, warme Lippen berührten sanft die ihren, als sie ein Weinen aufschreckte. Sie war allein im Zimmer. Schlaftrunken schaute sie auf ihren Wecker. Vier Uhr morgens. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Nichts, kein Ton. Sie wälzte sich auf die andere Seite und gab sich wieder ihren Gedanken an den neuen Mitbewohner hin.
Als was er wohl arbeitete? Er war sportlich salopp gekleidet. Wie ein Vertreter wirkte er nicht. Ob sie ihn morgen wiedersehen würde?
Bizarre Schatten bewegten sich an die Wand. Ein kalter Lufthauch traf ihr Bein. Sie hielt die Luft an, dann zwang sie sich aufzustehen. Die Schatten an der Wand, nur Mondlicht und die im Wind bewegten Äste der alten Buche. Die kühle Luft zog durch das undichte Fenster. Es war schon fast halb fünf. Keine Zeit, um sich noch einmal hinzulegen, wenn sie pünktlich bei der Arbeit sein wollte.
Sie zog den Morgenmantel über und tappte ins Bad. Duschen um diese Uhrzeit war verboten, denn Frau Grund hatte einen leichten Schlaf. Sie wusch sich flink mit dem Waschlappen, putzte die Zähne und huschte zurück in ihr Zimmer.
Heute Abend war Halloween. Sie zog sich rasch an und langte nach ihrem Schminktäschchen. Mit flinken Strichen malte sie ein Spinnennetz auf ihre Wange. In der Küche rumorte es. Mareike lauschte, denn Frau Grund stand nie vor 8 Uhr auf.
Jan? Sie atmete tief durch, kontrollierte ihr Gesicht, haderte kurz mit sich und wischte das Spinnennetz wieder weg. Stattdessen legte sie ein dezentes Make-up auf, nahm die Handtasche und verließ ihr Zimmer.
Er stand am Herd, lächelte sie an. »Guten Morgen. Möchten Sie einen Tee?«
Mareike schaute auf die Uhr. »Oja, sehr gern.«
Er reichte ihr eine Tasse. »Sie stehen früh auf.«
»Ich arbeite im Krankenhaus.«
Er lächelte. »Dann wünsche ich Ihnen einen ruhigen Dienst.«
»Danke.« Sie stürzte den Tee herunter und hastete zur Straßenbahn. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst. Normalerweise war sie nicht so auf den Mund gefallen. Gestern Abend und heute, was musste er für ein Bild von ihr haben?
Auf Station zog sie sich rasch um. Die Kollegen saßen im Dienstzimmer. »Wir müssen eine Kraft an Station 13 abgeben.« Die Oberschwester blickte suchend umher.
Ihr Blick fiel auf Mareike. »Du warst im Urlaub und kennst die neuen Patienten noch nicht, ich denke, es wird am besten sein, wenn du es übernimmst.«
Das Aufatmen ihrer Kollegen war deutlich zu hören.
»Jetzt gleich?«
»Am besten, ja. Weißt du, wo die Station ist?«
Mareike schüttelte den Kopf.
»Sie ist im Altbau. Erster Stock.«
Mareike erhob sich. Die Leiterin hielt sie zurück. »Du kannst mit uns noch eine Tasse Kaffee trinken, die Stückchen hat die Schülerin mitgebracht.«
Mareike setzte sich und nahm einen Muffin. Er war mit orangefarbenem Zuckerguss und einem Spinnennetz verziert. Er schmeckte fast noch süßer, als er aussah. Sie trank noch einen Kaffee mit den Kolleginnen, bevor sie sich verabschiedete.
Um zu der anderen Station zu gelangen, musste sie den Park durchqueren. Auf Station 13 empfing sie als erstes eine Geruchsmischung aus Urin, abgestandenem Rauch und scharfen Desinfektionsmitteln.
Im verqualmten Stationszimmer saßen ein älterer Krankenpfleger und eine Pflegehelferin beim Kaffee. Mareike wusste, dass es im Haus verboten war, zu rauchen. Der Pfleger sah jedoch nicht so aus, dass sie den Wunsch verspürte, ihn daran zu erinnern: Die dünnen grauen Haare trug er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Hosen waren grau, wie sein Muskelshirt, die Arme bis zu den Händen tätowiert. Die Helferin trug den blauen Kittel, der sie als Hilfskraft auszeichnete, offen über einen enganliegenden Wollpullover. Die blonden Haare türmten sich zu einer Hochfrisur. Ihr roter Lippenstift war verwischt. »Bist du die Aushilfsmaus?«
»Ich bin Schwester Mareike!«, antwortete sie.
