Ein paar Hände voll Wasser für ihre zerschlagenen Gesichter später saßen die Brüder halbwegs friedlich am Ufer des Flüsschens und sahen den dahintreibenden Herbstblättern zu, die auf den Wellen tanzten. Noch schwiegen die beiden, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis einer von ihnen die Stille brach. Auch das gehörte irgendwie dazu. Sich nach dem Kampf so lange belauern, bis einer nachgab und das klärende Gespräch begann.
Heute musste er den Anfang machen, das wusste Ragnar. Und mit diesem ersten Satz würde er auch eingestehen, dass Rollo im Recht war. So hatten sie es immer gehalten. Der, der sich im Unrecht sah, fing an.
"Ich wollte sie wirklich für mich haben", ließ er seinen jüngeren Bruder wissen. "Und ich wusste eigentlich, dass ich Thorstein damit hintergehe. Doch ich wollte es nicht wahrhaben."
Ragnar sah weiterhin den Wellen des Baches zu, die über die ufernahen Steine schwappten und dabei glänzende Kaskaden von Tropfen aufschimmern ließen. "Ich wollte ihr nicht weh tun!"
Rollo zog die Augenbrauen zusammen. So verflucht gedankenlos konnte sein Bruder doch gar nicht gewesen sein. Wenn er einer Frau Gewalt antat, und das hatte er, bei Thor, schon viel zu oft getan, dann war ihm dabei und danach auch klar, wie er handelte. "Sie hat überall blaue Flecken, an den Handgelenken, am Hals, an der Hüfte, den Knien und quer über den Hals wird sie die Narbe eines Messerschnittes behalten." Zornig warf er einen Stein ins Wasser. "Selbst, wenn du sie nicht geschwängert haben solltest, wird sie von dieser Nacht für immer gezeichnet sein. War es wirklich das, was du für sie wolltest? Ihr das Los einer seelenlosen Dirne aufdrücken?"
Ein zweiter Stein folgte dem ersten.
"Dann kannst du dir gratulieren. Sie hat es nämlich schon angenommen!"
Ungläubig lauschte Ragnar den Worten des Jüngeren. Dass sich Rollo so viel Gedanken um eine unfreie Frau machte, verstand er nicht. Wenn er über Thorstein hätte sprechen wollen, ja dann …
"Ich werde Thorstein entschädigen", versprach er. "Er soll Land und Tiere von mir bekommen und wenn er mag auch eine oder zwei neue Sklavinnen. Es soll mir auf eine mehr oder weniger nicht ankommen."
Nun griff Rollo doch nach einem größeren Steinbrocken und warf ihn zornig den beiden anderen hinterher. "Als ob es darum ginge, Ragnar! Bei Odin, begreif es endlich, du hast die Gefährtin deines besten Freundes unter dir gehabt und sie so gequält, dass sie danach den Tod gesucht hat. Das wird er dir nicht vergeben, nicht für ein Dutzend Höfe in Schonen."
Ragnar riss einen Grashalm ab und begann den Stängel nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen. "Gut, er wollte sie freikaufen. Doch dass er sie gleich zu seiner Gefährtin machen würde, habe ich dann doch nicht geglaubt. Ein, zwei Sommer Spaß, mehr kann er doch von einer Sklavin nicht wollen!"
"Er hat es ihr schon angeboten", widersprach Rollo. "Ich weiß es von ihr selbst und Jorunn bestätigt das. Sie war dabei."
"Und? Hat sie angenommen?", knurrte der Jarl unzufrieden. Die Geschichte nahm inzwischen eine Größe an, der er nicht gewachsen war. In was für ein Wespennest hatte er da nur gestochen? Der nächste Stein flog und Ragnar sah, wie Rollo erneut die Fäuste ballte. Er musste auf der Hut sein.
"Nein, und bei Frigg, ich wünschte, sie hätte es getan. Aber sie wollte warten, bis du sie freigibst, um Thorsteins Ehre zu schonen. Sie müssen das sofort nach seinem Unfall besprochen haben, denn soweit es Jorunn erzählt hat, leben sie seitdem wie ein Paar zusammen." Der Krieger wandte sich nun seinem Bruder direkt zu. "Und ich habe es gesehen, Ragnar. Mit meinen eigenen Augen habe ich es gesehen, an dem Tag, als wir losfuhren. Ich war ein Narr, dass ich gestern nicht dazwischen gegangen bin, als du sie hinausgeführt hast. Doch ich wollte dich auch nicht vor allen anderen bloßstellen. Wenn ich gewusst hätte …"
Doch das hatten sie nicht, keiner von beiden. Und so blieb ihnen nichts anderes mehr, als den angerichteten Schaden irgendwie zu begrenzen. "Wie geht es Rúna jetzt?", fragte der Jarl ein weiteres Mal. "Wird sie überleben?"
