Die Frage nach Gerechtigkeit
Was ist eigentlich gerecht und was nicht? Um diese Frage kommt man wohl in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr herum, vorausgesetzt man möchte ein wenig mehr tun, als mit stumpfen Blick der Masse hinterherzulaufen ohne dabei den Kopf einmal nach rechts oder links zu drehen, um vielleicht auch mal die Welt und ihre Probleme betrachten zu können. Was genau ist also Gerechtigkeit und entspricht unsere moderne Welt dem, was wir als gerecht definieren?
Uns geht es gut, hier in Deutschland, den Allermeisten zumindest. Theoretisch hat jeder ein festes Dach über den Kopf, genug zu Essen und zu Trinken und eventuell sogar noch den ein oder anderen Euro übrig, um sich die neue Playsstation oder einen gebrauchten Opel Corsa zu leisten - Das sieht auf den ersten Blick ja gar nicht mal so schlecht aus.
Danach leider aber auch nicht mehr, denn die Betonung liegt hier nicht ohne Grund auf dem „die Allermeisten“ und dem „Theoretisch“. Ich bin jetzt einfach mal so dreist und gehe davon aus, dass jeder hier nicht nur einmal in seinem Leben einen oder mehrere Obdachloser am Straßenrand sitzen sehen hat. So traurig, böse und zynisch es auch klingt – es gibt nunmal leider genug von ihnen. „Sind sie ja selber Schuld“, mag der ein oder andere dazu nur verächtlich von sich geben. „Hätten sie halt arbeiten gehen sollen.“. Dabei handelt es sich allerdings um einen ganz klaren Fall des Sich-die-Welt-einfacher-machen. Denn ganz so simpel ist das Ganze dann doch nicht, ähnliches gilt im Übrigen auch für den Großteil aller Arbeitslosengeld II Empfänger.
Niemand ist gerne arbeits- oder gar obdachlos! Oft sind es eine Reihe tragischer Begebenheiten, die jemanden in eine solche Situation bringen. Der Verlust naher Angehöriger, eigene Krankheit oder Verletzung und Depressionen, aber genauso Manie, das totale Gegenteile einer depressiven Verstimmung, können jemanden an den Rand der Existenz drängen und oft auch darüber hinweg. In Anbetracht dessen kann man doch kaum noch darüber sprechen, die Menschen hätten es verdient so leben zu müssen. Dennoch sind sie vom Schicksal dazu verdammt ein solches Leben zu führen, mit kaum Aussicht auf Besserung. Ist das noch gerecht? Meiner Ansicht nach definitiv nicht.
Aber gehen wir mal weg vom Schicksal des Einzelnen und beginnen wir das Große und Ganze zu betrachten. Wir leben in einer Welt, die vom Kapitalismus regiert wird. Dies hat durchaus seine Vor- und Nachteile, aber im Punkt der allgemeinen Gerechtigkeit, mit der wir uns in diesem Text beschäftigen wollen, überwiegen in meinen Augen eindeutig die Nachteile: Die freie Marktwirtschaft, unter der unser Welthandel nuneinmal steht, hat sich leider so entwickelt, dass die Starken die Schwachen ausbeuten und unterdrücken. In unserer Zeit gibt es keine Kolonien mehr und auch Sklavenarbeit ist in vielen Staaten offiziell verboten, aber wenn das einzige, was die Familie noch am Leben erhalten kann, ein vierzehnstunden Job mit Hungerlohn ist, dann nimmt man selbst diesen an, einfach nur, um zu überleben. Wir haben doch alle schon dutzende solcher Dokumentationen über die dritte Welt gesehen, die immer ausgerechnet dann laufen, wenn man grade mit Freude die neuen Nikes ins Schuhregal geräumt hat und sich dann mit einer leckeren Tafel Nuss-Schokolade vor den Fernseher setzten will, um sich zu entspannen, nachdem man noch eben die Reste des letzten Abendessen weggeschmissen hat, weil es ja im Endeffekt doch nicht ganz den eignen Geschmacksvorstellungen entsprochen hat.
Kurz gesagt: Wir leben in einem Luxus, für den andere leiden müssen. Gerecht? Definitiv nicht. Aber dennoch sind wir es, die dieses Geschäft aufrechterhalten.
Im Sozialwissenschafsuntericht meiner Schule haben wir einmal drei verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien kennengelernt. Das Leistungs-, Bedarfs- und Gleichheitsprinzip. Die Begriffe dürften eigentlich selbsterklärend sein. Klingt ja erstmal schön, gut und vor allen Dingen angenehm einfach. „Wenn´s Prinzipien dafür gibt, muss ich mir ja keine Gedanken mehr über die Umsetzung von Gerechtigkeit machen“. Nur dass auch hier nicht ganz so einfach ist, wie es aussieht. Ein Beispiel:
Schalten wir also unseren nagelneuen 2.000€ Fernseher, der grade eh nur im Stande war, uns ein ernsthaftes schlechtes Gewissen einzureden, aus und blicken aus dem Fenster. Schräg gegenüber unseres Eigenheimes wird grade ein Haus aus der Zeit des Barock von Grund auf neu renoviert. Es gehört einem reichen Geschäftsmann, munkelt man. Auf der Baustelle arbeiten trotz der brennenden Hitze in der prallen Sonne eine Hand voll Bauarbeiter, während ihr Auftraggeber im Inneren eines klimatisierten Gebäudes jede Menge nervigen Papierkram erledigen muss. Obwohl die Arbeiter auf den ersten Blick die deutlich härtere Arbeit verrichten, verdienen sie nur ein Bruchteil des Lohnes unseres Geschäftsführers. Ist das fair? Versuchen wir einmal unsere Gerechtigkeitsprinzipien anzuwenden.
