Rúna beobachtete, wie die Krieger die beiden Seitenschwerter zu Wasser ließen und mit einem Mal zu kraftvollen Ruderern und verwegenen Seglern wurden. Sechzehn Ruderplätze zählte sie, doch es waren wohl fast doppelt so viele Männer an Bord. Das Boot, das ihr vom Land aus riesig vorgekommen war, schien aus allen Nähten zu platzen.
Truhen und Packen türmten sich um den einzelnen schwarzgeteerten Mast herum auf und die Männer hatten Mühe, das große, rechteckige Segel an all dem Ballast vorbei zu setzen. Doch das schien den Nordmännern nichts auszumachen. Im Gegenteil scherzten sie und verspotteten sich gegenseitig, wenn ihnen ein Handgriff misslang. Dann, als das riesige Tuch sich erstmals im Wind blähte, bellte der Mann am Ruder einen derben Befehl und ein Teil der Männer nahm ohne zu murren an den Riemen Platz, während sich andere niederließen oder sich weiter mit dem Führen des Segels beschäftigten.
Das Schiff verließ nun die schützende Bucht und mit dem Erreichen des offenen Meeres nahmen auch der Seegang und das Aufspritzen der Gicht im Bug des Seglers zu. Es dauerte nicht lange und das einfache Wollkleid der jungen Frau war bis zu den Knien durchweicht. Der Wind kroch nun ungehindert durch das Gewebe und zu der allgegenwärtigen Angst kam nun noch eine alles durchdringende Kälte hinzu, die Rúna bald unkontrolliert zittern ließ. Ihren Leidensgenossinnen ging es kaum besser. Zwar waren sie im Gegensatz zu ihr freie junge Frauen gewesen und trugen dementsprechend wertvollere Kleider, ein wenig Schmuck und Umhänge, doch all das widerstand dem Salzwasser nicht besser als das wollene sackartige Kleid der Sklavin.
Bibbernd betrachtete Rúna die Männer, denen der regelmäßige Gichtregen nichts auszumachen schien. Doch darüber, so stellte sie schnell fest, musste sie sich nicht wundern. Keiner der Männer trug Stoff am Körper. Im Gegensatz zu den Bauern und Händlern, die ihr vertraut waren, hatten die Nordmänner fast ausschließlich Leder am Leib. Das gegerbte und geölte Material war offenbar so wasserabweisend, dass nichts auf die Haut der Träger dringen konnte. Lediglich das Haar der Seefahrer wurde von der Gicht getroffen. Aber außer einem deftigen Fluch schien es niemandem einen Gedanken wert zu sein.
Der Mann, der Rúna gefangen hatte und den seine Gefährten Ragnar riefen, übernahm nun das Steuer und derjenige, der dort bisher gestanden hatte, kam in ihre Richtung und ließ sich vor dem Mastbaum zwischen den Packen nieder. Offenbar wollte der rotblonde Barbar eine Pause machen. Die Füße in den schweren Stiefeln wurden ausgestreckt, eine Hand rückte den breiten Gürtel mit der großen, derb geschmiedeten Schnalle ein wenig zurecht, dann schloss der Mann die Augen und ließ den Kopf nach hinten sinken.
Rúna seufzte leise. Wie gern würde auch sie sich ein wenig bequemer ausstrecken. Doch die Nordmänner hatten sie nicht ohne Grund in den vorderen Bug gepfercht. Hier konnten sie von jedem Mann außer den Ruderern gut gesehen werden. Eine falsche Bewegung oder gar der Versuch, sich ins Wasser zu retten, waren somit von vornherein abwegig. Sie drückte sich noch ein wenig enger an die hölzerne Außenwand des Schiffes. Wenn es doch nur ein wenig wärmer wäre! Dann würde sie auch die aufgezwungene Enge und den Gestank des Bootes besser ertragen können. Was man wohl hier schon alles transportiert hatte? Das Holz roch nach Fisch - wie sollte es auch anders sein? Doch es gab auch Düfte wie von Gewürzen oder verdorbenem Fleisch, die ein Übelkeit erregendes Gemisch erzeugten. Hinzu kamen die Ausdünstungen der Menschen, die sich um sie herum drängten und der Geruch der feuchten Wolle ihres nassen Kleides. Einer der Jungen hatte wohl aus Angst unter sich gemacht und zu allem Überfluss roch es somit auch noch nach Urin.
Wieder schwappte eine Welle über den Bug und eine zweite ließ das Schiff erbärmlich schaukeln. Rúna konnte nicht mehr. Ihr Magen rebellierte und sie klammerte sich hilfesuchend an die Bretter der Bordwand, um mühsam ihr Gesicht über die Kante zu heben. Dann tat das Schiff den nächsten Ruck wie ein kleines buckelndes Pferd und Rúnas Magen schloss sich der Bewegung an. Mit einem schmerzhaften und geräuschvollen Würgen übergab sich die junge Frau in die schäumenden Wellen. Wieder und wieder stieg ihr der bittere Saft im Mund auf und sie hielt sich weiter fest, bis es ihr schien, dass sie völlig leer und ausgelaugt sei. Mutlos sank sie zurück und wollte sich auf den Boden des Schiffs zusammenrollen, als sie eine feste Hand am Ellenbogen ergriff.
