Was die beiden Schmachtenden vor der Haustüre in keinster Weise bemerkten, war der Schatten am leicht gekippten Fenster des ersten Stocks, welcher den Worten heimlich lauschte.
Obgleich der Sturm gut die Hälfte des Gesprochenen übertönte, war doch genug zu verstehen, um dem roten Faden der Unterhaltung einigermaßen zu folgen.
Emma ging wie ferngesteuert zu ihrem Bett und ließ sich mit dem Bauch voran auf die Matratze plumpsen. Die Federn quietschten empört auf, doch das war dem Mädchen im Moment mehr als nur egal.
Ihre Mutter datete einen Italiener?! Seit wann das denn? Und warum wusste sie nichts davon?!
Vor knapp zwei Jahren hatten sich ihre Eltern scheiden lassen...
Emma fiel aus allen Wolken. Manchmal stritten sich ihr Vater und ihre Mutter schon, aber wenn, dann ging es nur um Kleinigkeiten, wie nicht einfach alle Sachen herumliegen zu lassen oder die angebissenen Essensreste nicht zurück in den Kühlschrank zu stellen.
Ansonsten konnte sich das Mädchen nicht an einen größeren Streit oder einen anderen Grund erinnern, der eine Scheidung rechtfertigen würde.
Ihre Mutter meinte lediglich, dass sie nicht mehr mit ihrem Vater auskommen würde und die gegenseitige Liebe fehle. Sie passten einfach nicht mehr zusammen...
Die Frage nach dem Warum beantwortete ihre Mutter mit dem Standardsatz:
"Kind, das verstehst du noch nicht..."
Damals war Emma dreizehn und schon der Ansicht gewesen es wenigstens versuchen zu können.
Dann ging alles ganz schnell...
Einen Monat später zog ihr Vater aus dem Haus aus und meldete sich anfangs noch jeden zweiten Tag.
Er meinte, dass er jetzt in einer nahegelegenen Stadt eine kleine Wohnung und einen Job bekommen hätte.
Als Emma ihn jedoch besuchen wollte, blockte er ab. Im Moment hätte er keine Zeit, die Arbeit lauge ihn aus und ließ ihn den restlichen Tag über schlafen.
Es kamen viele Päckchen und Geschenke, Briefe und Karten als Entschuldigung dafür, dass die Treffen ausblieben.
Vier Monate darauf hatte Emma das Warten jedoch satt.
Sie schlachtete ihr Sparschwein und machte sich auf den Weg zur Busstation. Während der Fahrt stellte sie sich aufgeregt das überraschte Gesicht ihres Vaters vor, wenn er sie vor seiner Tür stehen sehen würde. Sie vermisste ihn so sehr...
Nach unendlich vielen Stationen, war sie endlich in Holzkirchen angekommen und verließ mit einem alten Pärchen den stickigen Bus.
Orientierungslos blickte sie umher, hier war sie noch nie gewesen...
Mit einem Mal war Emma sich nicht mehr sicher, ob der spontane Ausflug eine gute Idee gewesen war.
Mit pochendem Herzen kramte sie in ihrer Hosentasche und fischte wenige Sekunden später erleichtert einen kleinen zerknitterten Zettel heraus. Es war das Stück eines Briefumschlags, das sie eilig abgerissen und eingesteckt hatte.
Suchend blickte sie umher und fragte kurzerhand einen jungen Mann mit Käppi nach der Straße.
Wenig später und glücklicherweise auch schlauer, war sie in der richtigen Straße angekommen und stand schließlich vor einem größeren Wohnkomplex. Mit zitternden Fingern suchte sie auf der schier endlosen Liste mit Namen, den ihres Vaters heraus und drückte auf den abgenutzten Klingelknopf.
Als auch nach einigen Minuten nichts geschah, klingelte sie ein zweites Mal und wartete mit angehaltenem Atem. Innerlich schalt sie sich dafür einfach so mir nichts dir nichts aufgebrochen zu sein ohne ihrer Mutter Bescheid zu geben oder sicher zu gehen, dass ihr Vater überhaupt zu dieser Zeit da war. Sie war ja so bescheuert...
Emma wollte sich schon umdrehen und gehen. Doch plötzlich ertönte ein Summen und das Mädchen drückte erleichtert die quietschende Türe auf. Im Eiltempo erklomm sie die Stufen zum fünften Stock und kam schweratmend auf dem Treppenabsatz zum Stehen.
Dem Architekten dieses Gebäudes war wohl nicht klar gewesen, wie essenziell Aufzüge für das Wohl der Allgemeinheit waren...
Aber jetzt gab es Wichtigeres. Emma ging mit klopfendem Herzen den Gang entlang und blieb schließlich vor der Tür mit der Nummer 57 stehen. Mit angehaltenem Atem und erwartungsvollem Blick klopfte sie und überlegte sich, was sie gleich zu ihrem Vater sagen würde.
Auf der anderen Seite der Tür konnte sie schlurfende Schritte vernehmen und kurz darauf auch eine Stimme.
"Wer is da?"
Emma zuckte zusammen und wich einige Schritte zurück. Ihr Lächeln fiel in sich zusammen und ihr war mit einem Mal ganz schlecht...
Nicht wegen der unhöflichen Wortwahl, vielmehr lag es an der Person selbst, die gerade zu ihr gesprochen hatte.
"Hallo, ich red mit dir du kleine Göre!", rotzte es aus der Wohnung.
"Ich...ähm ich....", stotterte Emma, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. In ihrem Kopf war plötzlich alles blank.
Mit Schwung wurde die Tür unvermittelt aufgerissen und das Mädchen stolperte abermals einige Schritte zurück.
Als sie die Person im Türrahmen erblickte, drehte sich ihr Magen entgültig um. Eine Frau mittleren Alters blickte sie herablassend an.
Die Unbekannte war spärlich bekleidet und trug lediglich einen grellpinken Bademantel. Ihre schwarzen Haare waren zu einem losen Knoten zusammengebunden und das Gesicht mit Tonnen von Schminke bedeckt. Sie stank nach Rauch und Alkohol.
"Wer bist'n du?", schnarrte sie und starrte Emma argwöhnisch und wie einen Eindringling an.
"I..ich, es tut mir leid. Ich hab mich wohl in der Tür geirrt..., murmelte das Mädchen zitternd und eingeschüchtert. Sie wollte schon aufstehen und gehen, als sie plötzlich eine weitere Stimme aus der Wohnung hörte.
"Wer ist da, Nadja?"
Mitten in ihrer Bewegung stoppte Emma und sah ungläubig in Richtung Tür. Das konnte nicht sein...
Das DURFTE einfach nicht sein!
Doch innerlich da war es ihr längst klar, denn sie hätte diese Stimme aus Tausenden wiedererkannt...
Mit von Tränen verschleierter Sicht machte sie auf den Absatz kehrt und ignorierte die Stimme der vulgären Frau, die ihr ein "Na also, verpiss dich!" hinterherrief.
Sie fühlte sich wie ein Zombie, als sie die Stufen bis zum Ausgang hinabschritt.
"Entschuldigung für die Störung.", murmelte sie, bevor sie entgültig in Tränen ausbrach.