Liebe Limayeel
Ich habe versucht, aus deinen Vorgaben und der relativ kurzen Zeit etwas zu schaffen, an dem du Freude hast (auch wenn es leider kürzer ausgefallen ist, als ich es mir erhofft hatte). Die Themenwünsche von dir waren ja Historik, Meer und Frieden. Viel Spass! Das gilt selbstverständlich auch für alle anderen Leser/innen ;)
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16. Oktober 1588
Mit einem glockenhellen Lachen stürmte sie über die vom Wind gepeitschten Wiesen. Die Ermahnungen ihrer Mutter, auch ja nicht zu weit fortzugehen hatte sie schon längst wieder vergessen, aber ihre Mutter wusste das wahrscheinlich sogar. Matilda war schliesslich neun und kein kleines Kind mehr.
Sie liebte den Anblick des Meeres einfach so sehr! Wäre sie keine Frau, sie würde als Matrose auf einem Schiff anheuern, sobald sie das richtige Alter dafür hatte. Vielleicht konnte sie das ja auch als Frau, ihr Haar könnte sie ja dann unter der Mütze verstecken...
Guten gelaunt trat sie an die felsige Küste und setzte sich an ihren Lieblingsort. es war ein Felsvorsprung, neben dem sich ein anderer, etwas höherer Fels befand, sodass sie sich anlehnen konnte. An Tagen, an denen das Wetter nicht so schlecht war wie in diesem Moment, kam sie manchmal auch mit einem Buch hierher und verbrachte den Tag mit lesen. Das kam aber eher selten vor, ihre Mutter brauchte ihre Hilfe bei der täglichen Arbeit. Von drei Kindern waren ihren Eltern nur noch Matilda übrig geblieben und sie tat ihr bestes, den Ansprüchen ihrer Eltern gerecht zu werden. Was ihr längst nicht immer gelingen wollte.
Endlich hatte sie ihren Lieblingsplatz erreicht und liess sich auf dem schroffen Gestein nieder, auch wenn sie es bei den starken Windböen nicht wagte, so weit nach vorne zu rutschen, wie sie es für gewöhnlich tat.
Lange starrte sie auf die Wellen hinaus und stellte sich vor, wie sich Segel am Horizont abzeichneten. Vor drei Jahren hatte der Krieg begonnen. Sie hatte noch nicht sehr viel davon mitbekommen, da er Cornwall noch nicht erreicht hatte, doch alle fürchteten, dass eines Tages die Spanier hier einfielen. Aber heute sah es noch nicht danach aus.
"Hey Brown, was machst du hier?" Es gab nicht besonders viele Leute, die sie mit ihrem Nachnamen ansprachen und diese spöttische Stimme kannte sie von allen am besten. "Geh weg Noah, du störst." Ungerührt liess er sich neben ihr auf dem Felsen nieder. Bis vor einem halben Jahr waren sie nur verfeindet gewesen, seit sich aber herausgestellt hatte, dass sie denselben Lieblingsplatz hatten, waren sie zur stillschweigenden Übereinkauft gelangt, sich so lange zu vertragen, wie sie sich hier befanden. Nicht, dass am Ende noch einer ihrer Freunde glaubten, dass sie ihn mochte. Solches Gezanke wie gerade eben konnte sich dennoch keiner von ihnen verkneifen. Nach dieser eher ungewöhnlichen Begrüssung verfielen sie in einträchtiges Schweigen.
"Was wohl aus uns wird, wenn die Spanier tatsächlich hier einfallen sollten?" Der Gedanke, welche ihr vor Noahs Ankunft durch den Kopf gegangen war beschäftigte sie noch immer.
"Ich werde kämpfen", erklärte er mit der Bestimmtheit eines Ritters. "Und dich verteidigen." Völlig überrumpelt von dieser ganz und gar unerwarteten Antwort, fiel ihr nichts ein, dass sie darauf erwidern konnte. Erst nach einigen Minuten schliesslich: "Warum?" Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Noah die richtigen Worte fehlten. Sichtlich verlegen fuhr er sich mit der rechten Hand durch das kurze blonde Haar, welches ihm zu allen Seiten abstand. "Weil ich dich... Nun, ich behaupte jetzt nicht, dass ich dich mag, Gott bewahre, aber du bist hin und wieder ganz nett. Und ein Mädchen, also kannst du dich sowieso nicht-" Der Rest des Satzes ging in einer Rauferei unter, bei der Matilda sehr wohl die Oberhand behielt.
