Der alte Baum und der alte Mann
Er steht schon lange da, der alte Baum. In unserem Park war er mir gleich aufgefallen, bei meinem ersten Rundgang dort. Ein Ahorn. Er musste schon sehr alt sein. Sein Stamm hatte einen Durchmesser von mehr als zwei Metern. Und hoch? Ja, wie hoch mochte er wohl sein? Vielleicht 25 oder 30 Meter? Er kam mir irgendwie vertraut vor, so als ob ich ihn schon länger kennen würde. Verrückt!
Ich weiß noch genau, wie ich ihn das erste Mal berührte. Seine mächtigen ausladenden Äste faszinierten mich. Es sah aus wie eine Geschichte. Eine Lebensgeschichte. Ich ging auf ihn zu, stellte mich unter sein schützendes Dach und schloss die Augen. Ich hatte das Gefühl, ein leichtes Zittern wahrzunehmen, das durch die Krone ging.
Leichtes Blätterrauschen drang an mein Ohr. Wie wispernde Stimmen. Sie erzählten eine Geschichte. Ich legte meine Hände auf den mächtigen Stamm.
Bilder stiegen in meinen Gedanken auf. Es war faszinierend. Alles lief rückwärts und es ging in der Zeit zurück. Immer weiter. Ich sah, wie der Park umgebaut wurde. Es war früher ein Heilpark gewesen für Tuberkulose-Kranke. Ich sah, wie die Menschen im Park auf den Bänken saßen und sich erholten.
Dann wurde es sehr unruhig. Es war Krieg. Ich spürte große Angst. Bomben fielen. Doch der Ahornbaum hatte Glück - er wurde nicht getroffen.
Weiter zurück. Die Menschen hatten andere Kleidung an als heute. Seltsame große Hüte sah man die Frauen tragen. Es musste wohl vor dem Jahr 1900 sein. Der Park war noch nicht entstanden. Aber es schien so eine Art von Ort zu sein, an dem sich die Menschen gerne aufhielten. Menschen flanierten hier auf und ab. Es gab große Wiesenflächen auf denen sich die Leute bei schönem Wetter niederließen und eine Art Hauptweg zum Spazieren. Sehen und Gesehen werden....
Noch weiter zurück. Ein Bauernhof war zu sehen.
Ich hatte das Bedürfnis, mich zu setzen. Ich drehte mich um und nahm mitten auf den hervorstehenden Wurzeln Platz. Eine kleine Mulde, die wie ein ausgeformter Sitzplatz aussah, nahm mich auf. Wohlig an den Stamm gelehnt, schloss ich wieder meine Augen.
Sofort war der alte Bauernhof wieder zu sehen. Eine friedliche Atmosphäre machte sich breit. Mägde und Knechte waren mit der Ernte ringsherum beschäftigt. Ein kleiner Junge fiel mir auf. Er lief mit einem Weidenkorb in der Hand umher. Er kam auf mich zu und blieb vor dem Ahorn stehen, sah sich nach allen Seiten um und ließ sich auf seine Knie herab.
Seltsam vertraut kam er mir vor. Und plötzlich wusste ich, was er als nächstes tun würde..... Er griff in seinen Korb, nahm einen der Ahorn-Setzlinge heraus und legte ihn neben sich. Mit seinen Händen riss er Wiese heraus und grub ein Loch. Dann steckte er den Setzling herein und gab wieder Erde darauf. Ich spürte förmlich, wie er daran dachte "jetzt muss ich ihn noch angießen".
Doch dann fing es an zu regnen. Lachend lief der Bauernjunge fort.
Ich war schon einmal hier.... kam mir der Verdacht. Und ich habe diesen Baum gepflanzt! Ein Rütteln riss mich aus meinen Gedanken. Eine Frau stand vor mir und sprach mich an. "Sie sind wohl eingeschlafen, junger Mann"?
Ohne dass ich es bemerkt hatte, goss es inzwischen in Strömen....
Und in meinem Schoß...... lag ein Ahornblatt.....