An diesem Tag hatte Sakura keine Lust, mit Kyle den Stall zu verlassen. Sie war zu niedergeschlagen, um überhaupt darauf zu reagieren, dass er sie striegelte. Erst später ließ sie etwas aufhorchen, das er sagte.
„Ich habe heute eine Überraschung für dich, meine liebe Sakura.“
Darauf spitzte sie die Ohren. Mochte das vielleicht eine Karotte sein? Oder gar ein Zuckerstück? Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.
Doch die Überraschung war etwas gänzlich Unerwartetes.
Sakuras Angst verstärkte sich noch, als sie das Geräusch von Reifen auf dem festen Kies vor dem Stall vernahm.War der schwarze Wagen vielleicht zurückgekehrt? Sie hatte ja gewusst, dass sie ihm eines Tages wieder begegnen würde, aber musste das unbedingt heute sein?
„Nein, Sakura, alles gut. Ruhig, beruhige dich“, sagte Kyle und hielt ihren Kopf sanft fest. Er kitzelte ihren Nüstern und Sakura hörte auf, sich losreißen zu wollen.
Draußen ertönte Lärm. Sie hörte menschliche Stimmen und ein paar sehr seltsame Geräusche, die sie nicht einordnen konnte.
Dann nahm Kyle ihren Strick und führte sie nach draußen. Das Licht wurde heller, bis Sakura nichts mehr sehen konnte. Fast blind trat sie ins Tageslicht hinaus.
Da ertönte ein spitzer Schrei. Sakura scheute und riss an dem Stick, den Kyle hielt. Sie wollte zurück in den Stall, in ihre Box! Das Halfter schnitt ihr unangenehm in den Kopf.
„Sei still, Mädchen“, hörte sie Kyle schimpfen. Sie legte die Ohren an, bis sie fast nur noch das Blut darin rauschen hören könnte. Der Schrei brach ab, aber nicht die schrecklichen Visionen, die zu Sakura zurückgekehrt waren. Das war der Schrei gewesen, genau der, der ihr Leben für immer zerstört hatte!
Kyle streichelte sie wieder. Sakura erschnupperte ein Zuckerstück, doch sie hatte im Moment wichtigere Sorgen. Wieder wollte sie sich losreißen.
Eine ganze Weile stand Kyle einfach nur neben ihr und hielt sie an Ort und Stelle. Langsam merkte Sakura, dass ihr keine wirkliche Gefahr drohte. Und überhaupt – mit wem sprach Kyle da?
„Du hast sie erschreckt, das ist alles. Und sie hat dich erschreckt, ich weiß. Aber bitte – gib ihr noch eine Chance.“
„Nein!“, sagte die fremde Stimme. Sakura spitzte die Ohren. War das – nein, das konnte doch nicht sein!
„Es ist für euch beide zu früh, das weiß ich“, sagte Kyle mit seiner sanften Stimme. Aber jetzt wollte Sakura nur noch, dass er still sei und sie die andere Stimme hören konnte.
„Ich hätte mehr Zeit gebraucht, aber morgen soll Sakura abgeholt werden. Bitte, du bist die einzige, die sie noch retten kann!“
Sakura blinzelte. Ihre Augen hatten sich an das helle Licht gewöhnt, aber den seltsamen Menschen vor sich erkannte sie erst, als sie die Stimme wieder hörte.
„Warum sollte ich sie retten wollen?“
Amelie! Sakuras Herz machte einen Sprung. Das war Amelie, ihre Reiterin! Sakura hatte schon gedacht, dass Amelie tot wäre. Sie hatte doch damals so furchtbar geschrien.
Jetzt machte Sakura einen Schritt vor. Was tat Amelie da? Warum saß sie in diesem … diesem Ding? Ein Ding auf Metall, mit Reifen, aber nicht wie ein Auto.
„Ahh, nimm sie weg!“, quietschte Amelie, als Sakura noch einen Schritt näher kam. Sie zuckte zurück. Was hatte Amelie erschreckt? War es gefährlich? Nervös schlug sie mit dem Schweif. Etwas in ihr drängte zur haltlosen Flucht, einfach über Amelie hinweg und in die Freiheit.
Kyle berührte ihren Hals.
„Ruhig, Sakura. Und Amelie, bitte schrei nicht so. Du hast sie erschreckt.“
„Na und?“, fauchte das Mädchen. „Sie hat mir das hier angetan! Sie darf ruhig sterben.“
Nochmals streckte Sakura den Hals und schnupperte. Amelie roch unglücklich. Sakura kannte ihre Reiterin nun schon so lange, sie konnte jede ihrer Regungen und Gefühle riechen. Amelie hatte furchtbare Angst. Sie zitterte, und dieses seltsame Metallding hielt sie gefesselt. Warum erinnerte sie dieses Ding nur an den schwarzen Wagen? Es war etwas ganz ähnliches.
„Sie hat dich nicht verletzen wollen“, sagte Kyle. „Komm, berühr sie.“
Zitternd streckte Amelie die Hand aus. Sakura war verwirrt. Wovor fürchtete sich ihre Reiterin? Die Nervösität des Mädchens ging auf sie über. Amelie hielt inne, ihre Hand schwebte vor Sakuras Nüstern, ein undeutlicher Schemen, vibrierend, wie eine Schlange vor dem Zustechen.
„Nein, nicht so“, Kyle trat vor, der ruhige, besonnene Kyle, Sakuras Felsen. Er griff Amelies Hand und im nächsten Moment spürte Sakura die kalten Finger an ihrer Schnauze. Die Finger waren angespannt und gestreckt, nicht mehr weich wie früher. Aber es war unverkennbar Amelies Geruch. Sakura stupste vorsichtig gegen Amelie. Sie wollte von ihrer lieben Reiterin wieder gekrault werden. Jetzt merkte sie plötzlich, wie sehr sie Amelie vermisst hatte. Sie war unendlich glücklich, dass es ihrer Reiterin noch gut ging.
„Bitte“, sagte Kyle. „Gib ihr noch eine Chance.“
Ja, dachte Sakura. Sie wollte Amelie alle Chancen der Welt geben!