21. Juli 1595
Grau. Ihr Gemütszustand und die Stimmung des gesamten Königreichs konnte man zurzeit nur als grau bezeichnen. Und das Wetter machte dem alle Ehre, denn der Nebel wollte an diesem Morgen einfach nicht weichen. Wie ein Vorhang schob er sich zwischen Matilda und das Meer hinaus. Trotzdem stand sie hier, an der Küste, im Wissen, dass es töricht war, alleine hier draussen zu sein. Das kindliche Vertrauen in die Welt hatte sie schon vor Jahren verloren. Aber was wollte sie machen? Ihre Mutter war unlängst vom Fieber dahingerafft worden und ihr Vater war im Krieg. Sie musste ihr Essen selbst beschaffen und wenn ihr ein altes Fischernetz vielleicht dabei half, nahm sie auch die Gefahr eines Sturzes in Kauf. Noah half ihr wo er nur konnte, doch kam er selbst kaum über die Runden. Ausserdem barg dieser Fels auch sehr willkommene Kindheitserinnerungen und liess sie an die glücklicheren Tage zurückdenken, weshalb sie auch deshalb hier draussen war.
Der Krieg dauerte nun seit fast zehn Jahren an. Matilda liebte England und ihre Königin, doch verstand sie nicht, wie eine solch grosse Herrscherin wie Elizabeth solch eine lange Fehde nicht unterbinden konnte. Kaum war ihr der Gedanke entschlüpft war sie froh darüber, ihn nur gedacht zu haben. Sie hatte ja keine Ahnung von Politik und um nichts in der Welt wollte sie ihr einfaches Leben gegen das einer Hofdame eintauschen. Ihre Mutter hatte ihr immer Geschichten über die sechs Königinnen von König Henry dem achten erzählt. Wenn diese Erzählungen ihr eines klar gemacht hatten, dann, dass es nicht sehr viel brauchte um seinen Kopf zu verlieren oder irgendwo in Ungnade zu fallen.
Ein Geräusch hinter ihr Unterbrach Matilda in ihren Gedanken. Flach atmend und wie vom Donner gerührt blieb sie stehen. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem gesamten Körper und als sich von hinten Arme um sie schlossen, entwich ihr ein Schrei, der vom Nebel verschluckt wurde.
"Meine Güte Matilda, beruhige dich, ich bin es nur." Sie atmete erleichtert aus, drehte sich um und gab dem jungen Mann vor ihr eine schallende Ohrfeige. "Noah. Bei Gott, wenn du das nochmal machst..." "Dann was. Kratzt du mir die Augen aus?" Er tat zwar locker, doch dass er sich die Wange rieb bedeutete, dass es ihn zumindest ein wenig geschmerzt haben musste. Gut so.
Im nächsten Moment war die Wut dann aber auch schon wieder verflogen und sie gab sich dem innigen Kuss hin, den er begann. Mehr als das bekam er von ihr nicht. Jedenfalls solange sie noch nicht vermählt waren. Doch war es ein angenehmer Vorgeschmack dessen, was sie nach der Eheschliessung erwarten würde. Mit ihren sechzehn Jahren war sie schliesslich alt genug. Die Liebkosungen waren jedoch nicht so wie sonst, Noah wirkte, als sei er mit den Gedanken nicht ganz bei ihr oder als belaste ihn etwas.
"Was ist los?" Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste die Rötung, die ihre Schelle hinterlassen hatte.
Noah öffnete ein paar Mal den Mund um zum Sprechen anzusetzen, nur um ihn kurz darauf wieder zu schliessen. Egal was es war, es musste ihn sehr plagen. "Letzte Woche erreichte mich ein Brief. Es sind erneut Kämpfe an den Grenzen zu Schottland ausgebrochen- ich muss in den Krieg ziehen." Sie brauchte einige Momente um die Bedeutung dieser Worte zu begreifen. Noah, ihr letzter Fels in der Brandung, würde in den Krieg ziehen und sie zurücklassen.
"D-Das kannst du nicht!" Natürlich konnte er. Er musste. Sonst galt er am Ende noch als Hochverräter.
"Nichts würde ich lieber tun als bei dir zu bleiben. Aber ich muss gehen. Jetzt." Er küsste sie ein letztes Mal und wollte sich von ihr lösen, doch hielt sie sich krampfhaft an seinen Schultern fest. "Wenn du den Brief letzte Woche bekommen hast- warum hast du mir nicht davon erzählt?" Seine blauen Augen sahen sie voller Pein an. "Weil ich genau diesen Abschied so kurz wie nur irgend möglich halten wollte." Matilda verstand ihn. Trotzdem wusste sie nicht, ob sie ihm das verzeihen konnte. Mit dem Wissen, dass Noah in den Krieg ziehen würde, hätten sie die letzte Woche ganz anders verbringen können. Sich darauf einstellen können. Hättest du nicht, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Du hättest dich einfach eine Woche eher zu grämen begonnen.