Der Mann musterte sie. »Ziemlich jung. Schülerin?«
»Nein, ich bin examiniert. Arbeite schon seit fünf Monaten hier.«
Sie schaute sich um. Das Stationszimmer wirkte altmodisch, als sei die Zeit stehen geblieben.
»Ich bin Horst, das ist Ludmilla.« Horst stand auf. Er war mindestens einen Kopf größer als sie. »Dann wollen wir mal. Ihr zwei Mädchen macht die Betten, ich verteile die Medikamente.«
»Was muss ich über die Patienten wissen?«
»Ludmilla weiß alles.«
Der rostige Bettenwagen quietschte, wenn man ihn bewegte.
Viele Patienten waren bettlägerig, fast jeder hatte einen Katheter.
Nach drei Stunden war Mareike kaputt. Ludmilla verabschiedete sich in die Raucherpause und Mareike nahm sich in der Küche ein Glas Wasser. Eine Hand legte sich plötzlich auf ihre Schulter und ließ sie zusammenzucken. Horst. Sie wich einen Schritt zurück, er lachte. »Habe ich dich erschreckt?« Sein Blick wanderte an ihr herab.
»Komm mit ins Bad.«
Irritiert über seine Aufforderung, blieb sie stehen.
»Keine Angst, du sollst nur helfen, einen Patienten umzubetten.«
Der Patient lag auf einem verdreckten Laken und bewegte sich nicht. Seine starr aufgerissen Augen blickten aus einem verzerrten Gesicht ins Leere. Tote sehen meist friedlich aus, weil die Muskulatur erschlafft. Hier erblickte sie das Gegenteil.
»Der muss in die Pathologie runter.« Horst nahm eine zerknautschte Zigarette aus der Tasche seines Kittels und steckte sie hinter sein Ohr.
»War der Arzt schon da?«
»Ja, gestern Abend. Die Nachtwache hat ihn hier gelagert, sie hat es nicht geschafft, ihn fertigzumachen. Zuerst sind die Lebenden dran. Wir legen den jetzt auf ein frisch bezogenes Bett, dann kannst du ihn waschen, anziehen und runter fahren. Mit dem Rest werden wir hier allein fertig.«
Der Mann war schwer. Es gelang Mareike nicht, ihn zu drehen. Horst beobachtete sie grinsend, dann gab er ihr ein Laken und drehte den Toten. Ihr schoss das Blut in den Kopf, während sie das frische Betttuch unterschob. Der Pfleger drehte ihn genauso leicht zur anderen Seite, so dass sie den Rest des Lakens herausziehen konnte. Sie schoben das neue Bett an das andere und betteten die Leiche mit Hilfe eines Lifters um.
»Zieh ihm, wenn du fertig bist, das Hemd, das auf dem Stuhl liegt, über. Ich geh erst mal eine rauchen.«
Mareike wischte sich über die Stirn und wechselte die Handschuhe. In Gedanken versunken bereitete sie lauwarmes Wasser vor. Die Augen des Toten schienen sie bei ihren Handgriffen zu verfolgen. Den versifften Schlafanzug schnitt sie nach kurzem Überlegen auf und warf ihn in den Müll, bevor sie den starren Leichnam vorsichtig reinigte. Das frische Hemd anzuziehen erwies sich als schwierig. Die Nachtschwester hätte ihm wenigstens die Augen schließen und das Kinn hochbinden können, ärgerte sie sich, denn die Leichenstarre hatte schon vor Stunden eingesetzt. Sie dankte im Geheimen ihrer Ausbilderin, die ihr eingeschärft hatte, immer genügend Handschuhe, eine Schere und mindestens eine Mullbinde in der Kitteltasche zu haben.
Da sie keine Kompressen fand, schnitt sie zwei kleine Stücke der Mullbinde ab, feuchtete diese an, und legte sie über die offenen Augen. Der aufgerissene Mund ließ sich nicht mehr schließen.
