"Du hättest nichts mehr tun können", flüsterte Leila. "Du bist nicht daran schuld." En-Die sagte nichts. Der Schmerz war unerträglich. Sie standen am Kraterrand des flammenden Berges. Die ewige Stadt war nur mehr ein Haufen Ruinen. Ein Jahr war vergangen und En-Die war mit Leila in die ewige Stadt zurückgekehrt, wo sie eine Weile normal lebten. Doch dann brach der flammende Berg aus. Obwohl die Feuerbändiger des nahen Dorfes alles taten, um ihn zu stoppen vernichtete er die Stadt. Und mit ihr alle Schatten. Fast alle. Denn En-Dies Mantel hatte ihn vor der Eruption geschützt. Nun war er alleine. Der letzte seiner Art. Der letzte Schatten. "Ich hätte sie retten können", flüsterte er. "Nein, du wärst nur selbst gestorben", versuchte Leila ihn zur Vernunft zu bringen. "Ich war nicht stark genug." "Du warst der Stärkste von ihnen allen. Doch manche Dinge können wir nicht aufhalten." En-Die sank zu Boden und begann zu weinen. Leila hatte den Schatten noch nie weinen gesehen und sie wusste im ersten Moment nicht, was sie tun sollte. Dann umarmte sie ihn und er lehnte sich an sie und schloss sie ebenfalls in seine Arme. So saßen sie dort, bis die Sonne unterging und die Nacht anbrach. Dann stand En-Die langsam auf. "Danke Leila", flüsterte er. "En-Die, ich habe keine Ahnung wie es sein muss, der letzte seiner Art zu sein, aber ich weiß, wie traurig du dich fühlst", antwortete sie ihm. "Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist nicht allein. Du hast Freunde."
Sanchandra trabte die Landstraße entlang und auf eine Weggabelung zu. Kurz bevor sie dort angekommen waren zügelte En-Die den goldenen Skorpion, der sich aufbäumte und zum Stehen kam. "Die Gabelung nach Foi-Er. Hier trennen sich unsere Wege." Leila sah ihn überrascht an. "Ich muss mich nun alleine auf den Weg begeben, genau wie du. Ich bin unglaublich froh, dass ich dich damals getroffen habe. Du bist eine der besten Freundinnen, die man sich wünschen kann." "En-Die. Wieso?", fragte sie verwirrt. "Deine Zeit ist gekommen Leila. Du musst deine Reise nun ohne mich fortsetzen", antwortete er ihr. Damit gab er ihr einen langen Stab, an dessen Spitze ein Rubin eingesetzt war. "Der Stab des ewigen Blutes", hauchte Leila ehrfürchtig. "Wie kommst du in seinen Besitz?" "In den Hallen der ewigen Stadt befanden sich viele Schätze, die das Feuer überlebt haben. Ein Blutsauger brachte ihn vor Jahrzehnten zu uns. Wir sollten ihn verwahren. Und da ich der letzte Schatten bin, ist es an mir zu entscheiden, was damit geschieht. Er gehört jetzt dir." Leila nahm den Stab vorsichtig in die Hand. "Geh nach Norden, in die Berge. Du wirst dort einen Wasserfall finden, der größer ist als alles, was du bisher gesehen hast. Dahinter liegt das Dorf von Noctur", erklärte En-Die ihr. "Mit dem Stab werden sie dich als neue Anführerin akzeptieren. Nutze dies, um die Blutsauger und Menschen des nördlichen Gebirges zu vereinen, so dass Menschen und deine Rasse in Frieden nebeneinander leben können." Sie sah ihn fassungslos an. "Warum ich?", hauchte sie. "Warum soll ich das tun?" En-Die sah sie mit leuchtenden Augen an. "Ich wusste es schon seit dem ersten Tag. Als wir uns trafen, erkannte ich das Mädchen, das beide Welten vereinen kann. Deshalb habe ich dich mitgenommen Leila. Dich, die beiden Seiten des Ying und Yangs." Leila senkte den Blick. "Du hast es also schon immer gewusst?", fragte sie ihn leise. "Ja", antwortete er ruhig. "Aber wieso denkst du, dass ich das überhaupt schaffen kann?" En-Dies Blick schweifte in die Ferne. "Ich weiß es nicht. Warum denke ich, dass du es schaffen kannst? Vielleicht weil ich am Anfang meiner Reise nur aufbrach, um nicht wie andere Schatten zu enden und du mir erst einen wahren Sinn gegeben hast." Leila sah ihn mitfühlend an und umarmte ihn. "Ich werde immer da sein um dir zu helfen. Solltest du mich jemals brauchen, dann ruf mich einfach." En-Die nickte. Dann ging Leila los und winkte ihm noch aus der Ferne zum Abschied.