Es war einmal vor langer Zeit, da kannte man in einem Meerkönigreich grausame Sitten. Alle fünf Jahre opferten die Seeleute dem dort lebenden Meeresgott und seinen Seeungeheuern ein lebendiges Menschenleben. Sie erhofften sich als Gegenleistung gutes Wetter, ruhige See und stets volle Netze.
Wie so oft waren fünf Jahre vergangen und es brauchte ein neues Menschenopfer. Die Seeleute begaben sich wie üblich auf die Suche, um eine geeignete Person zu finden. Nach einer langen Suche trafen sie auf ein Mädchen von elf Jahren, welches liebevoll die kranke Mutter umsorgte. Es arbeitete hart, besorgte die Nahrungsmittel für den Haushalt und tat alles um das Leben der kranken Mutter so angenehm zu gestalten, wie es irgendwie möglich war. Es war das Sinnbild einer unschuldigen und guten Seele. Als das Mädchen wieder Nahrung zu besorgen hatte, sprachen es die Fischer an und erklärten ihr Begehr. Angst zeichnete sich in dem jungen und überaus hübschen Gesicht ab, doch nicht wegen dem nassen Grab, sondern aus Sorge wer die kranke Mutter pflegen würde. Da sprach es: "Meine alte Mutter ist sehr krank und ich sorge mich sehr um sie. Versprecht ihr mir, euch ihrer anzunehmen und den Rest ihres Lebens für sie zu sorgen, so will ich mit euch gehen. Doch erlaubt mir diese Bitte, sagt ihr kein Wort von meinem Schicksal, ich habe Sorge es könnte ihr Herz brechen und so ihr Leben verkürzen." Die Seeleute versprachen es in aller Ehrlichkeit, den Wünschen des Mädchens nachzukommen. Sie fuhren mit dem jungen Kind auf die hohe See und überließen es den Wellen.
Fast fünf Jahre waren seit jenem Tag vergangen, da geschah es, das die Winde einen Segler an die Stelle trugen, wo einst das Mädchen in den Fluten versank. An eben jener Stelle blühte mitten im Wasser eine wundervolle Blume. Jedes einzelne ihrer Blütenblätter erschien kostbarer als alle Schätze dieser Welt und vom Blütenkelch ging ein Duft feinster Reinheit aus. Tropfen um Tropfen fiel von der zarten Blüte, doch der Kaiser konnte sie nicht aus der Hand legen. Bis kein Wasser mehr an dem kostbaren Pflänzchen haftete. Da geschah es: Ein Leuchten ging von der Blüte aus, sodass dem Kaiser vor Schreck die Pflanze aus den Händen glitt. Als sie zu Boden gesegelt war, öffnete sich der Blütenkelch und auf einer kleinen Welle des Nektars schwamm eine Meerjungfrau. Doch die Verwandlung war noch nicht abgeschlossen. Den als die kleine Fischdame den Boden berührte, verwandelte sie sich in ein zartes Mädchen von elf Jahren.
Der Kaiser, wohl seiner Stellung bewusst, gewann als Erstes die Fassung wieder und fragte das zauberhafte Mädchen aus. Da sprach es mit Engelsgleicher Stimme: "Ja, Herr, es sind schon einige Jahre vergangen, wie viele genau, dass kann ich euch nicht sagen. Ich wurde als ein Menschenopfer in den Wogen des Meeres versenkt, und als Gegenleistung für mein Leben, versprach man mir sich um meine kranke Mutter zu kümmern. So kam es, das ich in die Tiefen des Meeres gezogen wurde und mich im Seepalast des Meeresgotts wieder fand. Dort verlebte ich die Zeit, tat meinen Dienst und bekam viel Lob und Aufstieg für meine Leistungen. Doch all die Zeit konnte ich meine liebe Mutter nicht vergessen und sorgte mich Tag ein, Tag aus um sie. Da gewährte mir der Meeresgott noch einmal hinauf zu steigen, um sie wiederzusehen. Herr, ich freue mich, dass eure Fischer mich von den Wellen pflückten, so war die Reise kürzer als gedacht, doch jede Zeit ist zu lang, bis ich endlich Gewissheit habe, wie es meiner Mutter geht."
Das hörte der Kaiser voll Anteilnahme und gerührt von der Aufrichtigkeit der Tochter und sprach: "Sag liebes Kind, würdest du deine Mutter wieder erkennen, auch nach all den Jahren unter der salzigen See?"
"Ja Herr, sobald ich ihr Antlitz erblicke, werde ich sie wieder erkennen."
Der Kaiser veranlasste umgehend einen Erlass, dass alte Frauen sich im Palast einzufinden haben. Alle alten Frauen, ob groß, ob klein, ob reich, ob arm, fanden sich in den Mauern des Goldpalastes ein. Man ließ das Mädchen durch die Reihen gehen und fragte: "Ist deine Mutter unter ihnen? Wenn ja, dann sprich!"
Das lang lockige Kind schaute sich jede genaustens an, mit Bedacht ging es durch die Reihen und endlich traf es auf eine schwache Alte, welche sich kaum auf den Beinen halten konnte.
"Hier ist meine Mutter! Oh liebste Mutter, warum siehst du so schwächlich aus?" Mit einem wahren Aufschrei stürzte das Mädchen in die Arme der alten Greisin. Je länger die Umarmung dauert, je mehr es herzte, desto mehr Kraft schien durch den alten Körper zu fließen. Freudentränen rannen von ihren Gesichtern und die Mutter sprach mit zittriger Stimme: "Mein Kind! Mein Kind! Du lebst! Kann es denn sein? Jeden Tag habe ich auf deine Wiederkehr gehofft und wurde schwächer und schwächer. Die Fischer taten alles, um mich gut zu pflegen, doch was nützt Pflege, ist dein Glück fortgegangen? Allein der Funken einer Hoffnung, dich wiederzusehen und in den Arm zu nehmen, hat mich am Leben gehalten."
Der Kaiser und seine Berater sahen die übergroße Freude und waren zu Tränen gerührt. Da all dies nie ohne das zu tun des Meeresgottes geschehen wäre, veranlasste der Kaiser eine Prozession ans Meer. Dort feierte man ein großes Fest um Mädchen, Mutter und den Meeresgott zu ehren. Das gesamte Reich war versammelt und speiste bis in die Abendstunde munter die köstlichsten Gaben. So hörte auch der Meeresgott von dem freudigen Wiedersehen und war gleichsam ergriffen. Er wusste, dass nun die Menschen nicht mehr ihre Lieben opfern würden und so geschah ein letztes Wunder: Tausende von Lichter funkelnden vom Meer und ebenso viele Meerblumen stiegen auf. Die Wellen trugen sie im Schein des Abendrots in die Brandung, wo sie alle unversehrt den Strand erreichten. Dort, den Sand berührend, verwandelten sich die Meerblumen von Meerjungfrauen und Elfen in all jene Kinder, die sie einst waren. Jene, deren Verwandte noch lebten, stürzten in die Arme ihrer Eltern. All jene, deren Verwandte bereits im Jenseits weilten, begannen zu leuchten und verschwanden. Da fragte man den höchsten Priester, was dies zu bedeuten hatte und er antwortete: "Sie wandeln durch den Strom der Zeit, zu ihren Lieben, um sie dort in die Arme zu schließen." Und so geschah es, dass alle Meerblumenkinder vom Meeresgott in ihre Epoche gespült wurden. Nie wieder wurde ein Kind seiner Familie entrissen, um ihm geopfert zu werden.
Ende
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27.01.2019 © Felix Hartmann