Kyle führte Sakura über die matschigen Wege. Langsam kamen der Stute Zweifel. Wohin wollte der Mensch mit ihr? Was hatte er vor?
Wenn man sie früher aus ihrem Stall geholt hatte – damals – dann nur, um sie zu reiten. Der Gedanke ließ das Entsetzen von Neuem aufsteigen, nachdem sie sich gerade erst beruhigt hatte. Sie wollte nicht geritten werden! Sie konnte das nicht!
Doch Kyle ging an allem vorbei, das auch nur entfernt einem Reitplatz ähnelte. Und, so ging Sakura schließlich auf, sie trug ja auch keinen Sattel und keine Trense, sondern nur den Strick, mit dem sie in den schwarzen Anhänger hätte geführt werden sollen.
Sie war diesem Anhänger entkommen, doch für wie lange, das fragte sie sich. Ein Auto war schneller als ein Pferd. Irgendwann würde der schwarze Wagen mit seinem Anhänger, der nach Angst und Tod roch, sie wieder einholen.
Kyle ließ die Weiden hinter sich und führte Sakura auf den Wald zu, den sie schon zuvor bemerkt hatte. Die Stute atmete die frische Luft ein und merkte, wie die Bewegung langsam alle Gedanken aus ihrem Kopf vertrieb. Viel zu lange hatte sie einfach nur im Stall gestanden, denn sie hatte niemanden an sich heran gelassen, der sie auf eine Weide hätte bringen können. Es war, als wäre auch ihr Kopf aus einem engen, muffigen Gefängnis voller Stroh befreit worden. Zum ersten Mal seit langer Zeit richtete Sakura den Blick wieder auf Dinge, die außerhalb von ihr lagen.
Sie betrachtete die Pflanzen, die im Wind mit den Köpfen wippten, lauschte dem Rauschen der Blätter irgendwo über ihr im Nachtdunkel, sie hörte Käuzchen rufen und scheue Waldbewohner im Unterholz verschwinden. Früher hätte ihr diese Umgebung vielleicht Angst gemacht, all dieses Neue und die Dunkelheit hätten sie geängstigt. Doch in diesem Moment nahm sie all die Geräusche, Gerüche und Schatten dankbar auf. In ihre Nüstern strömte der Duft von frischem Gras, von wilden Bächen und Pflanzen, die sie unbedingt kosten wollte.
Kyle war ein netter Mensch, denn er ließ Sakura fressen, wenn sie wollte. Nur ab und zu zog er sie von einer Pflanze fort, sanft und freundlich und kein bisschen ärgerlich, auch nach Stunden nicht.
Als die erste Freude über die Natur abgeklungen war – es musste auf Mitternacht zugehen, wenn diese nicht sogar bereits vorbei war – da begann Sakura, sich über Kyles Geduld zu wundern. Ihre Reiter waren früher ärgerlich geworden, wenn sie zu oft gefressen hatte, aber Kyle blieb einfach nur geduldig neben ihr stehen und streichelte sie manchmal. Manchmal klopfte er auch ihren Hals, dabei dachte sie nicht, dass sie irgendetwas gut gemacht hatte. Sie knabberte hier und da und trottete ansonsten weiter, erstaunt über die Kraft in ihren Beinen und Hufen, die nach Bewegung drängten, nach Freiraum.
Der Wind spielte mit ihrer Mähne. Sakura blieb stehen und schloss die Augen, hob einfach nur den Kopf in den Wind. Herrlich! Wie hatte sie dieses Gefühl nicht vermissen können?
Sie fuhr zusammen, als sie plötzlich Gewicht auf ihrem Rücken spürte. Erschrocken scheute sie.
„Ruhig, Sakura, ruhig!“, sagte Kyle, aber seine Stimme erklang plötzlich hinter ihr. Sakura legte die Ohren an. Kyle war auf ihren Rücken gesprungen! Wie konnte er ihr das antun? Sie hatte ihm vertraut!