»Fertig?« Horst schlug die Tür hinter sich zu. »Auf geht's.«
Er rollte den Leichnam zur Seite, damit sie die Unterlage entfernen konnte. Die Hände kreuzte er auf dem mächtigen Bauch. Zum Schluss klebte er noch ein Namensschild auf einen blaufleckigen Fuß, bevor er ein frisches Laken über den Mann breitete. Unter dem Tuch zuckte es. Mareike hielt die Luft an, dann zwang sie sich nachzusehen. Die Hand war heruntergerutscht.
»Heute ist Halloween, vielleicht kommt er zurück«, grinste Horst. »Hast du Angst vor einer Leiche?«, er sah sie lauernd an. »Die tun nichts mehr. Der hier hat in seinem Leben zwei Frauen umgebracht und jetzt ist er selber nur noch kaltes Fleisch.« Er schlug das Laken zur Seite. Waren die Finger so gekrümmt gewesen? Mareike starrte auf die weißgraue Hand. Horst lachte.
»Nicht so ängstlich, der ist jetzt ganz friedlich.« Er kniff in die leblose Pranke und klatschte sie zurück auf den Bauch, bevor er das Laken wieder über den Toten legte.
»Für heute brauche ich dich nicht mehr. Auf dem Rückweg kannst du den Genossen hier in der Pathologie vorbeibringen. Untergeschoss rechts.«
»Allein?«
»Schiebt ihr bei euch Betten zu zweit? Ich helf dir, ihn in den Aufzug zu bringen. Den Rest schaffst du.«
Er schob das Bett durch den Flur und schloss hinter ihr die Tür. Auf die Idee, sich zu bedanken, kam er nicht. Der Aufzug ruckelte nach unten. Mareike biss sich nervös auf die Lippen. Bis jetzt war sie nur einmal im Untergeschoss gewesen. Der Keller war ihr unheimlich.
Der Weg zur Pathologie war ausgeschildert. Das Laken bewegte sich, sie blieb stehen und schlug es zurück. Die Kompresse auf dem rechten Auge war verrutscht, der Tote starrte sie an. Keine Handschuhe mehr. Egal sollten sich die Pathologen drum kümmern, sie zog das Laken wieder über den Kopf. Als sich die Tür öffnete, sah sie sich ihrem neuen Nachbarn gegenüber.
Er war genauso überrascht wie sie. Der weiße Kittel stand ihm gut. »Ich wusste gar nicht, dass Sie hier arbeiten.« Sie biss sich auf die Lippen. Was für einen Stuss redete sie bloß? Er lächelte. »Meine erste Stelle. Ich bin Pathologe.«
Mareike half ihm, den Toten in einen Untersuchungsraum zu schieben. »Dieser Mann hat seinen Körper der Forschung vermacht«, erklärte Jan. Er setzte an, das Tuch zurückzuziehen, entschied sich nach einem Blick auf Mareike aber dagegen. »Ich glaube, ich werde erst einmal Pause machen. Haben Sie schon Mittag gegessen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Begleiten Sie mich, wir haben hier ein ganz nettes Büro. Keine Angst, niemand wird uns stören, meine Kunden sind friedlich.«
Klar dachte sie, die sind ja tot.
Das Büro war gemütlich warm. Auf einem Tisch flackerte eine Kerze. An der Wand hing ein Kreuz. Auf dem Schreibtisch lag eine Bibel neben mehreren Akten. Jan nahm zwei Tassen aus einem Schrank. »Mögen sie Grüntee?«
Aus dem Kühlschrank zauberte er eine Brötchenplatte. »Was möchten Sie? Salami mit Tomate oder Schinken-Käse? Für mich ist das sowieso zu viel.«
Sie leckte über ihre Lippen. Hatte er das so appetitlich zurechtgemacht?
»Frau Grund bereitet mir jeden Morgen einen Imbiss vor. Es ist immer viel zu viel, für einen allein. Sie wird sich freuen, wenn sie hört, dass es Ihnen auch gemundet hat.«
Mareike verlor schlagartig ihren Appetit. Von dieser Frau wollte sie sicher nichts essen. »Oh, nein danke, nur einen Tee bitte.«
Als er ihr die Tasse reichte, berührten sich ihre Hände. Ihr wurde heiß. Ihm schien es ähnlich zu gehen, wenn sie seinen Blick richtig deutete. Verlegen drehte sie sich weg. Ihr Blick blieb an der Bibel hängen. »Die ist schon ziemlich alt?« Sie fuhr mit der Hand über den Einband. Dunkles Leder, bedruckt mit goldenen Buchstaben.
