Anm. des Autors:
In der Audiodatei findet ihr den Song, der mich zu diesem Oneshot inspiriert hat und den ich angehört habe, während ich ihn geschrieben habe. Das ist meine Vorstellung von "Breathing Silence" - "For a lost love" von Adrian von Ziegler. Viel Spaß.
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»Herzlichen Glückwunsch. Das Haus gehört jetzt Ihnen, Mr. Wyatt.«
Der Makler drückte mir den alten, schnörkelig anmutenden Schlüssel und die Mappe mit den Papieren in die Hand, wandte sich um und verließ mit seinem Wagen meine Einfahrt.
Ich wandte mich mit einem Lächeln dem kleinen Cottage zu. Meine Mutter würde die Nase rümpfen angesichts der Unordnung auf den Blumenrabatten und dem Zugangsweg, doch mir gefiel der Anblick. Buntes Herbstlaub war von den alten Eichen gefallen, die das kleine Haus einrahmten und die Rosenbüsche vor dem Haus brauchten nur etwas Pflege und würden im nächsten Sommer sicher wieder in Schönheit erblühen.
Es juckte mir förmlich in den Händen, sofort mit der Arbeit zu beginnen, doch der Garten würde warten müssen. In dem Haus gab es schließlich genug zu tun, nachdem es mehrere Jahrzehnte leerstand und nur von einer alten Haushälterin gepflegt und saubergehalten wurde.
Ich trat durch die Tür und ließ diese sperrangelweit offen stehen. Die kühle, aber saubere Küstenluft sollte ruhig eindringen und den leeren, kalten Geruch des Hauses vertreiben.
Mit einem Lächeln zog ich die Tücher von den alten Möbeln, die noch immer in gutem Zustand waren und öffnete die Fenster.
Es war ein Traum und ich wollte immer schon ein kleines Häuschen unweit der Küste besitzen. Ein Haus auf dem Land, mit Charme, Charakter und nicht zu vergessen, einer Seele. Und dieses Haus hatte eine. Ich konnte noch nicht einschätzen, was für eine, doch es war eine da, das spürte ich. Dieses Haus hatte Geschichte.
Und etwas Gutes musste es schließlich haben, dass ich einen Unfall hatte, der es mir unmöglich machte, jemals wieder zu arbeiten. Meine Abfindung sowie die Summe der Versicherung waren entsprechend ausgefallen und ich erfüllte mir damit meinen Traum.
Ich richtete mich so gut es mein unfallversehrter Rücken zuließ, ein und betrachtete, auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend, mein Tagwerk. Bis auf meine Kleidung, technische Geräte und einige persönliche Sachen aus meiner alten Wohnung hatte ich nichts mitgebracht, da das Haus komplett möbliert zum Verkauf stand. Die einzige Ausnahme bildete meine eigens angefertigte Matratze für das Bett, da ich nicht auf einer x-beliebigen schlafen konnte, wollte ich meinen Rücken nicht noch weiter kaputtmachen. Ich hatte die Matratze unter schwerer Anstrengung allein ins Haus und in das Himmelbett verfrachtet. Zum Glück lag das Schlafzimmer im Erdgeschoss, wie alle relevanten Zimmer, da es keinen richtigen ersten Stock gab. Ging man die Treppe hoch, stand man praktisch auf dem Dachboden. Ich freute mich schon darauf, mich dort umzusehen.
Doch das Prachtstück des Hauses war ohne Zweifel der große Wohnraum, der eine Mischung aus einem Salon und einem einfachen Wohnzimmer war. Eine Wand war ein einziges Bücherregal, voll mit alten Klassikern wie Poe oder Conan Doyle, allerdings hatte ich darunter auch Bücher über Naturkunde entdeckt. Und sehr viel Literatur über Musik. Dieses Regal wurde nur von einer Tür unterbrochen, die in eine zauberhafte alte Landhausküche führte.
Meine größte Freude jedoch war der alte Flügel, der das Herz des Wohnraumes darstellte. Er stand in einer Ecke und doch mitten im Raum. Es wunderte mich, dass dieses Instrument, was allein mehrere Zehntausend Pfund wert war, einfach so zusammen mit dem Haus und allem anderen verkauft wurde, als hätte er keinen Wert.
Überhaupt war das Haus insgesamt ziemlich günstig gewesen. Eine Tatsache, die mich erfreute, aber natürlich auch nachdenklich machte. Es war nicht unüblich, dass alte Landhäuser oft eine tragische oder gewaltsame Vergangenheit hatten, doch mein Makler konnte mir dazu nichts konkretes sagen. Lediglich, dass der Vorbesitzer, dem das Haus in den 1960er Jahren gehörte, auch hier gestorben war.
Ich beschloss, es einfach gut sein zu lassen, bereitete mir ein einfaches Abendessen, um den Tag vor dem frisch angeschlossenen Fernseher ausklingen zu lassen und am morgigen Tag im Ort einzukaufen. Vielleicht konnte mir dort jemand etwas über die Geschichte des Hauses erzählen.
