Südirland
24. Mai 1714
Regungslos saß sie mit angewinkelten Beinen im Gras und sah hinaus auf die See, über der sich, weit weg von ihr, die Energie eines Gewitters entlud. In einem fantastischen Lichtspektakel zuckten die Blitze auf das Wasser hinab und erhellten so für kurze Momente das tiefschwarze Nass.
Verächtlich schnaubte sie in die schwarze Nacht, als sie sich bewusst wurde, wie sehr doch das Gewitter dem Konflikt in ihrem Herzen ähnelte. Sie sah deutlich, dass er da war, doch war er unerreichbar für sie und sie konnte keinen Einfluss darauf nehmen, dem Ganzen kein Ende setzen. Einzig und allein die Zeit würde den Konflikt klären. So wie sich das Gewitter irgendwann verziehen würde, so würde sie sich irgendwann im hohen Alter mit ihrem Schicksal abgeben müssen.
Tief sog sie die kühle, nach Regen duftende Luft in ihre Lunge und schloss die Augen. Eine Träne rollte ihr über die, mit Sommersprossen gezierte Wange und verschwand in der grauen Wolle der dünnen Jacke, die sie sich über die Schultern gelegt hatte.
Sie würden nie wieder gemeinsam Zeit an diesem Ort verbringen. Und, wenn doch würde man sie verspotten und verhöhnen. So wie sie es alle stets taten, wenn jemand nicht das tat, was sie für richtig erachteten. Als seinen sie ihre Schafe, die nicht anderes taten, als ein braves Teil der Herde zu sein.
Wenn es doch nur einen Ausweg gäbe, dachte sie, wie so oft schon zuvor und schluckte den Brocken in ihrem Hals hinunter. In diesem Moment zog ein Windstoß vom Meer aus über sie hinweg und zerrte an ihrem roten langen Haar. Es fröstelten sie und sie rückte ihr verrutschtes Jäckchen zurecht.
Sie blickte an sich hinunter und konnte im matten Mondschein sehen, dass sie eine Gänsehaut überzog. Automatisch strich sie sich mit ihrer Hand über den Arm. Sie wusste, dass es stumpfsinnig war, die Nacht hier draußen am Meer zu verbringen. So sehr sie sich auch wünschte, einfach an diesem Ort zu verweilen, krank wollte sie dennoch nicht werden.
Schweren Herzens entschloss sie sich dazu, diesen augenscheinlich friedvollen Ort, an dem so viele Erinnerungen hingen und an dem sie so viel Zeit mit ihm verbracht hatte, zu verlassen und heimzukehren. In das Haus, dass sie niemals wieder betreten wollte. Zu der Familie, zu der sie nicht gehören wollte. Und besonders zu dem Mann, der nie hätte in ihr Leben treten sollen. Sie sah nach oben, gen Himmel und fragte Gott, was er mit ihr vorhatte. Warum bestrafte er sie mit einem derartigen Schmerz?
Während sie sich aus dem Gras erhob, stockte sie und lauschte in die Nacht. Hatte sie da ein Geräusch aus Richtung der Stadt gehört, oder war es nur das Donnergrollen, das vom Hügel widerhallte? Sie richtete sich ganz auf, horchte noch ein Mal. Und dieses Mal vernahm sie es deutlich. Das klappernde Geräusch wurde allmählich lauter. Waren es Hufschläge?
Sie starrte in Richtung der Stadt, die hinter dem kleinen Hügel verborgen lag. Es dauerte noch einige Augenblicke, in denen das Schlagen der Hufe lauter wurde, doch schließlich sah sie, wie sich die Silhouette eines Reiters vom Nachthimmel abhob und den Hügel herunter auf sie zu steuerte. Ganz offensichtlich wollte der Reiter zu ihr.
Wie angewurzelt stand sie mit nackten Füßen im Gras, die dünnen Lederschuhe in ihrer linken Hand, mit der Rechten hielt sie das Jäckchen vor ihrer flachen Brust zusammen. Zu jedem anderen Moment hätte sie sich versteckt oder wäre davon gelaufen. Doch ihr Instinkt sagte ihr, dass es nicht nötig war, vor dem Reiter zu flüchten.
Der Kavalier passierte das freie Wiesenland in wenigen Atemzügen und erreichte sie schnell. Nur wenige Meter von ihr stoppte er das Tier unter einer knorrigen Eiche. Gekonnt schwang er sich aus dem Sattel und rief dabei keuchend ihren Namen.
„Noreen!“
Urplötzlich, als hätte Gott sie selbst ergriffen, verschwanden die drückenden Gefühle von Kummer und Elend aus ihr. Überrascht von seinem Kommen taumelte sie wie im Schlaf auf ihn zu. Er tat es ihr gleich, bis sie sich direkt gegenüber standen.
„Cian.“ Die Liebe, mit der sie seinen Namen aussprach, wirkte wie ein wärmendes Feuer in einem Schneesturm. Verliebt sah sie zu ihm hinauf und konnte nicht fassen, was gerade geschah. Ihr Herz dagegen raste so wild, als wollte es aus ihrer Brust ausbrechen.
Als er sprach, klangen seine Worte so ungewohnt klar und gewählt. Ganz im Gegenteil zu denen, die er erst vor wenigen Nächten ausgesprochen hatte, als sie ihm von ihrer Hochzeit berichtet hatte. Sie beide hatten es kommen sehen. Schon seit vielen Wochen hatte es sich angebahnt. Doch als der Moment der Wahrheit gekommen war, hatte es sie beide mit ganzer Wucht getroffen. Wie ein Faustschlag in die Magengrube, so hatte es sich angefühlt, als ihr Vater in ihre Kammer marschiert war und die frohe Kunde posaunt hatte. Sie schluckte und schüttelte den Gedanken ab. Er war hier, stand direkt vor ihr und das war alles, was in diesem Moment zählte.
„Noreen“, wiederholte er ihren Namen, „du solltest etwas wissen.“ Zwar vernahm sie seine Worte sehr deutlich, doch konnte sie keinen Sinn darin finden. Viel mehr klang es wie eine Melodie, irgendwie bekannt und doch neu.
„Hörst du mir zu?“, fragte er, als er bemerkte, wie sie ihn, wie aus einer anderen Welt aus, ansah. Als sie nicht reagierte, fragte er noch einmal und packte sie liebevoll an den Schultern, um sicherzugehen, dass sie geistig bei ihm war. Wie aus einem Traum gerissen blinzelte sie und nickte dann knapp zur Bestätigung.
„Hör zu, bevor du in wenigen Stunden...“, er schluckte. Offensichtlich konnte er nicht aussprechen, was ihm im Sinn stand. Sie konnte sich denken, was er sagen wollte. Sie öffnete den Mund, um seinen Satz zu beenden, doch brachte sie kein Wort über die Lippen. Ein Moment verstrich, in denen er seine Gedanken neu sortierte, dann setzte er erneut an und sagte es mit fester Stimme gerade heraus. „Ich werde Irland verlassen.“
„Was?“, entfuhr es Noreen harsch. Noch während die Frage, die vielmehr einem anklagenden Zischen glich, in ihren Köpfen Widerhall fand, bemerkte sie, dass ihre Reaktion bissiger klang, als es ihr lieb war. Doch sie hatte es ausgesprochen und konnte es nicht zurücknehmen. Dessen war sie sich bewusst und so sah sie ihn mit wehleidigem Blick an, unsicher darüber was sie mit ihrer verständnislosen Reaktion bei ihm ausgelöst haben könnte.
Cian hatte offensichtlich eine derartig unwirsche Antwort erwartet. Und auch wenn sich seine Gesichtszüge nicht regten, so wusste sie genau, wie er dachte. Schon vor vielen Jahren hatte sie gelernt aus seinen blauen Augen zu lesen. Auch bei dieser beinahe vollkommenen Dunkelheit konnte sie sehen, wie sich ein Anflug von innerem Frieden in seinen Augen regte. Dann spürte sie, wie seine Hand über ihren Arm strich, dann über die Schulter.
Nun, da sie so still schweigend voreinander standen, kamen die Gefühle zurück. Wie dunkle Schatten krochen sie in ihren Kopf und trieben ihr Tränen in die Augen. Doch die Einsicht, die den Schmerz hätte lindern und die Schatten vertreiben können, blieb im Verborgenen. Als sich die erste Träne von ihren feuchten Augen löste und über ihre Wange rann, strich Cian sie mit seinem rauen Daumen fort.