»Ein Erbstück. Sie gehörte schon meinen Urgroßeltern. Unsere Vermieterin Frau Eulenburg erzählte mir, dass Sie Katholikin sind.«
Oh mein Gott, was hat die wohl noch erzählt. Mareike wurde rot. Dem Papier nach war sie Katholikin. Ihr letzter Kirchenbesuch lag ewig zurück. Wie kam die Eulenburg nur darauf? Ihr fiel der Priester ein, der ihr das Zimmer vermittelt hatte. Was wäre, wenn sie Jan gestand, dass ihr Religion nicht viel bedeutete?
Er schlug das Buch auf. »Ich lese jeden Tag in der Bibel. Es gibt kein spannenderes Buch. Sehen Sie, die Offenbarungen des Johannes. Die Apokalypse.«
Die kolorierten Illustrationen waren beeindruckend. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken und drehte sich um. Er stand so nah bei ihr. Wird er mich küssen?, überlegte sie und musste an Frau Grund denken. Was verband die beiden? Wieso richtete sie ihm einen Imbiss für die Arbeit. Waren sie vielleicht sogar verwandt?
Sie drehte sich abrupt wieder zurück und stellte den Tee auf den Tisch. »Ich muss zurück auf meine Station. Wir können gern ein anderes Mal darüber reden.« Fluchtartig verließ sie den Raum. Ich habe es vermasselt. Mal wieder. Ich treffe den tollsten Mann und ...
»Hey pass doch auf!« Beinah wäre sie in einen Clown hineingerannt. »Entschuldigung.«
»Nicht schlimm.« Der Clown zwinkerte ihr zu. Als sie auf ihrer Station eintraf, saßen die Kollegen vor einem Buffet im Stationszimmer. »Frau Kolpod hat einen ausgegeben. Nimm dir ruhig was, ist ja noch genug übrig.«
Auf der Schlachterplatte lag nur noch Blutwurst.
Nach Dienstschluss ging sie in das naheliegende Fitnessstudio. Seit zwei Monaten war sie Mitglied. Hauptsächlich wegen der Duschkabinen. Sie stand fast eine halbe Stunde unter dem warmen Wasser.
»Heute Abend feiern wir hier eine Halloweenparty. Die meisten von deiner Zumba-Gruppe werden da sein, kommst du auch?«, fragte die Neue von der Rezeption.
»Ich würde gern, doch ich habe kein Auto und wohne außerhalb. Außerdem bin ich morgen wieder für den Frühdienst eingeteilt.« Mareike verzog bedauernd ihr Gesicht und zuckte mit den Schultern.
»Schade, nimm dir was Süßes mit. Wir haben viel zu viel.« Die junge Frau zeigte auf den Tresen, auf dem Unmengen kleiner Beutel mit Süßigkeiten lagen. Außen war das Logo des Studios aufgedruckt. Mareike steckte sich zwei in die Tasche.
»Kannst ruhig mehr nehmen.« Lachend schob ihr die Angestellte weitere Beutel zu.
»Danke! Und viel Spaß heute Abend.«
Draußen schlug sie den Mantelkragen hoch und zog den Schal ins Gesicht. Es nieselte. Das Laub unter ihren Füßen war glitschig. An der Haltestelle standen nur wenige vermummte Gestalten. Auf der Bank vergammelten Pizzareste. Sie spürte vor Kälte ihre Füße schon nicht mehr, als die Bahn endlich kam.
Im Wagen saßen nur wenige Menschen. In einer Ecke, ignoriert von den anderen Fahrgästen, bedrohte ein Mann seine Sitznachbarin. Die Beschimpfte stand wortlos auf und flüchtete nach vorn. Der Mann schüttelte sein Faust, blieb aber sitzen. Mareike war froh, als sie ihre Haltestelle erreichte. Vor den Häusern leuchteten ausgehöhlte Kürbisse, Fenster waren geschmückt. Das Bild versöhnte mit der frühen Dämmerung.
»Süßes oder Saures!« Eine Straßensperre. Grinsende kleine Hexen und Teufel. Sie zog die Studio-Süßigkeiten aus der Tasche. Ein Geist mit Zahnlücke ließ sie großzügig passieren.
