Der Fahrkartenkontrolleur hatte offenbar einen schlechten Tag hinter sich.
„Aufwachen, Madam!“, schimpfte er und riss Phoebe aus ihren Träumen. Verschlafen und verwirrt fand sie sich in die Ecke getrieben. Hier gab es keine Fluchtmöglichkeit, so geschickt sie sich auch anstellen würde. Sie rieb sich die Augen, um etwas Zeit zu gewinnen: „Entschuldigung.“
„Fahrkarte, bitte!“, sagte der schnauzbärtige, dürre Mann, schon halb in der Gewissheit, dass Phoebe seiner Forderung nicht würde nachkommen können.
Sie klopfte ihre Taschen ab und machte ein entsetztes Gesicht: „Sie ist weg! Sie war hier, ich schwöre!“
Ihr Herz raste vor Angst. Sie war nur wenige Tage davor, das Land zu verlassen. Ihre Flucht durfte nicht hier zu Ende sein, nicht jetzt und hier!
„Aha“, machte der Kontrolleur mäßig überzeugt und zückt das schwarze Gerät, dass seine Kaste immer und überall hin mit sich führte wie ein Polizist den Schlagstock.
„Das macht 40 Euro. Name?“
„Ich bin ausgeraubt worden, ich schwöre!“, wiederholte Phoebe und kitzelte aus dem letzten Rest ihrer menschlichen Seele zwei traurige, kleine Tränen der verletzten Unschuld.
Der Blick des Kontrolleurs wurde etwas sanfter: „Solange du das nicht beweisen kannst, muss ich dich leider dennoch aufschreiben“, erklärte er ihr: „Wenn du einen Beleg oder etwas ähnliches vorweisen kannst, dass du doch eine Karte gekauft hast...“
Phoebe atmete vor Angst schnell und flach: „Die … die muss mein Papa haben. Er hat mir die Karte gekauft.“
Sie riss die Augen weit auf, um jünger als ihre 17 Jahre zu erscheinen.
„Na gut, dann soll er uns den Beleg zuschicken. Ich brauche trotzdem deinen Namen und deine Adresse. Aber wenn der Beleg vorliegt, wird die Geldstrafe natürlich fallen gelassen.“
Phoebe nickte tapfer. Ihr Gehirn arbeitete so schnell wie nie zuvor. Ihre Finger fühlten sich schwach und zittrig an. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, doch draußen war es pechschwarz und der erleuchtete Innere des Zuges verwehrte ihr jeden Blick nach draußen.
„Also, wie heißt du?“
„Laura. Laura Rüttgers“, sagte Phoebe und buchstabierte den Namen für den Mann.
„Wohnhaft?“
„Chemnitzer Straße 15, 40628 Düsseldorf“, sagte Phoebe sofort. Sie buchstabierte auch den Straßennamen.
„Da bist du aber weit unterwegs.“
„Ich besuche Verwandte.“
„Telefon?“
„0211 2435771“, es war die Adresse einer ehemaligen Mitschülerin. Sie hoffte, das diese Spur nicht sehr leicht auf sie zurückzuführen sei. Immerhin wusste der Kontrolleur nicht, wer sie war. Sie fühlte sich wie eine Virtuosin, die ein Meisterwerk spielte. Allerdings mit der Gefahr, bei einem falschen Akkord in ein Becken voller hungriger Haie geworfen zu werden.
„Gut, und eine E-Mail bräuchte ich noch.“
„Und dann erhalte ich eine Gratis-Waschmaschine?“, scherzte Phoebe nervös.
Der Kontrolleur lachte über ihren Witz: „Nein, das ist nur zur Sicherheit.“
„Na gut. Also: [email protected]“, sagte Phoebe und wich dem Blick des belustigten Kontrolleurs aus. Die alte E-Mail ihrer Schwester. Niemand würde das Postfach kontrollieren.
Der notierte alle Angaben und nickte ihr dann freundlich zu: „Der Brief kommt bald. Du solltest deine Eltern am Besten anrufen.“
Phoebe nickte und dankte und tat dann, als würde sie nach ihrem Handy kramen, das eigentlich auf ihrem Schreibtisch zuhause lag und vielleicht ab und zu piepsend nach neuem Akku verlangte.
Doch der Kontrolleur zog bereits weiter.
Erleichtert sank Phoebe in die Sitze und schloss die Augen. Als die Anspannung von ihr ab fiel, lachte sie über das gelungene Manöver.
Es wurde Zeit, an die Küste zu fahren und sich auf ein Schiff zu schleichen.