"Dann musst du jetzt, gehen? In diese Moment?"
"Ja. Offen gestanden bin ich sogar schon recht spät." Sie küssten sich noch einmal, noch inniger als zuvor, während Tränen ihre Wangen herabrannen.
Nur mit grösster Mühe lösten sie sich voneinander. "Wartest du auf mich?", fragte er. Sie nahm all ihre verbliebene Kraft zusammen und nickte. Und auf einmal wirkte er, als habe man ihm eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen. Er lächelte sogar. "Dann habe ich den besten Grund zurückzukommen." Er löste etwas von seinem Gürtel, ein Messer.
"Hier. Vielleicht kann ich etwas besser schlafen, wenn ich weiss, dass du dies bei dir trägst." Sie tat ihm den Gefallen und nahm das Messer, war sich aber nicht sicher, ob sie es im Ernstfall auch einsetzen könnte. Ein letzter Kuss - dann war Noah fort.
Vielleicht, so dachte sich Matilda zwei Tage später, war es besser, dass er fortgegangen war und die Schändung ihrer Heimat nicht mit ansehen musste. Am Morgen des 23. Juli im Jahre des Herrn 1495 fielen die Spanier an der Küste Cornwalls ein und liessen kaum einen Stein auf dem anderen. Während der Angriff wütete, tat sie ihr Bestes, unentdeckt zu bleiben und dank einer glücklichen Fügung gelang ihr dies auch. Während in der gesamten Ortschaft ein einziges Chaos herrschte, schaffte sie es, sich in einem Getreidefeld zu verstecken. Die glückliche Fügung bestand darin, dass die Spanier das besagte Feld nicht anzündeten und sie so beinahe zwei Tage ausharren konnte. Da keiner mit einem Angriff gerechnet hatte, dauerte es zwei Tage, bis die Verstärkung durch Truppen der Königin eintraf. Erst dann getraute Matilda sich wieder in die Schenke zurück, in der sie sich ihr Brot verdiente. Der Durst nach Blut und die Fleischeslust der eingefallenen Spanier war fürs erste gestillt und zum ersten Mal in ihrem Leben war Matilda dankbar ob ihrer unauffälligen Erscheinung.
Trotz aller widrigen Umstände schrieb sie Noah fast täglich. In den ersten Monate erhielt sie wenigstens noch gelegentlich eine Antwort, doch nach knapp einem halben Jahr brach der Kontakt endgültig ab.
Zu Beginn glaubte sie, dass die Briefe ihre Wege einfach nicht gefunden hatten, doch je länger sie nichts hörte, desto mehr verhärtete sich der Verdacht, dass Noah nie mehr zu ihr zurückkehren würde.
3. September 1603
Ganz England befand sich im Freudentaumel. Die Nachricht, dass ein Vertrag dem Land den so lange ersehnten Frieden gebracht hatte, war Grund zur allgemeinen Erleichterung. Auch Matilda freute sich ehrlich, doch Noahs Verlust hatte sie noch immer nicht überwunden. Wohl mit einer der Gründe, warum sie trotz ihrer vierundzwanzig Jahre die sie nun zählte noch immer nicht vermählt war. Doch auch ihr Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt und so gab es niemanden, der eine Heirat hätte arrangieren- oder vorantreiben können. Ihr sollte es recht sein.
Sie kam fast jeden Tag zur Küste hinaus, an den Ort, an dem Noah und sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Sie wusste, dass sie nun loslassen musste, obgleich es ihr das Herz zu zerreissen schien. Sie schloss die Augen und lauschte dem Klang, der Wellen, die sich an den Felsen brachen, härte die Möwen, die einander zuriefen. Und obwohl sie trauerte, sickerte die Erkenntnis langsam in ihrem Geist: Sie hatten Frieden.
Nach langer Zeit öffnete sie ihre Augen, nur um festzustellen, dass sich der Nebel verzogen hatte und das Meer offen vor ihr dalag. Ebenso wie ihre Zukunft.
Hufengetrappel mischte sich in die Geräuschkulisse und Matilda drehte sich mit einem mulmigen Gefühl um. Es dürfte noch eine ganze Weile dauern, bis sie dieses Misstrauen wieder ablegte. Ohne es zu merken hatte sie das Messer gezogen, das seit gut acht Jahren ihr ständiger Begleiter war. Als sie aber schliesslich erkannte, wer da auf dem Pferd sass, rutschte ihr die Waffe aus der Hand. Sie begann zu rennen.