Das Örtchen Sandford war eines dieser Postkartendörfer, wie man sie immer auf alten, nostalgischen Briefmarken und Ansichtskarten sah, doch es hatte trotzdem alles, was man zum Leben brauchte. Einen gut sortierten Supermarkt ebenso wie kleine Einzelhändler, die regionale Spezialitäten verkauften. Ich erledigte den Löwenanteil meines Einkaufes im Supermarkt und beschloss dann, mir die kleineren Geschäfte genauer anzusehen. Die Menschen waren Fremden gegenüber immer etwas kühl und ich wollte ungern mehr ausgegrenzt werden als nötig. Immerhin war ich ein Londonner in der Provinz.
So überflog ich in einem Zeitungskiosk gerade die Schlagzeilen der lokalen Nachrichtenblätter, als mich eine ältere Dame ansprach.
»Sind Sie nicht der neue Besitzer von Primrose House?«
Ich wandte mich um, lächelte und nickte.
»Oh gut, das Häuschen stand doch schon viel zu lange leer, seit das mit dem armen Virgil passiert ist...«, sinnierte sie nickend und ich horchte auf.
»Wissen Sie etwas über die Geschichte des Hauses?«, fragte ich nach und hoffte, die Alte würde nicht gleich wieder dichtmachen. Engländer waren im Allgemeinen nicht so schwatzhaft und hielten mit allem hinter dem Berg.
»Hat man Ihnen das denn nicht erzählt? Sie armer Junge, sie leben in einem Haus, in dem einst ein Mord geschah.« Sie blickte mich an, als würde sie mich bedauern, doch ich winkte nur ab. Ich glaubte nicht daran, dass so etwas schlechtes Karma bedeuten konnte.
»Sie werden sehen, Mister, Sie sind nicht allein dort. Wenn böse Dinge in einem Haus geschehen, dann bleibt etwas davon zurück. Wie ein Fleck, der sich nicht abwaschen lässt...«
»Sie meinen, der Vorbesitzer ist noch da?«
»Wer kann das schon sagen? Jedenfalls hat niemand dieses Haus länger als ein paar Wochen besitzen wollen. Dabei ist es so ein hübsches Fleckchen Erde. Doch ich möchte Ihnen keine Angst machen. Vielleicht sind Sie es, der Frieden in das Haus bringt. Jemand, der Virgils Seele beruhigen kann... der ihm zuhört.«
Sie nickte wieder und tatterte davon, während ich ihr zweifelnd nachsah. Ich glaubte nicht an Geister, nicht an böse Vorzeichen und schon gar nicht daran, dass sich ein Geist ausgerechnet an mir rächen würde für seinen eigenen Tod. Das war absurd. Aber ich war auf dem Land und dort glaubte man an solche Dinge.
Der Tod des Vorbesitzers war 50 Jahre her. Vielleicht hatte die Alte ihn gekannt, gemocht und wollte nicht wahrhaben, dass Verstorbene nicht als Geister an einem Ort bleiben. Selbst wenn man ihnen das Leben genommen hat.
Mit meinen Einkäufen machte ich mich auf den Heimweg, fest entschlossen, nicht mehr über eine etwaige Geistertheorie nachzudenken, doch ich erwischte mich dabei, wie ich in dem Haus nach Hinweisen auf den Vorbesitzer suchte. Immerhin war alles so verblieben, wie er es hinterlassen hatte. Es stimmte mich traurig, dass er keine Familie gehabt zu haben schien, da sich niemand für sein Zeug interessierte. Wie ich es bisher immer getan hatte, wenn ich daran vorbeiging, ließ ich meine Finger über die Tasten des Flügels gleiten und entlockte ihm leise Töne. Ich konnte nicht spielen, was mir leid tat, doch ich mochte den Klang. Neben dem Flügel an der Wand stand eine kleine Kommode, deren Inhalt ich mir noch nicht angesehen hatte. Ich öffnete die kleinen Türen und entdeckte stapelweise Papier. Notenblätter, randvoll geschrieben mit Noten in einer feinen Handschrift. Das Papier war sorgsam geordnet, kein Blatt lugte schief irgendwo hervor, kein Eselsohr entstellte es. Es wurde sorgfältig gehegt, als hätte es dem Besitzer viel bedeutet. Vorsichtig zog ich den Stapel hervor und realisierte, dass es eine Suite zu sein schien. Ein komplettes Werk, bestehend aus mehreren Musikstücken.
»Breathing Silence« von Virgil Whitmann.
Ich blätterte durch die Seiten, ohne die Musik in meinem Kopf zu hören, da ich keine Noten lesen konnte. Ich erschrak, als ich auf der letzten Seite angekommen war, denn die Noten, vormals in feiner Handschrift geschrieben, rissen ab, als hätte jemand den Füller quer über das Papier gezogen. Tintenkleckse verschmierten das Papier. Doch das war nicht das, was mich erschrecken ließ. Sondern die Blutflecken, die sich mit der Tinte vermischt hatten. Als wäre der Mord an ihm geschehen, als er komponiert hatte.
Mit zugeschnürter Kehle legte ich die Komposition zur Seite und sah mich in dem Schränkchen weiter um. Ich entdeckte weiteres, ungenutztes Notenpapier, Bleistifte, Griffel und eingetrocknete Tintenfässchen ebenso wie einen alten, wunderschönen Füllfederhalter, den man noch mit flüssiger Tinte und nicht mit Patronen befüllen musste. Ein altes, aber noch funktionstüchtiges Metronom tickte vor sich hin, als ich es antippte.