Nun, diese Frage hatte sich Rollo auch schon gestellt und er war sich nicht sicher, was er der schmalen Frau wünschen sollte. Ein Leben in Schande und mit der Erinnerung, was hätte sein können oder einen schnellen Fiebertod? "Ich weiß es nicht", gestand er ehrlich. "Sie war sehr lange im Wasser und wenn ich sie nicht herausgeholt hätte, wäre sie längst bei Hel. Mag sein, dass das für alle besser gewesen wäre. Außerdem ist ein Teil der Narben an ihrem Rücken bei dem Aufprall wieder aufgegangen und wenn sie den Brand bekommt …"
Doch es gab noch etwas anderes, was der Jarl wissen musste. Nicht, dass er heute oder morgen bei dem unwissenden Thorstein auftauchte und alles zunichte machte, was Rúna geplant hatte.
"Jorunn hat sie nach dem Namen des Mannes gefragt", begann er und sah befriedigt, wie der Jarl tief einatmete. Sollte er doch spüren, wie es war, eine Ungerechtigkeit auch büßen zu müssen! Er ließ sich ein wenig Zeit und genoss Ragnars angespanntes Schweigen.
"Rúna hat ihn nicht genannt", gab er dann zu. "Sie sagte, es sei zu dunkel gewesen und sie habe dein Gesicht nicht erkannt."
Ungläubig hob der Jarl seinen Blick. "Sie lügt! Sie wusste ganz genau, mit wem sie zusammen war." Verständnislos rieb er sich über das Kinn. "Aber warum …?"
Rollo erhob sich. Er hatte die Nase von diesem Gespräch wirklich voll. Das Taktieren seines Bruders und das Herausschlagen des höchsten Gewinnes bei welcher Sache auch immer, gefiel ihm schon lange nicht mehr. Er war ein Krieger, kein Händler.
"Sie will Thorstein schützen und seine falsche hohe Achtung vor dir. Sie will nicht, dass er dich zur Rede stellt, da ihn eine Prügelei im Moment vermutlich umbringen würde." Ernst sah er seinen Bruder an, der ihm inzwischen gegenüber stand. "Und ich erwarte, dass du dich ebenso an dieses Schweigen hältst wie ich. Du wirst Thorstein ein Freund bleiben und nie wieder in deinem Leben die Faust gegen ihn erheben." Rollo räusperte sich. "Und du wirst Rúna als das achten, was sie eigentlich ist, nämlich die Nachfolgerin der Völva. Und sollte sie Thorstein nach dem, was du getan hast, nun doch abweisen, wirst du dafür sorgen, dass es ihr für den Rest ihres Lebens an nichts mangelt. Sie soll frei sein und ihren Lohn dafür erhalten, dass sie für deine wertlose Ehre lügt."
Rollo sah, dass Ragnar ansetzte, ihm zu widersprechen, doch er fiel ihm sofort ins Wort. "Wenn du das nicht tust, werde ich jedem, der es hören will, sagen, wie du deinen besten Freund hintergangen hast für einen Weiberrock. Ich glaube nicht, dass sie dich dann noch so selbstverständlich als ihren Anführer ansehen werden wie bisher."
Der Krieger hatte nun wirklich genug von diesem Gespräch. Es war gesagt, was gesagt werden musste. Und für seinen Freund Thorstein hatte er getan, was er konnte. Vielleicht kam sein Zorn auch ein wenig Rúna zugute. Doch um das Befinden der jungen Frau musste sich nun erst einmal die Völva kümmern. Wenn es anders kam, als er dachte und Thorstein sich von ihr zurückzog, würde er ihr helfen, in Straumfjorður zurecht zu kommen. Einer zukünftigen Heilerin durfte man seine Unterstützung nicht verweigern. Ja, er würde damit anfangen, dass er dem Steuermann dieses Kleine ohne Gegenleistung überließ. In letzter Zeit hatte er seine Freunde vernachlässigt, das wurde Rollo nun bewusst. Doch das konnte man ändern, nicht wahr? Und mit Thorstein würde er anfangen. Eine solche Schmach hatte der zuverlässige Mann nicht verdient!