Ich bin Anna, 24 Jahre alt, und komme wohl dem, was man als gewöhnlich bezeichnet, am nächsten. An mir gibt es nichts Auffälliges - mit Ausnahme von meinem Berufswunsch. Ich habe lange braune Haare. Meine Augen stehen ein bisschen zu nah beieinander, was meinen Kopf kleiner erscheinen lässt. Meine Nase ist gar nicht so groß, aber durch meine schmalen Lippen und diese nah beieinander stehenden blauen Augen, sticht sie hervor wie ein Neonschild – verdammt nochmal.
Meistens lasse ich meine Schultern hängen, wodurch sich anscheinend mein Rücken ein klein wenig wölbt. Also glauben Leute, denen ich begegne, dass ich einen Haltungsschaden haben und versuchen mir subtil mitzuteilen, dass ich zur Physio gehen soll – sag mal geht’s noch?
Ich habe Schuhgröße 38 bei einer Körpergröße von 1,75 m. Schlank bin schon, aber bestimmt nicht sportlich. Das sieht man daran, dass sich eine kleine Wampe an meinem Oberteil abzeichnet, wenn ich mich hinsetze. Könnte ich trainieren, hab aber keine Lust. Die Kundschaft interessiert sich sowieso nicht dafür. Die interessieren sich überhaupt nicht dafür, wie ich aussehe, ob mein Kopf zu klein aussieht oder mein Rücken eine Therapie nötig hätte. Und deshalb hab ich mir diesen Beruf ausgesucht! Ich mache eine Ausbildung zum Bestatter. Oder Bestatterin? Ich weiß nicht, wie sagt man dazu? Bestatter klingt irgendwie besser, aber als Frau müsste ich mich doch als Bestatterin bezeichnen. Ist eigentlich auch egal, bei uns im Ort sagen sie eh nur Leichengräber und da gibt es keine weibliche Form für. Oder doch Leichengräberin? Ach egal!
Jedenfalls möchte ich gerne davon erzählen, wie ich dazu gekommen bin, Bestatter zu werden und wie die Arbeit so ist.
Meine Eltern sind normal, das wollte ich vorab nur kurz geklärt wissen. Denn ich weiß, dass viele denken, dass im Elternhaus etwas falsch sein muss, wenn man den Wunsch verspürt, sich mit Leichen zu beschäftigen. Wie das klingt…
Mein Vater ist Buchhalter, meine Mutter Hausfrau und mein Bruder studiert Archäologie. Aus ihm wird sowieso nichts, das weiß ich jetzt schon. Mein Beruf hat wenigstens Zukunft.
Ich habe auch studiert. Ja klar hab ich studiert, wer studiert denn heutzutage nicht? Und ich habe mir als Studium das ausgesucht, was wohl der Großteil aller Abiturientinnen machen will, abgesehen von Tiermedizin – ich habe auf Lehramt studiert. Naja zumindest habe ich angefangen zu studieren. Ok, über das 5. Semester bin ich hinaus gekommen. Für alle, die es nicht wissen, das ist das Semester, in dem man praktische Erfahrungen in seinem vorgesehenen Beruf sammeln soll. Und was soll ich sagen, ich bin an eine Grundschule gegangen, weil ich dachte, dass ich damit noch am besten klar komme. Da werde ich mit am meisten respektiert – dachte ich. Hierbei habe ich zwei lebensbereichernde Erfahrungen gemacht:
1. Ich hasse kleine Kinder! (Abgesehen von Rentern)
2. Ich wäre wohl die erste Lehrerin gewesen, die Amok gelaufen wäre – mit gutem Gewissen.
Zwei Dinge, die es mir schier unmöglich gemacht haben, auch nur im entferntesten weiterhin über eine Zukunft als Lehrerin nachzudenken.
Aber wie um alles in der Welt kommt man denn von dem Wunsch, eine Lehrerin zu werden, auf den abstrusen Gedanken, Bestatter zu werden. Ja, darüber habe ich auch mehr als einmal nachgedacht. Vielleicht ist es der Amoklauf-Gedanke… Aber ich denke es war diese eine Begegnung. Manche sagen es war Schicksal, meine Reli-Lehrerin würde von gottgegebenen Umständen sprechen. Ach ja, Gott ist ja auch so eine Sache im Hinblick auf meine Berufswahl. Aber das ein anderes Mal.
Ich weiß noch, dass ich nach meinem Schultag an der Kant-Grundschule einen gewissen Zorn, große Abneigung und eventuell auch Hass auf manche Eltern verspürt habe. Keine gute Grundlage, um sich hinter das Steuer eines Autos zu setzen, ich weiß.
Ich bin natürlich gefahren wie die Sau, immer darauf achtend, gemeine kleine Biester und nörgelnde alte Rentner wenn möglich zu überfahren. Klar, dass in dem Moment keine dieser Gattungen meinen Fahrweg kreuzt. An der nächsten großen Ampelkreuzung muss ich halten. Ich stehe ganz vorne, höre aggressive Musik viel zu laut und schaue grimmig dem Verkehr zu. Ich hasse alle Kinder. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schwebt. Dann fährt von links die Autoschlange los und zwischendrin ein schwarzer Bus. Die Scheiben hinten sind mit Stoff verdeckt – was zur Hölle?
Hinten auf dem Auto, auf der großen Scheibe, die übrigens auch mit Stoff verdeckt ist, steht in großen geschwungenen Buchstaben:
Der Tod ist eine Grenze, damit wir nicht ewig leiden müssen
Da war er, mein brennender Dornenbusch! Das ist mein Schicksal. Es gibt mehr Leute wie mich, die Rentner hassen und sie ins Elysium wünschen. Wer möchte nicht jeden Tag ins Geschäft kommen und wissen, dass unser Sozialsystem wieder um einen Rentner leichter ist? Wow, es haut mich um. Wie oft trifft einen das Schicksal schon mit so einer Wucht? Wenn es sich so deutlich bemerkbar macht, sollte man nachgeben. Ok, ich tue es. Ich werde Bestatter(in).