Am meisten interessierte mich das Gesicht des Mannes, der hier einst lebte und so suchte ich die Schubladen nach einem Foto ab. Doch ich fand keines, weder in der Kommode noch irgendwo anders. Es hingen viele gerahmte Bilder an der Wand rund um den Flügel, doch die meisten zeigten die Landschaft oder die Küste mit dem tosenden Wasser. Es konnte doch nicht sein, dass das gesamte Haus kein Bild von Virgil Whitman enthielt...
Bereits völlig desillusioniert und in dem Glauben, keines mehr zu finden, wollte ich mir aus der Küche ein Bier holen, stieß jedoch versehentlich gegen die Ecke der Kommode. Diese klapperte und ein deutlich wahrnehmbares Klicken ertönte. Davon angezogen wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Möbelstück zu und bemerkte, dass sich in einer der Schubladen, die ich noch nicht geschlossen hatte, ein zweiter Boden geöffnet hatte. Ein Geheimfach, wie es viele alte Möbel hatten. Ein doppelter Boden, um Geheimnisse zu bewahren.
Ich öffnete diesen weiter und fand darin ein paar Zeitungsausschnitte und eine einzelne Fotografie. Alt, in Schwarzweiß. Laut dem Stempel auf der Rückseite aufgenommen im Jahr 1958, drei Jahre vor der Ermordung Virgil Whitmans. Das Bild zeigte zwei junge Männer, kaum dem Teenageralter entwachsen, vielleicht Anfang 20. In der selben feinen Handschrift wie die Noten stand eine Notiz auf dem Foto:
Charles und ich atmen die Stille.
Ich betrachtete das Bild genauer. Auf den ersten Blick zwei Freunde, aufgenommen an einer Steilküste, im Hintergrund schwer zu erkennen eine tosende See, die Haare der Männer leicht zerzaust, einer lacht, der andere lächelt nur. Nichts verwerfliches. Doch nur auf den ersten Blick.
Der zweite, genauere Blick verriet so viel mehr. Die Körperhaltung war einander zugeneigt, in dem Blick des Lächelnden lag etwas Warmes und die Hände der beiden waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als sehnten sich beide danach, einander zu berühren.
Virgil Whitman und dieser Charles schienen Geliebte zu sein. In einer Zeit, in der man so etwas noch mit Elektroschocks und Aversionstherapie zu behandeln versuchte. Ich blätterte durch die Zeitungssausschnitte und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
Junger Mann stürzt von Klippe, titelte ein Bericht aus dem Jahr 1959. Charles Lancaster, der lachende Junge auf dem Bild, war ein Jahr nach der Aufnahme des Fotos in den Tod gestürzt, von eben der Klippe, an der das Bild entstanden war.
Begnadeter Komponist Virgil Whitman beendet Pianistenkarriere, verkündete ein anderer Artikel, nur einen Monat älter als die Todesnachricht.
Bedrückt legte ich Virgils Geheimnisse zurück in das Fach unter dem Boden und betrachtete das Bild erneut. Virgil war ein hübscher junger Mann mit hellen Haaren gewesen, adrett, aber nicht steif gekleidet, die Haare etwas länger als damals üblich, schlanke Hände. Ich stutzte und sah bei Charles genauer hin. Ich spürte, wie es mir eiskalt den Rücken runterlief, als mir etwas bewusst wurde.
Charles Lancaster... er hätte mein Zwilling sein können!
Fröstelnd legte ich auch das Bild zurück in das Fach und verschloss es wieder. Beide waren tot und ich wollte sie wenigstens dort zusammen ruhen lassen.
Doch so sehr ich mich auch abzulenken versuchte, es wollte mir an diesem Abend nicht so recht gelingen. Meine Gedanken kreisten immer wieder um diese zwei Menschen, denen das Schicksal offenbar nicht wohlgesonnen gewesen war.
Warum hatte man Virgil Whitman ermordet? War es, weil er Männer liebte? Oder war es gar ein Konkurrent aus der Pianistenszene? Aber warum sollte es, wenn er seine Karriere doch beendet hatte?
Mir fiel wieder ein, was Virgil auf das Bild geschrieben hatte. Charles und ich atmen die Stille. Atmende Stille. Breathing Silence.
Ich ruckte aus der Grübelei hoch. Virgils Komposition war für Charles. Und er hatte sie nicht beenden können, weil ihn jemand zuvor ermordet hatte. Vielleicht hatte jemand gefürchtet, Virgil könnte mit dieser Komposition zu noch größerem Ruhm aufsteigen. Oder jemand hatte befürchtet, dass dieses Werk Charles in ein schlechtes Licht rücken könnte, würde publik werden, dass er und Virgil mehr als nur Freunde gewesen waren.
Durch die Grübelei mit Kopfschmerzen gestraft, schleppte ich mich beim ersten Abenddämmern zu Bett und verfiel in tiefen Schlaf.
Unruhig wälzte ich mich hin und her, denn ich träumte sonderbare Dinge. Leise Musik tönte durch meinen Traum, doch ich konnte nicht sagen, ob ich mir diese einbildete oder ob sie tatsächlich da war. Ich schwitzte unter meiner Decke, doch fror erbärmlich, sobald ich sie wegschleuderte.