Beginnen wir mit dem Gleichheitsprinzip, immerhin klingt das auf den ersten Blick ziemlich einfach. Die beiden erhalten die gleiche Bezahlung. Das sieht doch erstmal nach einer gerechten Verteilung aus – niemand wird bevorzugt, niemand vernachlässigt. Allerdings sollte man auch bedenken, dass unser Geschäftsführer nach einer dreizehnjährigen Schullaufbahn auch noch fünf Jahre hartes Studium hinter sich bringen musste, während unser Arbeiter nach einem guten Haupt- oder Realschulabschluss direkt eine Lehre begonnen hat, bei der er bereits einen gewissen Prozentsatz seines jetzigen Lohnes erhalten hat. Sollten solche Aspekte nicht mit in die endgültige Entlohnung einfließen?
Damit rutschen wir schon immer mehr in Richtung des Leistungsprinzips. Eine weitere Frage, die wir uns unter diesem Punkt stellen müssen, ist, wer von beiden die härtere oder anspruchsvollere Arbeit verrichtet. Für mich scheint diese Frage schier unmöglich zu beantworten zu sein, da wir in unserem Beispiel zwei komplett unterschiedliche Berufsgruppen betrachten. Der Bauarbeiter leistet körperliche Schwerstarbeit, hat wohl schon in frühem Alter mit Rücken- und Gelenkproblemen zu kämpfen. Währenddessen steht unser Geschäftsführer fast schon unter Dauerstress; er hat zwar festgelegte Arbeitszeiten, muss aber dennoch permanent Überstunden machen und immer zu erreichbar sein, egal ob im Büro, am Wochenende oder in den Bergen beim eigentlich als erholsam geplantem Wandern. Stichwort Burnout. Was wäre in Anbetracht dieser Belastungsgruppen eine faire Bezahlung?
Betrachten wir nun unseren dritten Grundsatz, das Bedarfsprinzip. Nehmen wir an unser Geschäftsmann sei verheiratet, seine Frau im siebten Monat mit dem allerersten Kind der beiden schwanger. Sie erwarten also in naher Zukunft zum ersten Mal Nachwuchs, brauchen dementsprechend die ausreichenden finanziellen, aber auch zeitlichen Mittel. Der Arbeiter allerdings muss zusammen mit seiner Ehefrau, die für einen Stundenlohn knapp über dem gesetzlich geregelten Mindestlohn den ganzen Tag im Paketzentrum der Post an der Kundenberatung steht, drei Kinder Tag für Tag durchfüttern, von denen zwei bereits die Schule besuchen. In diesem Fall scheint es zumindest für mich recht klar: Gehen wir ausschließlich nach diesem Prinzip vor, hat der Bauarbeiter unseres Beispiels definitiv den höheren Anspruch auf finanzielle Unterstützung.
Allerdings versucht das Konzept der, auf das Beispiel Deutschland begrenzt, sozialen Marktwirtschaft alle Gerechtigkeitsprinzipien in sich zu vereinen, was, zugegeben, oft doch eher schlecht als recht funktionieren will, allerdings mangelt es auch hier stetig an besseren Ansätzen.
Welches dieser Prinzipien wiegt also mehr? Kann man sie überhaupt gegeneinander abwiegen? Und wie sieht das korrekte Ergebnis aus, wenn man alle drei zusammenaddiert? Geht das denn überhaupt und was ist schon „korrekt“?
Aus dem Versuch eine solch grundlegende Frage zu beantworten ergeben sich, wie wir hier sehen, immer und immer wieder neue Fragen, für die eine befriedigende Antwort gefunden werden muss. Gibt es so etwas wie „Gerechtigkeit“ überhaupt? Meine Antwort darauf lautet: Ja, es gibt Gerechtigkeit, allerdings lässt sie sich nicht in einer Definition oder einer Formel zusammenfassen, die man einfach auswendig lernen und dann auf alle möglichen Kontexte anwenden kann. Für mich ist etwas ist dann gerecht, wenn es sich für alle Beteiligten gerecht anfühlt. Denn Gerechtigkeit ist ähnlich wie Wahrheit oder die meisten anderen Dinge dieser Welt relativ und subjektiv.
Der Traum, jemals in einer von Grund auf gerechten Welt leben zu können, wird aber wohl für immer nicht mehr als das bleiben - ein Traum, allerdings können wir alle versuchen die Welt, wenn wir sie schon nicht gerechter machen können, zumindest für jene, die wohlmöglich eher die Kehrseite unserer Gerechtigkeit ertragen müssen, etwas angenehmer zu gestalten, indem wir uns eben diesen zuwenden, sie unterstützen und zu gegenseitigem Verständnis und Kommunikation aufrufen.