Es war ein warmer Spätsommerabend. Der Marktplatz war entlang der Kaffeehäuser von Tischen und Stühlen gesäumt. Die Menschen genossen die letzten angenehmen Tage bei einer Tasse Kaffee oder Tee oder einem kühlen Feierabendbier. Nahe des Brunnens hatte eine Gruppe von Musikanten mit Saxophon, Trompete und Schlagzeug Stellung bezogen. Sie waren von den Lokalbesitzern engagiert worden und spielten fetzigen Jazz, ab und zu mit einem leicht melancholischen Unterton. Die Stimmung auf dem Platz war fast durchweg heiter und unbeschwert. Die alten Männer rauchten Zigarren, die Damen tranken Tee. Die Geschäftsleute und Akademiker saßen mit Ihren Kollegen zusammen. In Hemd und lackierten Schuhen tranken sie das gleiche Bier, wie die Dachdecker am Nachbartisch, die noch ihre Arbeitskluft trugen. Kleine Kinder rannten zwischen den Tischen umher und spielten Verstecken. Ab und zu fing eines zu weinen an und wurde schnell mit einer extra großen Portion Eiscreme ruhiggestellt. Die nervösen Väter und Mütter behielten ihre Sprößlinge scharf im Auge und liefen ihnen von Zeit zu Zeit hinterher, um sicher zu gehen, das ihr Liebling nicht im Brunnen ertrank oder die Tischdecken von Fremden herunter zog.
Ein Mann in Jeanshosen und einem locker sitzenden Hemd bahnte sich leichten Schrittes den Weg durch das Gewirr aus Tischen, Stühlen, rührigen Kellnern, rennenden Kindern und dösenden Hunden. Eine Umhängetasche hatte er über die Schultern geworfen. Die Musik löste in ihm Unbeschwertheit aus. Sein steter Gang wurde einen Moment lang zu einer Art Tänzeln, was ihm ein wohlwollendes Lächeln und Kopfnicken von seiten zweier Seniorinnen bescherte. Nachdem er den Brunnen hinter sich gelassen hatte, wurde sein Gang wieder zielstrebig, behielt jedoch seinen Schwung. Den Kopf im Takt der Musik wippend, bog er in eine kleine Seitengasse. Er lenkte seine Schritte auf einen kleinen Souvenir- und Accessoirladen. Der Eingang lag drei Stufen unterhalb der Straße und machte einen nicht allzu seriösen und doch sehr sympathischen Eindruck. Im Schaufenster hingen einige Kugelspiralen und Postkarten. Er betrat das Geschäft, das ihn mit einem angenehmen Klingeln willkommen hieß, indem er die Tür schwungvoll mit der Schulter aufstieß. Aus dem hinteren Bereich kam ein kleiner, hagerer, alter Mann herbeigelaufen. Er grüßte den Gast und stellte sich hinter den Tresen. Der junge Mann sah sich kurz in dem Laden um und wandte sich dann dem Inhaber zu.
„Entschuldigen Sie. Vor ein paar Tagen bin ich mit meiner Freundin hier entlang gekommen. Sie hatten eine Auslage auf der Straße stehen. Dort lagen einige Ketten mit einem Herzanhänger. Die meisten waren sehr kitschig, aber es gab auch zwei oder drei wirklich schöne. Vorallem die in dem etwas dunkleren Rot, mit dem olivgrünen Band hat es ihr sehr angetan. Nun hat sie nächste Woche Geburtstag und... Natürlich habe ich schon ein Geschenk, aber ich dachte...“
„Sie wollen ihr die Kette noch zusätzlich schenken“. Der Alte hatte dem Vortrag seines Kunden mit einem stetig breiter werdenden Lächeln gelauscht. Nun sah er ihm wissend in die Augen. „Als die Sahne auf dem Eis, das Ihr Geschenk sein wird, nicht wahr?“
Der junge Mann erwiderte das Lächeln und sagte mit einem schelmischen Gesichtsausdruck: „Wohl eher als die Kirsche auf der Sahne auf dem Eis, die zusammen mit Kaffee und Kuchen meine Geschenke sind. Wissen Sie, ich will den Anlass nutzen, um ihr eine wichtige Frage zu stellen und hoffe, dass sie bei guter Laune ist und Ja sagt.“
Dem alten Herrn stiegen Tränen der Rührung in die Augen und seine Wangen färbten sich rot. „Das ist ja wunderbar“, verkündete er, „und falls sie an gute Omen glauben, so habe ich hier eines für sie: Genau eine Kette habe ich noch übrig. Sie liegt im Lager. Ich werde sie schnell holen gehen.“ Er ging in den hinteren Teil des Ladens.