Ein lautes, misstönendes Geräusch, wie wenn jemand mit der ganzen Hand auf die Tasten eines Klaviers schlug, ließ mich auffahren. Mein Herz hämmerte, doch ich wusste, ich war wach, denn durch die plötzliche Bewegung schmerzte mein Rücken. Ich konnte den Nachhall des schrecklichen Geräusches noch hören, es musste also tatsächlich passiert sein.
Hatte ich ein Fenster aufgelassen? War vielleicht eine Katze oder ein Marder im Haus und war auf die Tasten gesprungen? Ich hüllte mich fröstelnd in meinen Bademantel und verließ das Schlafzimmer in Richtung Wohnzimmer. Es war dunkel und leer dort. Ich konnte kein Tier ausmachen und auch kein Fenster, das offenstand.
Hatte ich mir das Geräusch tatsächlich eingebildet und nur geträumt? Ich träumte doch sonst nicht so realistisch...?
Ich beschloss, wieder schlafen zu gehen und wollte gerade das Wohnzimmer wieder verlassen, als mir etwas auffiel, das mir Eiswasser über den Rücken laufen ließ.
Ich hatte Virgils Notenblätter und den Füller wieder zurückgelegt, nachdem ich es betrachtet hatte. Ich hatte sogar die Schranktüren der Kommode wieder geschlossen.
Doch auf der Notenablage des Flügels lag nun die letzte, blutverschmierte Seite des Stückes zusammen mit ebenjenem Füller!
Eiseskälte hatte meinen ganzen Körper im Griff, als sich zu allem Übel auch noch die Gardine am Fenster bewegte. Ich machte auf den Hacken kehrt und verkroch mich, zitternd, unter meiner Bettdecke.
Das hatte ich mir sicher alles nur eingebildet. Ich hatte den Tag lang einfach zu viel darüber nachgedacht und das Gerede der Alten, die mir was von Geistern erzählen wollte, tat ihr Übriges.
Es gab keine Geister und schon gar nicht in meinem Haus!!
Ich fror und zitterte, denn plötzlich war mir kalt bis ins Mark.
Als ich erwachte, fühlte ich mich, als hätte mich ein Bulldozer überfahren. Ich hatte Kopfschmerzen und das Gefühl, gar nicht geschlafen zu haben. Mein Rücken tat weh und auch die leichten Entspannungs- und Dehnungsübungen, die mein Physiotherapeut mir gezeigt hatte, halfen nicht wirklich. Wie ein alter Mann schlich ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen.
Wie ein Magnet zog das Klavier meinen Blick auf sich und erneut kroch die Kälte über meinen Rücken.
Die Notenablage war leer. Kein blutverschmiertes Notenblatt, kein alter Füller.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und lachte auf.
Ich hatte es also doch alles nur geträumt. Wahrscheinlich war ich schlafgewandelt in der Nacht, im Wohnzimmer aufgewacht und alles, was ich gesehen hatte, waren Nachhalle des Traumes und des Mitgefühls, das ich für die beiden Liebenden hatte, die nicht zusammen sein konnten, weil die Zeit es ihnen nicht gestattete.
Mit meinem Kaffee und etwas Toast machte ich es mir auf meinem Sofa bequem und beobachtete, wie die blasse Sonne über die Klippen kroch. Durch die Rückenschmerzen war an Arbeiten im Haus nicht zu denken und so vergrub ich mich in einem der alten Bücher von Edgar Allan Poe.
Ich musste über dem Buch eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwachte, war die Nacht hereingebrochen und ich fröstelte, denn das Fenster stand offen.
Ich schloss es und erhob mich, um mir vor dem Schlafengehen noch einen Tee aufzubrühen. Als ich das Wohnzimmer wieder betrat, war es jämmerlich kalt und ich konnte sehen, wie mein Atem vor den Lippen kondensierte. Diese Kälte konnte unmöglich durch das zuvor geöffnete Fenster entstanden sein, dabei hätte ich niemals schlafen können. Ich klammerte meine kalten Finger um die Teetasse und fühlte mich plötzlich unwohl, als würden unsichtbare Augen jeden meiner Schritte beobachten.
»Merk dir für die Zukunft, Christopher: Rede niemals mit alten Leuten im Dorf, die dir was von Geistern erzählen!«, nuschelte ich zu mir selbst und hockte mich auf das Sofa, in der Absicht, noch eine halbe Stunde fernzusehen. Doch bevor ich nach der Fernbedienung greifen konnte, ertönte eine leise Melodie, als streichelte jemand mit den Fingern über die Tasten des Flügels.
Ich erstarrte in der Bewegung und spürte, wie Eiswasser in meinem Körper aufstieg. In Zeitlupengeschwindigkeit wandte ich meinen Kopf zu dem Instrument und sah, dass sich die Tasten tatsächlich bewegten. Jedoch sah ich niemanden, der spielte. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment den Verstand zu verlieren und sprang, als erste logische Reaktion, auf und ging zu dem Flügel hin.
Irgendwer versuchte doch da sicher, mir einen Streich zu spielen?!
Mit jedem Schritt wurde es kälter und ich realisierte, dass der Flügel die Quelle der Kälte im Raum war.