Schnaubend stieg sie und schüttelte sich und tänzelte. Sie warf den Kopf hoch, doch Kyle ließ sich nicht abschütteln. Doch er kämpfte auch nicht gegen sie. Er hielt den Strick zu ihrem Halfter fest und klammerte sich mit den Beinen an ihren Rücken. Schließlich blieb sie zitternd stehen, überwältigt von einer Erinnerung, der Erinnerung an ihren letzten Ritt mit ihrer Reiterin, ihrer wunderbaren, geliebten Reiterin Amelie. Sakura schloss die Augen. Nein! Nein, sie wollte nicht daran denken. Es war so furchtbar gewesen, so schrecklich.
Sie schnaufte, als Kyle sich vorsichtig nach vorne beugte. Er hatte sie besiegt, nun würde sie ihn tragen müssen. Als der Junge ihren Hals tätschelte, erschien es Sakura wie ein Hohn. Sie hatte nichts gut gemacht, im Gegenteil, sie hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Sie war kein gutes Pferd, sie war ein schreckliches, gefährliches Monster.
Amelies Schrei hallte in ihren Ohren nach und die Stute bebte. Amelie! Ihre geliebte Amelie!
Kyle gab sanften Druck mit den Schenkeln und Sakura trottete niedergeschlagen vorwärts. Sie war ein schlechtes Pferd. Sie hatte Amelie im Stich gelassen! Langsam ging ihr auf, dass es dunkel war. Sie war absolut blind. Was vor ihr lag – der Weg, ein Abgrund, etwas Schreckliches – sie konnte es nicht sehen. Sie scheute zurück.
Kyle klopfte ihren Hals und trieb sie sanft wieder nach vorne. Seine Stimme erklang ruhig: „Keine Angst, Sakura. Vertrau mir.“
Sie schloss die Augen und ging vorwärts. Was spielte es denn für eine Rolle? Ohne Amelie war da nichts von ihr, dass sich zu retten lohnte.
Sie folgte Kyles Anweisungen, den sanften Bewegungen, mit denen er sie vorwärts trieb und lenkte. Der Boden unter ihren Hufen blieb gleich: Weich und warm und eben. Kyle spornte sie zu einem schnelleren Tempo an und Sakura begann schließlich, zu traben.
Sie hatte das Laufen so vermisst. Ihr Herz bebte im Rhythmus ihrer Hufe, während Kyle ruhig und fest auf ihrem Rücken saß. Er war ein perfekter Reiter. Sakura war kurz davor, seine Anwesenheit zu vergessen, doch sie musste ja aufmerksam auf seine Richtungsangaben lauschen. Sie merkte, dass er sie vom Weg in hohes Gras trieb, das fest unter ihren Hufen war und um ihre Fesseln strich. Langsam wurde ihr Trab schneller. Sakura hob wieder den Kopf in den Wind, blind, aber dennoch glücklich.
Kyle trieb sie noch etwas mehr und sie fiel in einen langsamen Galopp. Ihre Muskeln streckten sich nach der langen Zeit im Stall. Sakura war überglücklich, dass sie den Galopp nicht verlernt hatte – halb hatte sie es befürchtet. Sie schnaubte und wurde ganz von alleine schneller, während Kyle sich in ihre Mähne klammerte. Sakura spürte es kaum. Sie spürte den Wind und die donnernde Erde unter ihren Hufen.
Als sie anhielt, schnaubend, schweißbedeckt und von erschöpfter Glücklichkeit erfüllt, da erst wurde ihr bewusst, dass sie sich wieder hatte reiten lassen. Und Kyle ging es immer noch gut, ja, er schien sogar höchst zufrieden mit ihr zu sein, denn er lobte sie, führte sie zurück in den warmen Stall und gab ihr Futter und einen saftigen Apfel und striegelte sie, bis ihr Fell sich anfühlte wie der Flaum eines jungen Fohlen. Er wusch auch den Schweiß ab und trocknete sie. Sakura fühlte sich wie ein völlig anderes Pferd.
Erst nachdem Kyle gegangen war, kehrten die Sorgen langsam zurück. Denn immer noch wartete der schwarze Wagen auf sie, und auch die Tatsache, dass es Kyle noch gut ging, bedeutete nicht, dass Sakura gerettet war.