2. Kapitel
Hanael hob einen Stein auf und schleuderte ihn weit von sich, ohne dabei auf seine Flugrichtung zu achten. Ein schmerzerfüllter Schrei, erklang kurz darauf. „Bei allen bösen Geistern, wer war das!“ Hanael zuckte zusammen und blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein anderer Mann, trat nun aus der dichten Vegetation heraus, die dem schmalen Pfad entlang wuchs. Hanael schaute ihn erstaunt an. Seine Haut war von dunklem Braun. Er gehört wohl zum Stamme der Awrighas. Diese lebten meist in den Küstengebieten der neuen Welt. Der Awrigha trug seltsame Kleidung. Ein blaues Wickelgewand, mit einem aus bunten Glasperlen, Goldplättchen und Knochen gefertigten Halsschmuck, der ziemlich schwer zu sein schien. Sein halblanges, krauses Haar, war ebenfalls mit bunten Perlen und filigran gearbeiteten Goldplättchen geschmückt. Grosse, goldene Ringe, baumelten von seinen Ohren. Er trug einen Speer und einen Pfeilbogen bei sich und wirkte sehr majestätisch. Besonders seine dunkle Haut faszinierte Hanael sehr. „Wer bist du?“ fragte er den Neuankömmling. „Ich bin Dinael, vom Volke der südlichen Awrighas und nur ein einfacher Mann auf Wanderschaft, der eine Bleibe für die Nacht sucht.“
Er rieb sich den Kopf und sprach dann: „Gerade traf mich ein Stein, war das womöglich deiner?“ Er blickte Hanael einen Moment lang durchdringend an und als dieser beschämt nickte und sich unter dem finstern Blick von Dinael leicht duckte, lachte dieser schallend auf. Er klopfte Hanael auf die Schulter und meinte: „Kein Problem, ich glaube nicht, dass du mich mit Absicht getroffen hast. Ich müsste ja auch nicht hier im Dickicht herumstreifen. Aber ich habe etwas gesucht, das ich jagen kann.“ Trauer fiel wie ein Schatten über Hanaels Gesicht und er sprach: „Früher, da hätte niemand Tiere getötet, um zu überleben. Ich und meine Frau leben noch immer von dem was uns die Natur sonst biete: Von Früchten, Kräutern, Nüssen, Beeren und sonstigen essbaren Pflanzen. Dennoch… ich kann heute schon nicht mehr mit den Tieren reden. Sie haben nicht mehr dasselbe Vertrauen zu mir, wie einst. Wohl weil es doch einige gibt, die angefangen haben sie zu jagen.“ „Wie ich z.B.“ erwiderte Dinael pragmatisch. „Mein Volk und ich haben gemerkt, dass das Fleisch uns guttut. Es stärkt unsere Körper und auch unsere Seelen. Man muss nehmen, was sich einem bietet. Meist leben wir von Fischen, doch wenn wir weit weg von zu Hause sind, dann jagen wir auch andere Tiere. Die Gegend in der wir leben, ist auch nicht ganz so fruchtbar, wie diese hier. Das Meer ist die Mutter, die uns vorwiegend nährt.“ Eigentlich sind es die göttlichen Eltern, die uns stets nährten,» wendete Hanael ein. „Das Meer ist auch ein Teil von IHNEN“, erwiderte Dinael. „Deine Ansichten sind etwas seltsam… so anders als unsere,“ sprach Hanael „Vielleicht ist gerade das euer Problem. Doch lassen wir das! Wüsstest du einen Ort, wo ich übernachten könnte?“
Hanael schaute den Fremden mit gemischten Gefühlen an. Er wusste nicht was er sagen sollte. War es wirklich klug diesen Mann, der so anders dachte als er und sein Volk, hier übernachten zu lassen?
„Dinaels Gedanken sind so einfach gestrickt, so schlicht. Er scheint sich gar keine Gedanken darüber zu machen, was sein Tun für Folgen für unsere Rückkehr in die einstige Glückseligkeit haben könnte. Wenn wir anfangen unsere Mitgeschöpfe mit solcher Selbstverständlichkeit zu töten, wie er es tut, dann werden wir uns noch mehr von unserem Ursprung entfernen und eines Tages reden die Tiere gar nicht mehr mit uns. Doch was tun wir dann, ist unser Ende dann nicht vorprogrammiert? Dinael sagt, das Fleisch tue den Menschen gut. Es stärkt sie, auch ihre Seelen. Würde das womöglich auch meiner geliebten Hanania helfen, damit sie vielleicht wieder mehr Kraft für die Meisterung unseres Schicksals bekommt? Aber was sind das nur wieder für Gedanken? Wie kann ich mich dazu hinreissen lassen? Und doch… dieser Fremde… er fasziniert mich. Er strahlt irgendwie Hoffnung aus. Ich weiss auch nicht warum. Seit er hier ist, geht es mir besser. Es geht so natürlich mit allem um. Er scheint viel weniger damit zu hadern, was uns wiederfahren ist und er scheint weniger unter der Trennung von unseren göttlichen Eltern zu leiden. Was nur gibt ihm diese Hoffnung, diese Zuversicht? Ich muss es wissen, darum werde ich ihn zu mir nach Hause einladen.“
Gesagt getan! Hanael sprach: „Wenn du willst, kannst du bei mir und meiner Frau übernachten, wir leben gleich hier in der Nähe. Dort unten beim Wasserfall. Es ist ein guter Ort.“ „Das hier ist sowieso ein sehr guter Ort, hier würde es mir auch gefallen, obwohl… das Meer würde ich schon vermissen.“ „Ich habe das Meer schon sehr lange nicht mehr gesehen.“ „Dann wird es bald wieder einmal Zeit. Das nächste Mal kann ich dich dann ja zu mir einladen.