»Was geht hier vor, verdammt?«, murmelte ich und lauschte weiter der feinen Melodie, so voller Hoffnung und Freude, als wäre derjenige, der sie spielte, in dieser Sekunde glücklich gewesen. Ich wollte auf eine der Tasten drücken, um den Spuk zu unterbrechen, doch ich konnte es nicht. Irgendetwas in mir sperrte sich dagegen, das Spiel zu stören und so lauschte ich stumm, bis die Melodie sich änderte. Sie wurde dunkler, melancholischer. Leidvoller.
»Charles...«, flüsterte es plötzlich mitten in das Spiel hinein und ich glaubte, für den Bruchteil einer Sekunde die Gestalt eines jungen Mannes am Flügel sitzen zu sehen. Eine Gestalt, die ich von einem vergilbten Foto her kannte.
Die gesammelte Spannung in mir entlud sich, ich machte ein undefinierbares Geräusch und stürmte aus dem Wohnzimmer in mein Schlafzimmer. Mit einem Knall schlug ich die Tür hinter mir zu und atmete schwer. Das leise Spiel des Flügels brach mit jenem schrecklichen Geräusch ab, was ich auch in der vergangenen Nacht gehört hatte und erbrachte mir somit den Beweis, dass ich dieses nicht geträumt hatte.
Ich weigerte mich, zu glauben, dass der Geist von Virgil Whitman noch immer in diesem Haus war, auch wenn er mir scheinbar nichts antun wollte. Er wollte offenbar nur auf seinem Flügel spielen. Doch er hatte doch gesprochen, oder hatte ich mir das eingebildet?
Charles, hatte er gesagt. Hielt er mich für ihn? Wir hätten immerhin Brüder sein können... Nach Luft und Fassung ringend lauschte ich ins Wohnzimmer, doch der Spuk war vorbei. Alles war ruhig und auch die Luft hatte sich wieder erwärmt.
Überreizt legte ich mich zu Bett und obwohl ich den ganzen Tag verschlafen hatte, fiel ich schnell wieder ins Reich der Träume. Sonderbare Träume, an die ich mich nicht erinnerte, als ich aufwachte.
»Ok Virgil...«, murmelte ich, als ich auf der Bank vor dem Flügel saß, »es scheint so, als müssten wir beide miteinander auskommen. Also ich lass dich spielen und du versuchst nicht, mich umzubringen, einverstanden?« Die vergangenen vier Nächte war es dasselbe Spiel. Immer zu einer bestimmten Uhrzeit ertönte die feine Klaviermusik voller Sehnsucht, Schmerz und Trauer und immer zu einer bestimmten Stelle, die für mich immer dieselbe zu sein schien, brach es mit dem misstönenden Geräusch ab und es war wieder still im Haus.
Ich kam mir total dumm vor, mit der Stille im Haus und zu einer Erscheinung zu reden, die ebenso ein Nachhall all dessen gewesen sein könnte, was ich erfahren hatte. Doch das war nicht wirklich viel.
Ich musste noch mehr erfahren, wenn ich verstehen wollte, was hier vor sich ging und mir fiel die alte Dame ein, die das Haus all die Jahre gepflegt hatte, seit dem Tag, an dem Virgil starb.
Wenn jemand etwas wissen musste, wirklich wissen musste, dann war sie es, immerhin musste sie Virgil gekannt haben.
Hektisch durchblätterte ich die Unterlagen des Maklers in der Gewissheit, dass die Telefonnummer der alten Dame darunter war. Ich war schon halb am Durchdrehen, als sie mir endlich in die Hände fiel und ich sie anrufen konnte.
Eine Stunde später hielt ich vor einem ebenso kleinen, aber etwas schäbigeren Haus als meines es war und stieg aus meinem Wagen. Das Haus wirkte sauber, doch der Garten machte einen nicht sehr beachteten Eindruck. Es wunderte mich aber auch nicht, immerhin war Miss Hawthorne bereits über 70 und sicher nicht mehr in der Verfassung, das alles allein zu stemmen.
Ich betätigte den altmodischen Türklopfer und im Haus ertönte das Kläffen eines kleinen Hundes, gefolgt vom Knarren der Bodenbretter.
»Wer ist da?«, hörte ich eine raue Stimme hinter der Tür.
»Christopher Wyatt, Miss Hawthorne. Wir hatten telefoniert.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt und eine weißhaarige Frau blickte hindurch. Nach einem Nicken öffnete sie die Tür ganz für mich und bat mich herein. Das Haus roch nach alten Menschen, irgendetwas Gebackenem und Zitronen.
»Der Besitzer von Primrose House. Es wundert mich gar nicht, dass Sie sich an mich wenden.« Die alte Dame wies mir an, mich zu setzen und kam nach einem Moment mit einem Teetablett aus der Küche zurück.
»Warum sagen Sie das, Miss?«
Sie nahm Platz und lachte ein leises Lachen.
»Weil bisher jeder zu mir kam, wenn etwas sonderbares in dem Haus geschehen ist. Nur wundert es mich, dass Sie bereits in der ersten Woche hier auftauchen. Sagen Sie bloß, Virgil hat sich Ihnen bereits gezeigt?«
Ich nickte perplex, schob jedoch hinterher, dass ich nicht an Geister glaubte und an eine natürliche Ursache dachte.
»Der Flügel fängt nachts an zu spielen, richtig? Und immer endet es abrupt an einer bestimmten Stelle seines Musikzyklus?«
Ich spürte, wie die Gänsehaut mich erneut überkam und war froh, dass mein langes Sweatshirt dies versteckte.