"Steh auf!", erfolgte ein harscher Befehl. "Steh auf und komm mit, bevor du uns hier das ganze Boot vollkotzt."
Rúna hob ängstlich den Kopf ein wenig an und sah sich jenem Mann gegenüber, den der Barbar mit Namen Ragnar am Steuer abgelöst hatte. Mühsam kam sie auf die Beine und ließ sich mitziehen, als der Rothaarige sie ein Stück in Richtung Mast bugsierte. Dort fand er einen versiegelten schmalen Krug, den er sofort entkorkte.
"Hier, trink das!", wies er Rúna an. "Das wird deinem Magen Ruhe geben." Er sah dabei zu, wie sie an dem unbekannten Getränk schnupperte und schob ihr den Krug auffordernd ein wenig dichter ans Gesicht.
"Mach schon! Das bringt dich bestimmt nicht um", brummte er leiser. "Das ist Wein von den Südländern."
Rúna wusste, dass sie sich nicht jetzt schon gegen einen der Männer auflehnen sollte, doch der Geruch aus dem Krug war alles andere als vielversprechend. Vorsichtig nahm sie einen kleinen Schlick und kostete. Himmel, das schmeckte ebenso sauer, wie es roch.
"Jetzt stell dich nicht so an", setzte die Stimme des Rothaarigen ihr weiter zu. "Trink!"
Die junge Frau schloss die Augen und folgte dem eindeutigen Befehl. Mühsam würgte sie ein paar Schlucke die Kehle hinunter in der Hoffnung, den Mann damit friedlich zu stimmen. Dabei zitterten ihr nach wie vor die Hände und so kam es, das ein schmales rotes Rinnsal den Weg über ihr Kinn nahm. Sofort setzte Rúna den Krug ab und wollte den Wein aus ihrem Gesicht wischen, doch die Hand des Barbaren war schneller. Raue Finger fuhren ihr über den Mundwinkel und das Kinn. Doch zu ihrer Überraschung tat ihr der Fremde nicht weh. Einen Moment lang ließ er seine Hand noch seitlich an ihrem Hals ruhen, dann zog er sie überrascht weg.
"Du bist eiskalt, Mädchen", stellte er dann das Offensichtliche fest. Er musterte Rúna gründlich, ließ wohl seine Augen auch ein wenig länger auf ihrem Körper ruhen.
"Und völlig durchgeweicht bist du auch."
Der Fremde unterzog nun auch die anderen Gefangenen seiner Musterung. Das, was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. Ungeduldig brüllte er zwei Namen, die Rúna nicht verstand, dann blaffte er die beiden Männer, die sofort gerannt kamen, lautstark an.
"Schafft ein paar Lederdecken heran", donnerte er los. "Wenn ihr nicht wollt, dass wir mit halb erfrorenen, totkranken Sklaven in Straumfjorður ankommen, sputet ihr euch dabei ein bisschen."
Während nun auf dem Boot rege Geschäftigkeit ausbrach, kramte auch der Rothaarige in einem der gestapelten Packen und zog eine große weiche Rinderhaut aus den Vorräten. Wie selbstverständlich reichte er das Leder an die junge Frau weiter.
"Setz dich hier hin und wärm dich ein bisschen auf. Wir werden noch gute drei Tage unterwegs sein. Sieh zu, dass du so lange kein Fieber bekommst. Kranke können wir auf der Ragnarsúð nicht gebrauchen."
Dankbar und zutiefst eingeschüchtert nahm Rúna die schützende Haut entgegen und wickelte sich sogleich darin ein. Dass die anderen Gefangenen sie ob dieser Sonderbehandlung neidisch betrachteten, entging ihr in der Aufregung, sich gegenüber dem fremden Barbaren keinen Fehler zu erlauben. Sich so klein wie möglich machend, hockte sie sich an den ihr zugewiesenen Platz vor dem schwarzen Mast. Dann, als sich der Bärtige erneut niederließ und dabei nur zwei oder drei Handbreit neben ihr zu liegen kam, versteckte sie auch noch ihr Gesicht in den Falten der Lederdecke, um ihn nichts von der Röte ihrer Wangen und von ihrer Nervosität zu zeigen. Doch den Steuermann schien ihre Anwesenheit nun nicht länger zu interessieren. Erleichtert, seiner Aufmerksamkeit fürs erste entgangen zu sein, hörte Rúna nach einer Weile, wie der Seemann leise neben ihr schnarchte.