Das beschriftete fahle Holzkreuz neben dem Eingang wirkte trist gegen den bunten Schmuck der anderen Häuser. Nächstes Jahr höhle ich auch einen Kürbis aus und stelle ihn raus, nahm sie sich vor, während sie die Tür öffnete. In der Gemeinschaftsküche brannte Licht. Das Gespräch verstummte, als sie eintrat. Die Vermieterin Frau Eulenburg, Frau Grund und Herr Schneider starrten sie an.
»Wollten Sie nicht ihre Eltern besuchen?« Frau Eulenburgs Stimme klang vorwurfsvoll.
»Ich bin gestern zurückgekommen.«
Seit wann bin ich der Eule Rechenschaft schuldig, ärgerte sich Mareike und ging in ihr Zimmer. Sie überlegte, die Eulenburg nach Frau Döring und dem Baby zu fragen, doch als sie kurz darauf die Küche betrat, war diese leer.
Sie kochte eine Kanne Kaffee, machte eine Dose Ravioli warm und zog sich in ihr Zimmer zurück. Ob Jan schon da war? Sie hatte ihn bis jetzt noch nicht gehört. Sie schrieb in ihren Zumba-Chat, dass sie nicht zu dem Halloween Fest des Studios kommen würde. Ein paar andere sagten auch ab.
Draußen war es inzwischen richtig dunkel geworden, als es klingelte. Vor der Tür stand der alte Mann aus dem Zug. Mareike stockte der Atem. Gerade jetzt war kein Mensch da. Normalerweise, dauerte es nicht lange und Frau Grund lungerte im Flur herum, sobald es bei ihr klingelte.
»Ihr Beutel«, er reichte ihr die Tasche mit den Süßigkeiten. »Die Adresse stand auf dem Brief, der in der Tüte lag. Mein Freund hat mich hergefahren.« Er wies auf ein dunkles Auto, nickte ihr zu und verschwand. Sie blieb noch eine Weile stehen und schaute in die Richtung, in die das Auto verschwunden war. Es regnete inzwischen stark. Ihre Haare waren feucht, als sie sich endlich aufraffte, zurück ins Haus zu gehen. Ein Sturm war angekündigt, also wäre die beste Wahl ohnehin, sich gemütlich im Bett einen Film anzuschauen. Sie zog ihren Hausanzug über und ging ins Bad um ihre Zähne zu putzen. Ein Windstoß ließ das gekippte Fenster umklappen. Sie brauchte fast drei Minuten um es wieder richtig zu schließen. Ihre Zahnbürste fiel ihr aus der Hand und landete auf der Erde. Sie bückte sich, um sie aufzuheben und entdeckte einen Schnuller unter dem Schrank. Also doch. Sie wusste, dass Frau Grund das Bad jede Woche gründlich wischte, das Teil konnte also noch nicht lange da liegen.
Diesmal hörte sie es das Weinen auch hier. Sie schloss die Tür und lauschte. Im Flur war es am deutlichsten zu hören. Hinter der Garderobe führte eine Treppe in den Keller. Mareike besaß einen winzig kleinen Verschlag, in dem ihre Koffer lagerten. Es gab auch eine Waschküche mit einer münzbetriebenen Waschmaschine. Sie öffnete die Tür. Stille.
Gerade als sie diese wieder schließen wollte, ertönte es wieder. Ein jämmerliches Schluchzen. Das Geräusch kam eindeutig von unten. Im Keller flackerte nur die Notbeleuchtung. Sie versuchte das Treppenlicht einzuschalten. Es blieb dunkel, dazu verabschiedete sich auch die Notbeleuchtung. Sie brauchte eine Taschenlampe. Als sie in ihrem Zimmer danach suchte, vibrierte ihr Smartphone. Maria aus dem Zumba- Chat bei WhatsApp wollte wissen, wann sie sich das nächste Mal treffen würden. Mareike schrieb ihr von dem kläglichen Weinen, und dass sie im Keller nachsehen wollte. Ihre Freundin beschwor sie, die Polizei zu rufen. Das wäre natürlich eine Möglichkeit, überlegte Mareike, doch was, wenn da nichts war? Sie schrieb ihre Adresse in den Chat. Ruft die Polizei, wenn ich mich in einer Stunde nicht gemeldet habe. Nimm ein Messer mit, riet ihr Anne, Maria pflichtete dem Vorschlag bei.