»Was ist in diesem Haus geschehen, Miss Hawthorne?«
»Vielmehr sollte man fragen, was dort nicht geschehen ist. Virgil bekam das Haus von seinen Eltern, als er die Musikhochschule abgeschlossen hatte. Eigentlich, damit er dort mit der Gründung einer Familie beginnen konnte. Doch dazu kam es nicht.«
»Weil er vorher starb?«
»Nein. Doch Virgil war... etwas aus der Art geschlagen. Er fand kein Interesse an Frauen.«
»Sie meinen, er war schwul?«
»So nennt man es heute wohl, ja.«
»Miss Hawthorne, wer war Charles Lancaster?«
Ein kurzes Zeichen der Überraschung breitete sich in dem Gesicht der alten Dame aus, doch dann lächelte sie.
»Charles... er war ein netter Junge. Er war Virgils bester Freund und stand ihm näher als irgendjemand anders. Sogar näher als ich ihm stand.«
»Sie, Miss Hawthorne?« Ich hatte einen Verdacht, was es mit der Frau auf sich hatte, doch ich wollte es lieber von ihr hören. Wenn dem nämlich nicht so war, könnte sie das brüskieren.
»Virgil war mein Verlobter. Zumindest offiziell. Lieben tat er sein Leben lang nur Charles. Und dieser liebte ihn. Doch zusammensein, wie man das heute kann, war damals nicht möglich. Ihre Liebe fand im Verborgenen statt und Virgil drückte sie durch seine Musik aus, die ihn mit nicht einmal 20 Jahren zu einem der meistgefeierten klassischen Pianisten und Komponisten Englands aufsteigen ließ.«
»Und dann hatte Charles diesen Unfall...?«
»Woher wissen Sie das, Mr. Wyatt?«, fragte die alte Dame mit einem Anflug der Überraschung in der Stimme.
»Ich habe in der alten Kommode am Flügel ein kleines Geheimfach gefunden, darin waren ein paar Zeitungsausschnitte«, erklärte ich. Miss Hawthorne nickte.
»Ja, dann hatte er diesen schrecklichen Unfall. Virgil war von diesem Tag an nie wieder der Alte. Er vergrub sich in seinem Haus, lachte nicht mehr, redete kaum noch mit anderen und begann, wie verrückt an seinem Zyklus zu arbeiten. Er wollte es zu Ehren Charles‘ der Welt präsentieren, egal, ob ihn das reich machen oder ruinieren würde. Sehr zum Verdruss seines Agenten, der ihn auf die Bühne zurückholen wollte. Für Virgil galt es jedoch nur, den Zyklus zu beenden. Doch das war ihm nicht vergönnt. Und deswegen ist er noch da. In diesem Haus. Er wartet auf den Tag, an dem er den Zyklus wird beenden können. Als letztes Geschenk seiner Liebe.«
Ich verharrte einige Minuten stumm und gedachte dieser beiden unglücklichen Menschen.
»Wie kam er zu Tode?«
Miss Hawthorne blieb eine ganze Weile still sitzen und ich glaubte, Tränen in ihren dunklen Augen aufsteigen zu sehen, als sie tief durchatmete und zu reden begann:
»Er starb an seinem Flügel sitzend, während er komponierte. Als ich ihn fand, lag sein Kopf auf den Tasten und er sah aus, als würde er schlafen. Blut war auf die Notenblätter gespritzt und sein Hinterkopf war schrecklich verletzt. Auf dem Boden lag noch der schwere Kerzenständer, mit dem er erschlagen wurde.«
Sie wischte sich mit einem Spitzentaschentuch über die Augen und ich schwieg betroffen. Es musste eine schreckliche Erfahrung gewesen sein, einen guten Freund so zu finden.
»Sein Agent gestand einige Tage später, ihn im Streit umgebracht zu haben, weil Virgil sich weigerte, die Arbeit an seinem Stück für einige Konzerte zu unterbrechen.«
Ich lehnte mich in dem Sessel zurück und nippte an meinem Tee. Das misstönende Geräusch, mit dem das Klavierspiel stets geendet hatte – konnte das der Moment sein, in dem Virgil starb? Dass seine Seele dies immer und immer wieder durchlebte, weil er sein Werk nur bis zu diesem Moment hatte schreiben können?
»Doch ich habe Hoffnung für ihn«, hörte ich die Stimme von der alten Dame in meinen Gedanken und blickte sie wieder an.
»Wie meinen Sie das?«
Miss Hawthone lächelte mich an, wie viele freundliche alte Damen dies mit jüngeren Mitmenschen taten. Ein bisschen, als hielten sie einen für ein bisschen naiv und dumm, aber liebenswert.
»Sie sind doch jetzt da. Und Sie sehen genauso aus wie der gute Charles. Virgil hat bisher noch jeden Hausbesitzer nach kürzester Zeit aus dem Haus geekelt, denn er kann sehr penetrant sein, wenn er jemanden dort nicht haben will. Doch für Sie hat er gespielt. Das ist ein gutes Zeichen. Sie müssen ihm nur zuhören.«
Mit diesen Worten machte sie mir deutlich, dass sie allein sein wollte und ich machte mich auf den Weg, nachdem ich mich artig für den Tee und die Geschichte bedankt hatte.