„Vielen Dank“
„Sie scheinen mir ein sehr netter junger Mann zu sein, aber lassen sie mich ihnen einen Rat geben“, kam die Stimme des Verkäufers durch den Stoffvorhang geflogen, „Mit Geschenken allein ist es nicht getan, glauben Sie mir. Ich habe Erfahrung.“
„Ich werde mich bemühen müssen, das weiß ich. Aber wir lieben uns wirklich sehr. Unsterblich, würde ich sagen", der junge Mann lächelte und hielt einen Moment inne, "Wie lange sind Sie schon verheiratet?“
„Ich war es", sagte der Verkäufer, "Zehn Jahre lang. Es hat nicht daran gelegen, dass ich sie nicht genug geliebt habe, da können sie sicher sein.“
„Das tut mir leid.“
„Man fängt an, die kleinen Dinge zu vernachlässigen. Meiner Ehe hat allerdings mein Beruf den Garaus gemacht.“ Der junge Mann hörte, wie der Alte eifrig Karton um Karton durchwühlte.
„Beansprucht Ihr Laden so viel Zeit?“
„Nein, ich hatte früher eine andere Arbeit... Ich habe die Kette gefunden. Haben Sie in der Zwischenzeit auch nichts gestohlen?“
Der nette junge Mann lachte: „Sie haben mich erwischt“
„Meinen Rat sollten Sie sich aber zu Herzen nehmen“, sagte der Alte eindringlich, während seine Schritte sich wieder näherten.
„Das werde ich“, versicherte der junge Mann.
„Was sind Sie eigentlich von Beruf?“, wollte der Verkäufer wissen und schob umständlich den Stoffvorhang zur Seite.
„Ich bin Richter.“
„Richter? In Ihrem Alter? Da sind Sie aber...“ Das Mündungsfeuer beleuchtete die Löschung des Alten. Er war blind. Seine Erinnerungen und Erfahrungen entwichen ihm und landeten auf dem Vorhang. Sein Herz explodierte und Hoffnungen und Träume zierten Türrahmen und Decke. Bei dem Schuss in den Kopf, aus nächster Nähe, war schon nichts mehr übrig, das hätte zerstört werden können.
„Ich richte Ratten“, murmelte der junge Mann. Den Spruch hatte er sich nicht verkneifen können.
Er schraubte den Schalldämpfer von der Pistole und ließ beides wieder in seiner Umhägetasche verschwinden. Dann bückte er sich nach der Kette, befreite sie von Blutspritzern und ließ sie in seine Tasche gleiten. Er ging hinter den Tresen und nahm das Geld aus der Kasse an sich. Zuletzt zog er die Einmalhandschuhe aus, ließ auch sie in der Tasche verschwinden und verließ den Laden, indem er die Tür wieder mit der Schulter aufstieß. Wieder führte ihn sein Weg über den Marktplatz. Es war unmerklich dunkler geworden. Während er die jungen Familien beobachtete, schlossen sich seine Finger in der Tasche um die Kette und mit einem leichten, nach innen gekehrten Lächeln, verschwand er in der Dämmerung.