Besser ich nehme Jan mit, dachte sich Mareike. Sie steckte das Smartphone und die Taschenlampe in die Hosentasche und schloss ihr Zimmer ab, bevor sie an der Nachbartür pochte. Nichts zu hören. Er schien nicht da zu sein. Frau Grund und Herr Schneider reagierten ebenso wenig auf ihr Klopfen. In der Küche befand sich niemand. Schrie da jemand?
Vorsichtshalber nahm sie das Fleischmesser aus der Schublade. Als sie diesmal die Kellertür öffnete, vernahm sie dumpfes Gemurmel. Da waren Menschen. Ein qualvoller Schrei ertönte. Kein Baby, doch ein Mensch in Not! Die Kälte des Bodens kroch über die Füße in ihren Körper.
Wieder ein Aufschrei, begleitet von bedrohlichem Zischen. Sie zog das Smartphone aus der Tasche und wählte den Notruf. Eine Störungsmeldung. Sie probierte es wieder. Besetzt. Sie eilte zur Haustür. Die Straße war menschenleer. Ihre Knie zitterten, sollte sie auf die Hilfe warten? Wieder ein Schrei. Da wurde ein Mensch gequält, sie musste handeln. Sie schrieb in den Gruppen-Chat: Im Keller passiert etwas, ich gehe jetzt runter, verständigt bitte die Polizei! Drei Ausrufezeichen.
Sie hastete zu der offenen Kellertür. Die Geräusche waren verstummt. Vorsichtig schlich sie die Treppe hinunter. Wachsam tastete sie sich vorwärts, das Messer krampfhaft umklammert. Wieder ertönte das klägliche Weinen. Ein Choral stimmte an. Er klang wie ein lateinisches Kirchenlied. Beinahe wäre sie über einen Stuhl gestolpert, als sie um die Ecke bog. Eine Tür öffnete sich. Sie presste sich an die Wand, dicht hinter einen alten Schrank.
»Hallo? ... Da ist niemand!«
Die Stimme kam ihr bekannt vor. Das war Herr Schneider. Er ging zurück in den Raum, die Tür ließ er dabei einen Spalt offen. Vorsichtig schlich Mareike näher. Ihr Handy vibrierte. Gott sei Dank hatte sie daran gedacht, es lautlos zu stellen. Polizei ist unterwegs, schrieb Anne. Hoffentlich blamiere ich mich nicht, dachte Mareike. Eine kalte Hand griff ihr in die Haare. Den Aufschrei konnte sie gerade noch unterdrücken. Es war keine Hand, nur die Schnüre eines Wischmobs, die sich bei ihrer abrupten Bewegung in ihrer Haarklammer verfangen hatten. Sie befreite sich vorsichtig und lehnte das Gerät vorsichtig in die Ecke hinter dem Schrank. Das war knapp gewesen. Sie musste vorsichtig sein. Sie atmete langsam ein und aus, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisierte.
Inzwischen redete jemand. Die Worte waren nicht zu verstehen. Sie schlich die letzten zwei Meter bis zu der angelehnten Tür und lugte durch den engen Spalt. Der Raum wurde von unzähligen Kerzen erhellt. Vor einem dunklen Tisch standen Menschen in weißen Kutten. Hinter dem Tisch, an einer blutroten Wand, hing ein riesiges Kruzifix mit einem hölzernen Jesus. Das flackernde Kerzenlicht verlieh seinen schmerzverzerrten Zügen ein gespenstisches Leben. In dem Priester erkannte sie den Geistlichen der Klinik. Neben ihm hing eine leblose Gestalt auf einem Stuhl. Wieder erhob er seine Hände und rief eine lateinische Formel, die von den Anwesenden, die sich jetzt hinknieten, wiederholt wurde.
Frau Eulenburg trat zu dem Priester. In ihrem kräftigen Griff wand sich ein nur mit einer Windel bekleideter Säugling. Der Priester entzündete eine Bodenschale, in der helles Feuer aufloderte. Mareike stockte der Atem. Was hatten die vor? Die Knienden kreischten verzückt, während der Priester das weinende Kind kopfunter an den Füßen hochhielt. Mareike konnte nicht länger zusehen. Sie drückte auf den Lichtschalter neben der Tür, und während die Neonbeleuchtung des Kellerraumes aufflammte, nutzte sie den Überraschungsmoment, um zu dem Priester vorzudringen. Sie entriss ihm das Baby, das sich schluchzend an sie klammerte.