Im Auto auf dem Weg zu meinem Haus dachte ich über ihre letzten Worte nach. Ich müsse ihm nur zuhören. Das hatte auch die alte Frau aus dem Zeitungskiosk gesagt.
War es wirklich so einfach? Virgil hatte Breathing Silence für Charles geschrieben, der es niemals gehört hatte und würde hören können. Konnte ich in meiner optischen Ähnlichkeit zu dem jungen Mann, Virgil diesen Frieden geben, indem ich ihn einfach spielen ließ?
Ich spürte, wie mir schon bei dem Gedanken daran eine Gänsehaut über den Rücken kroch und das mir trotz des milden Herbstwetters kalt wurde.
Ich entspannte mich, als ich die Haustür öffnete und augenblicklich die Wärme spürte, die im Haus war. Nichts fühlte sich nach unnatürlicher Geisterkälte an, alles war kuschelig und gemütlich.
»Na gut... also Zuhören... Beenden wir, was beendet werden will«, machte ich mir selbst Mut, öffnete den Schrank der Kommode und legte den Stapel Notenblätter darauf. Sorgsam darauf achtend, diese nicht zu beschädigen, stellte ich das letzte Blatt des Zyklus auf die Notenablage und legte den Füller dazu, den Virgil zum Schreiben benutzt hatte.
Ich hatte den Verdacht, dass er, wenn Miss Hawthorne Recht hatte, erst bei Einbruch der Nacht zurückkommen würde.
Ich liebte dieses Haus schon jetzt und ich war mir sicher, es auch mit einem Geist zu tun, der mir jede Nacht ein Ständchen brachte, doch ich wollte dieser gequälten Seele das geben, was es zu brauchen schien, um endlich Frieden zu finden.
50 Jahre waren Virgil und Charles bereits tot und hatten immer noch nicht zueinander gefunden. Das stimmte mich traurig.
Ich hockte wie auf Kohlen, als der Abend hereinbrach. Ich konnte mich weder auf den Fernseher konzentrieren noch auf die Zeitschrift, die ich zu lesen versuchte. Meine Augen wanderten immer zu dem einsamen Flügel zurück und ich wartete, ob er auftauchen würde. Die Zeit tickte von der Uhr herunter und ich spürte, dass Müdigkeit mich überkam.
Ich hatte die vergangenen Tage wegen Virgils nächtlichen Überfällen und der Anspannung darüber, scheinbar einen Geist zu haben, nicht wirklich gut geschlafen. Ich dämmerte auf dem Sofa und blickte, ohne etwas zu sehen, auf meinen Fernseher, als das Licht plötzlich zu flackern begann. Auch der Fernseher war plötzlich stumm und ich spürte die geisterhafte Kälte im Raum aufsteigen.
Ich biss mir auf die Zunge, um der Spannung im Körper standzuhalten, als das leise Spiel einsetzte. Ich wandte meinen Kopf und diesmal war er da. Deutlich sichtbar, leicht transparent und bläulich schimmernd saß der Mann, den ich deutlich als Virgil erkannte, auf der Bank vor dem Flügel.
»Virgil?«, versuchte ich auf gut Glück, ob er reagieren würde oder nur ein Schatten war, gefangen in einer immer wiederkehrenden Erinnerung.
»Sprich nicht, Charles. Bitte«, antwortete die Erscheinung mir und die Gänsehaut nagte kribbelnd an meinem Nacken. Er hatte mich gehört!
»Ich bin nicht Charles. Ich bin Christopher.«
Das Spiel setzte aus und der Kopf des jungen Mannes wandte sich mir mit einem feinen Lächeln zu.
»Ja. Charles wurde mir genommen. Doch dein Gesicht ist wie seines.«
»Bitte... erzähl mir deine Geschichte.«
»Ich kann sie dir erzählen. Wenn du gut zuhörst«, flüsterte die Geisterstimme, die trotz der Kälte um ihn herum eine gewisse Wärme hatte, wieder und das Klavierspiel begann erneut, zart und mit flinken Fingern, ohne zu stocken, intensiv und wohltönend.
Ich schloss die Augen und hörte auf jede Note, die Virgil spielte. Und in der Tat erzählte er mir seine Geschichte. Und die von Charles. Durch die Musik entstanden Bilder vor meinem geistigen Auge, Bilder, die Liebe zeigten, Spaß und Glück. Doch sie zeigten mir auch Virgils Trauer und den Verlust, den er erlitten hatte, als er Charles verlor.
Meine Gänsehaut hatte in dieser Zeit, in der Virgil spielte, eine andere Ursache. Seine Musik ging so tief in mich hinein, dass ich gezwungen war, mir die Tränen von den Wangen zu wischen.
»Die Stille wird sich mit Leben füllen. Sie wird atmen und anders sein als alles zuvor«, flüsterte Virgil und ich konnte ein trauriges Lächeln unter seinen schwarzen Augen erkennen.
Ich erschrak jämmerlich, als das misstönende Geräusch erklang und Virgil mit einem Schlag nicht mehr zu sehen war. Verschwunden mitsamt der Kälte und den tiefen Gefühlen, die er mitgebracht hatte.
»Nein... nein... Verdammt!«, schluchzte ich fast, denn ich wollte nicht, dass sein Spiel aufhörte. Ich wollte nicht, dass ihn jemand hinderte, dieses Werk zu vollenden. Die Stille atmen zu lassen, wie er es wollte, seit Charles starb.