Schliesslich, sind wir alle Brüder und Schwestern!“ „Nun ja…“ erwiderte Hanael etwas unsicher. „…Ich denke schon.“ „Du denkst schon...? Dinaels Ausdruck war eine Mischung aus Enttäuschung und Amüsiertheit. „Ihr seid ein seltsames Volk…“ „Sicher nicht seltsamer als die Awrighas, immerhin esst ihr Fleisch.“ „Vor allem Fisch“, wiedersprach Dinael, „Fleisch nur, wenn es nichts anderes gibt.“ „Hier gibt es aber genug andere Möglichkeiten. Ich glaube kaum, dass das Jagen und Essen von Tieren, einst vorgesehen war.“ Dinael erwiderte: „Früher war das auch nicht nötige, heute jedoch ist eine andere Zeit. Du bist ja schlimmer als die Indigenes oder die Ibranis, die würden auch unter keinen Umständen Fleisch essen, ich dachte nicht, dass ihr das so eng seht.“ „Du weisst nicht viel von uns Arienes.“ „Nein, in der Tat, ich weiss nicht viel von euch, ich bin das erste Mal hier. Ich habe schon eine weiter Reise hinter mir.“ „Warum reist du schon so lang umher?“ „Ich bin auf der Suche…“ „Auf der Suche nach was?“ Ein Schatten fiel über das Gesicht des Awrighas: „Nach Hoffnung, nach etwas, dass unser Leid beenden könnte. Etwas, dass uns die Lebensfreude und die Lebenskraft zurückgeben könnte. Etwas, dass uns alle erlöst. Es gibt viele in meinem Volk, die zutiefst verzweifelt sind. Einige von ihnen sind zornig, andere leiden an Gemütskrankheiten, wiederum andere, verlieren allmählich ihren ganzen Glauben… Wir… tragen schwer daran, dass wir unsere einstige Heimat verloren haben.“ Hanael nickte verständnisvoll. Das erste Mal legte Dinael seine heitere Fassade ab und der Kummer stand ganz klar in sein Gesicht geschrieben.
„Es ist seltsam, erst gerade noch, kam mir dieser Awrigha so fremd vor, so ganz anders, als wir es sind, doch eigentlich hat er mit den genau gleichen Nöten zu kämpfen wie ich, wie meine geliebte Frau, wie mein ganzes Volk. Er sucht nach neuer Hoffnung, nach Erlösung. Doch kann es keine Erlösung für uns geben, bevor wir uns nicht wieder so weit aufschwingen können, um zurück zu kehren. Es ist so unendlich schwer, seit sich das Göttliche mehr und mehr in Schweigen hüllt…“
Dinael schaute in den Himmel und sprach: «Das Göttliche schweigt, die ganze Zeit schweigt es, es will einfach nicht mehr mit uns sprechen. Wir wurden uns allein überlassen und… wir müssen nun schauen, wie wir zurechtkommen. Darum essen wir Fleisch und Fisch, darum brauchen wir es, um bei Kräften zu bleiben. Früchte, Nüsse, andere essbare Pflanzen, sie geben uns einfach nicht mehr das, was sie einst fähig waren zu geben, als… wir noch dort oben im Lichte wohnten. Das hier ist eine Welt voller Leid und Einsamkeit. Wir alle sind einsam, auf die eine oder andere Weise. Wir sind Ein Volk und zugleich werden wir uns immer fremder. Wie wundervoll war es doch noch, im Lichte unserer höchsten Geister zu leben, ihre Liebe zu spüren, immer und überall! Ihre Wärme und Nähe, ihre schlichte Präsenz. Wir haben uns jedoch als unwürdig erwiesen, wir haben versagt und uns vom Licht abgewendet und nun… was bleibt uns noch, nichts als Schmerz und die Sehnsucht… nach etwas, das vermutlich niemals mehr unser sein wird.“