»Geben sie sofort diese Kreatur zurück!«
Der Priester hatte sich schnell gefangen. Mareike wich hinter die Feuerschale zurück und hielt das Kind mit dem linken Arm fest an sich gepresst, das Messer kampfbereit in der rechten Hand.
»Sie Unglückselige, Sie haben ja keine Ahnung! Dieser Dämon muss heute vernichtet werden, nur so kann unsere Welt errettet werden!«
»Verfluchter kranker Bastard, einen Schritt näher und ich schneide dir in deine Eier!«
»Mareike! Unser Priester hat Recht. Die Schriften der Apokalypse leiten uns. Wir sind Apostel des einen wahren Gottes. Das ist kein unschuldiges Baby, es ist eine dämonische Missgeburt. Entstanden in Schande. Die eigene Mutter hat sich geopfert, damit das Böse vernichtet werden kann. Wir müssen es tun. Nur so können wir unsere Welt retten. Gelobt sei der Allmächtige!«
Jan. Das durfte nicht wahr sein. Ihr Mister Right! Er blickte sie beschwörend an. »Gib mir das Wesen.«
Sie hieb mit dem Messer nach seinen ausgestreckten Armen. In den hatte sie sich verliebt? »Du bist auch so ein Psycho? Statt einer kranken Frau zu helfen, benutzt ihr sie für eure Perversionen!«
Jan umfasste seinen Arm, die weiße Farbe seiner Kutte färbte sich erschreckend schnell rot. Sie musste eine Arterie getroffen haben. Wo blieb nur die verdammte Polizei. Sie presste sich in die hintere Ecke des Raumes. Das Feuer vor ihr loderte hell. Der kleine Körper in ihren Armen wurde ab und an von einem Schluchzen erschüttert. Eine neue Stärke durchfloss Mareike. Diese Wahnsinnigen würden das Kind nur über ihre Leiche bekommen und sie hatte nicht vor zu sterben.
»Wer bist du, dass du dich gegen die Diener des Allmächtigen stellst? Weiche von ihr, Satanas!«
Der Priester hielt ihr ein Kreuz entgegen, während Frau Grund und die Eulenburg Jan verarzteten, den sie ziemlich schlimm erwischt hatte.
»Ihr dient keinem Gott. Was soll das denn für ein Loser sein, der Psychopathen wie euch braucht!«
»Erkennst du nicht die Zeichen der Dämonen auf dieser Kreatur?«
Sie hieb mit dem Messer nach dem Priester, der sich wieder angeschlichen hatte. In der Ferne hörte sie Sirenen, die allmählich lauter wurden. Das Kleineklammerte sich an sie. Diese feige Bande, was wollten sie dem hilflosen Kind antun?
Einige der Betschwestern versuchten sich zurückzuziehen, als sie die Sirenenvor dem Haus stoppten. Mareike war froh, daran gedacht zu haben, die Haustüranzulehnen, als sie in den Keller herabgestiegen war. Der Priester versuchte noch, ihr das Kleine zu entreißen, als die Beamten schon in den Kellerstürmten. »Die Satansbrut muss vernichtet werden!«, hörte sie ihn geifern, als ihn die Polizisten zur Tür schleiften. Die anderen ließen sich still abführen. Jan warf ihr einen verzweifelten Blick zu, den sie trotzig erwiderte. Frau Döring, die Mutter des Kindes war tot. Ein Sanitäter wollte ihr das Babyabnehmen, doch das Kleine schrie so verzweifelt, das er seine Hände zurückzog. Mareike wickelte das zitternde Kind in die Decke, die ihr der Notarzt gegeben hatte. Liebevoll streichelte sie sein zartes Köpfchen. Das Baby verzog sein kleines Gesicht und lächelte. Der Arzt legte auch ihr eine Decke um.
»Wir hatten heute schon einige krasse Einsätze, aber das hier toppt alles. Ein Glück, dass Sie das Schlimmste verhindern konnten.«
Er begleitete Mareike, die das Kind trug, zu dem Krankenwagen.