Wenn nur alles so einfach wäre.
Auch seine Augen waren feucht, dass erkannte sie in der Dunkelheit. Sie erkannte aber auch, dass er mit sich rang, versuchte nicht schwach zu werden. „Noreen“, hörte sie ihn mit zittriger Stimme ihren Namen ein weiteres Mal flüsterte, doch er sprach aus einer anderen Welt zu ihr. Der Wind zerwühlte ihr Haar, zerrte an ihrem Kleid und ihrer Jacke. Beinahe so, als wollte er sie davon tragen, weg von dieser unredlichen Situation.
Noreen wich nicht zurück, als er sie an sich zog. Er griff ihr ins rote Haar und küsste sie auf den Mund. Sie spürte seine rauen Lippen auf ihren, wusste, dass es falsch war. Doch wider aller Gebote und gesellschaftlicher Normen, erwiderte sie den Kuss. Es war als küsste sie den Wind und gleichzeitig ein Feuer. Gerade steigerte sie sich hinein, da löste Cian abrupt sich von ihr. Betreten sah er zu Boden. „Verzeih mir. Ich hätte dich nicht in diese Situation bringen dürfen.“
Mit dieser Wendung hätte sie niemals gerechnet. Verwirrt blickte sie zu ihm auf. Ihre Gefühle schlugen Purzelbäume und sie wusste nicht so recht was sie antworten oder nun tun sollte.
Noch bevor sie etwas sagen konnte, kam ihr Cian zuvor. „Ich werde nun gehen, Noreen.“ Gerade hatte er das letzte Wort ausgesprochen, da begann er sich von ihr zu entfernen. Schnell sogar, als hätte er von ihr etwas zu befürchten. Er griff die Zügel seines Pferdes, das die ganze Zeit still in der Nacht gestanden hatte, setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel.
„Warte!“ Ihr Piepsen ging beinahe im Wind unter, doch Cian vernahm es und sah noch einmal zu ihr. Aus ihrer Lähmung des Schocks befreit, griff sie in den Ausschnitt ihres Kleides und zog eine Kette hervor. Cian konnte in der Dunkelheit der Nacht nichts Genaues erkennen, doch Noreen sagte ihm, was es war. „Das ist der hölzerne Ring, den du mir in unserer Kindheit schenktest. Weißt du noch, was du mir versprachst?“
Cian schluckte. Es tat weh, als er hörte, was er sagte. „Ich versprach dir, dich zu meiner Frau zu nehmen.“ Fast so, als wusste das Tier, worum es ging, machte es einige Schritte auf Noreen zu, bis es mit Cian auf dem Rücken, vor ihr stand.
Behutsam, fast so als zerbräche sie, wenn sie nicht gut genug darauf Acht gab, nahm sich Noreen die Kette ab und reichte sie zu Cian hinauf. Der zögerte zuerst, doch dann griff er mit spitzen Fingern danach und betrachtete sie in matten Licht des Mondes. „Ich wünsche dir alles Glück der Welt“, flüsterte Noreen mit zittriger Stimme. „Das soll dich immer daran erinnern.“
Stumm nickte Cian ihr zum Dank und legte sich sogleich die Kette an. In der Erwartung noch einen Kuss geschenkt zu bekommen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, doch Cian schloss betrübt die Augen und wendete stumm sein Pferd. Dann ritt er in die Nacht davon. Kein Abschied.
„Wenn du wieder kommst, werde ich auf dich warten!“, rief sie ihm verzweifelt hinterher, doch egal wie ernst sie es am liebsten gemeint hätte, so wussten doch beide, dass es eine Lüge war. Eine Lüge um den Schmerz einzupferchen, der daran war, sich in ihren Herzen breitzumachen.
Als die letzten Hufschläge in der Ferne verklungen waren und nun wieder gänzlich Stille eingekehrt war, überwältigte es sie plötzlich. Sie konnte und wollte auch nichts dagegen tun, denn sie wusste es war echt. Ihre Beine knickten unter dem Gewicht ihres schlanken Körpers zusammen und so sank sie schluchzend im Gras zusammen.