Aufgewühlt stand ich auf und ging auf den Flügel zu. Meine Hände glitten über die kühlen Tasten und ich wollte mich schon abwenden, als mir etwas auffiel.
Auf dem Notenblatt, welches die Blutflecken entstellt hatten, glänzte noch feucht die Tinte, die einen ganzen Absatz neuer Noten geschrieben hatte.
Ich lächelte.
Es hatte tatsächlich funktioniert. Virgil konnte sein Werk fortsetzen, weil ich nicht geflohen war. Weil ich seiner Geschichte, geschrieben in Noten, gelauscht hatte.
»Danke Charles«, hauchte es wie ein Windhauch durch das Haus und ich lächelte noch mehr. Vielleicht machte er das mit Absicht oder sein Geist konnte es nicht mehr verarbeiten, dass ich nicht Charles war.
Ich ging zu Bett, noch immer aufgewühlt von den herrlichen Melodien, die Saiten in mir zum Klingen gebracht hatten, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte.
Es vergingen Wochen, in denen die Abende so aussahen, dass ich auf meinem Sofa zusammengekauert und geschüttelt von meinen Gefühlen der Musik eines Geistes lauschte, dessen abrupte, misstönende Abgänge immer seltener wurden.
Ich verstand mehr und mehr, warum Charles Virgil geliebt hatte und warum es auch die alte Miss Hawthorne tat, auch wenn sie ihn niemals hätte haben können. Er war ein Genie und er lebte in jeder einzelnen Note, die einen so tief berührte, dass man sich nackt bis auf seine Seele fühlte.
Selbst ich, der ich niemals romantische Gefühle für Männer hegte, entdeckte, dass ich in einer Art Liebe zu diesem Mann entbrannt war, nur ausgelöst durch das epochale Werk, das er schuf und nur beenden konnte, weil ich ihm zuhörte.
Schon lange hatte ich nicht mehr den Wunsch, diesen „unliebsamen“ Hausgeist loszuwerden. Und so fürchtete ich mich vor dem Tag, an dem Breathing Silence fertig sein würde. Denn so sehr ich ihm wünschte, seinen Frieden zu machen und endlich zu Charles gehen zu können, so sehr bedauerte ich den Verlust dieses wunderbaren Talents und dieser Seele, die es schaffte, mich bis in die Grundfesten zu erschüttern.
Eines Abends im Dezember erwachte ich, der ich auf meinem Sofa eingeschlafen war, als die mittlerweile allzu vertraute Kälte sich in meine Glieder schlich. Ich setzte mich auf und sah wie immer zum Flügel hinüber.
Virgil saß nicht wie immer auf der Bank und hatte die Hände auf den Tasten, er stand am Fenster und sah in das Schneetreiben. Er war längst nicht mehr transparent wie ein Leichentuch, doch er schimmerte immer noch blau und sprach so leise, dass es wie ein Flüstern an mein Ohr drang. Auch wenn er Meter von mir wegstand, hörte ich sein Flüstern so deutlich, als würde er seine Lippen an mein Ohr legen.
»Virgil?«
»Es ist vollbracht. Die Stille hat sich mit Leben gefüllt.«
»Bedeutet das, du wirst mich verlassen?«
Ein flüsterndes, geisterhaftes Lachen hauchte durch das Haus, als käme es von überall her. Es war amüsiert, nicht gehässig.
»Das muss ich wohl. Doch ich bin dir zu immerwährendem Dank verpflichtet, Christopher. Erst durch dich konnte es vollbracht werden. Du hast Charles und mich vereint.«
Virgils bläulich schimmernde Hand legte sich auf den ordentlichen Stapel mit Notenblättern und er lächelte in die Ferne, als würde er etwas sehen, dass nur er wahrnehmen konnte.
»Es war Winter, als ich Charles verlor. Und es war Winter, als ich starb. Welch wunderbarer Zufall, dass es nun ebenfalls Winter ist.«
Seine Stimme wurde leiser und ein nie gekanntes Gefühl der Trauer breitete sich in mir aus. Ich hatte Virgil nicht als Menschen gekannt, doch ich wusste, dass er mir fehlen würde. Wie ein guter Freund, den ich lange Zeit nicht gesehen hatte.
»Ich überlasse die Noten dir. Du sollst sie besitzen. Dort, wo ich hingehe, brauche ich sie nicht mehr.«
Ich nickte und rieb mir über die Augen. Als ich diese wieder öffnete, war der blaue Schimmer Virgils verschwunden, ebenso seine Kälte. Nichts war zurückgeblieben als ein dickes Bündel Noten, für die sein Komponist gestorben war und eine wehende Gardine.
»Leb wohl, Christopher«, hörte ich Virgils Stimme ein letztes Mal und ich glaubte, neben seiner Stimme noch eine andere zu hören, die nach ihm rief.
Mit einem Lächeln nahm ich das Notenbündel und strich mit den Händen darüber.
Virgils Stille war nun endgültig mit Leben ausgefüllt.
Künstler und Muse hatten nach über 50 Jahren der Einsamkeit und Trennung endlich zueinander gefunden und ich hatte schon längst vergessen, wie beängstigend ich anfangs den Gedanken fand, einen Geist im Haus zu haben.