Als der Schnee die Landschaft in ein Wunderland verwandelte, dachte ich sehr viel nach. Manchmal kam mir die Beziehung zu Luke so vor, als wären wir Freunde, dann mehr als Freunde, aber letztlich doch nur Fremde. Hätten wir uns nicht über das Internet kennengelernt, hätten wir nie zueinander gefunden. Ganz ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob das besser oder schlechter gewesen wäre. Aber wenn wir uns überhaupt jemals hätten begegnen sollen, wir hätten uns nicht gesehen, uns übersehen. Wir sind beide unscheinbar, in einer Welt voller Oberflächlichkeit ist das nicht gerade kontaktfördernd. Das merkte ich aber erst, als mir auffiel, dass wir nie Zeit für Oberflächlichkeiten hatten. Das war wiederum das Schöne am Online-Dating: Sofern man es richtig anstellte, zählten die inneren Werte, Ansichten, Gedanken. Man konnte sich voll und ganz auf den Charakter eines unbekannten Menschen einlassen, ohne dabei von äußerlichen Störfaktoren abgehalten zu werden. Wenn wir keine Chance haben auf Oberflächlichkeiten zu achten, sehen wir jemanden, den wir nicht sehen können, ganz anders. Gern hätte ich ihm, nach dem ich nun sein Inneres kannte, auch ins Gesicht geschaut, seinen Körper gesehen, seine Narben berührt.
Es verletzte mich, zu sehen, zu spüren, wie egal ich ihm war. Ich dachte, es wäre etwas Besonderes. Wir wären etwas Besonderes. Aber wie so oft bemerkt man erst, was man hatte, wenn es nicht mehr da ist. Liebe ist eine Illusion, der wir unbeschreiblich viel Aufmerksamkeit widmen. Doch warum? Wenn ich sage, »Ich liebe Luke«, liebe ich ihn dann wirklich? Oder liebe ich nur das Bild, das ich von ihm habe? Was nennen wir Liebe? Die Einheit von Vertrautheit, Nähe und dem Gefühl, man selbst zu sein? So viele Fragen, so wenig Antworten.
An Weihnachten wurde mir klar, dass ich mich gegen den Brief entschieden hatte, und das war auch gut so. Ich fragte Luke abends, was wir denn nun wären. Und seine Antwort darauf war die absolut niederschmetterndste und verletzendste Nachricht, die ich je bekommen habe. Er meinte, er würde versuchen, sich eher auf Personen in seinem direkten Umfeld zu konzentrieren, sich keine Gedanken um entferntere Menschen zu machen. Okay. Danke. Ich war eine entfernte Person. Nicht würdig, Teil seines Lebens zu sein. Es war okay, es war vollkommen okay. Ich erinnerte mich an einen Tag, an dem er mir schrieb, dass er nicht wegliefe, als ich enttäuscht war, keine Zeit zu haben, mit ihm zu reden. Doch er schrieb es, als er schon am Gehen war. Als er kein aktiver Teil meines Lebens mehr war oder sein wollte, weil ich ebenfalls in keinster Weise zu seinem Leben gehörte. Die Antwort damals erklärte vieles. Auch heute noch verletzt es mich zutiefst, daran zu denken. Manche Dinge lassen uns wohl nie los.
Zu Silvester ging es mir dementsprechend mies, aber da wir immer mit zwei befreundeten Familien feierten, versuchte ich, es mir nicht anmerken zu lassen. Für blöde Kommentare hatte ich einfach keine Nerven. Und der Abend stellte sich sogar als ziemlich schön heraus. Es wurde getanzt, viele Photos gemacht und unsere »Horror«-Silvesterparty war ein voller Erfolg. Wie selten waren die Momente geworden, in denen ich mich nicht unvollständig fühlte, aber dieser Tag war einer von ihnen. Kaum einen Gedanken verschwendete ich an mein kleines Liebes-Desaster.