Selina war völlig außer Atem Sie hatte mich Hundert-Kilo-Brocken die Treppe runter und quer durch das Bootshaus bis ins Cockpit meines Bootes gezerrt. Liebevoll nahm sie mein Gesicht in beide Hände: "Michael ich schwöre dir, ich weiß jetzt was du meintest und ich werde mein Gewissen steckenlassen, wenn ich das Schwein erwische!" sie küsste mich auf die Stirn, sprang auf und lief Richtung Treppe. "Selina!" Ich hatte kaum mehr die Kraft nach ihr zu rufen. Und ich hatte furchtbare Angst um sie. Ich hörte nämlich keine Schüsse mehr. "Selina komm, verdammt! Ich hör die UZI nicht mehr!" Doch sie war hinauf gelaufen, schnappte sich den Verbandskasten und verriegelte die Tür. Endlich war sie wieder hier. Sie nahm die Fernbedienung für das Tor mit zu mir. Sie öffnete den Kasten. (Es war ein sehr gut ausgestatteter Kasten, denn bei solchen Dingen spare ich nie!) "OK! Wenigstens das sieht mal gut aus." Mit der Verbandschere schnitt sie weiträumig den Hosenstoff weg, um die Wunden säubern zu können. Erst den Durchschuss (die Kugel war glatt durch den Schenkel gegangen, hatte aber den Oberschenkelknochen gestreift, was den heftigen Schmerz bedingte), dann den Streifschuss, der beim Reinigen auch nicht gerade angenehm war. "Oh Liebling ich hab nichts gegen die Schmerzen, aber ich muss das tun! Es hat ganz schön Gewebe zerstört und einige Blutgefäße aber Gott sei Dank keine Schlagader. Du hast aber trotzdem eine Menge Blut verloren." Da hörten wir erstmals ein Geräusch an der Tür. "Halt das fest drauf, du darfst nicht mehr lange bluten!" Selina drückte den Toröffner. Ich hoffte inständig, dass Viktor das Tor nicht hörte, denn dann konnte er zur Terrasse laufen und brauchte nur auf uns zu warten. Aber er schlug lautstark mit irgendwas gegen die Tür, während das Tor sich wie in Zeitlupe öffnete. Kaum hatte es ungefähr Bootshöhe erreicht schlug Selina den Fahrthebel förmlich nach vorn. Fast 270 PS setzten mit vollem Drehmoment schlagartig ein. Das Boot schoss förmlich aus seinem Unterstand, kam nach wenigen Sekunden ins Gleiten und beschleunigte auf annähernd neunzig Km/h. Ein Wert, der auf dem Wasser nur von wenigen Vehikeln erreicht wird. Viktor hatte keine Chance mehr gehabt auf uns zu schießen. Wir sahen ihn von Weitem noch auf die Terasse laufen, aber er hob nicht mal mehr die Waffe. Ein Profi weiß, wie weit seine Waffe trägt...
Als wir endlich außer Sicht waren, nahm sie das Gas zurück. Wie sie da am Steuer stand, mit dem wehenden roten Haar... Dieses zarte Geschöpf musste eine Göttin sein... meine Göttin sein! Sie nahm den Fahrhebel ganz zurück und kam wieder zu mir. "Ich mach dir jetzt einen schönen Verband und dann legen wir dich in die Kajüte." - "Aber wir müssen..." - "Wir müssen dich endlich richtig verbinden! Und dann sehen wir weiter. OK?" Sie wusste was sie tat! Sie war einmalig!
Ich erinnere mich heute nicht gerne an die Schmerzen, die mir Viktor neuerlich beschert hatte, doch ich werde mich mein Leben lange gerne daran erinnern, mit wie viel Wärme, Liebe und nicht zuletzt Professionalität mir Selina damals das Leben rettete. Mit dem Verband kämpfte ich mich in die Kajüte und legte mich in die Koje. Ich zitterte und spürte, dass mir ein Schüttelfrost bevorstand. Selina fand die Decken und Schlafsäcke, die praktisch immer in der Backskiste verstaut waren. Sie deckte mich zu. "Du hast sehr viel Blut verloren, deshalb ist dir auch so kalt. Ich werd mich kurz zu dir legen und dich ein Bisschen wärmen, aber ich muss dann wieder raus, Wache halten." Sie krabbelte zu mir und hielt mich fest, während ich zitternd und krampfend auf eine Linderung der Schmerzen hoffte. Die Helden vieler Fernsehfilme fielen mir ein, wie sie mit durchschossenen Gliedmassen noch große Heldentaten begingen. "So ein Blödsinn!", dachte ich mir. Wie es immer krachte, wenn die Akteure sich schlugen und dabei kein Tropfen Blut floss. Die Wirklichkeit wusste ich, die Wirklichkeit sieht völlig anders aus. In der Ferne vernahm ich Martinshörner, einen Schuss... Hubschrauber... und ich glaubte zu spüren, das sich das Boot wieder in Gleitfahrt befand. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein.