8. Kapitel
Devi
Ich erwache plötzlich aus einem tiefen Schlaf und stelle fest, dass ich in meinem Bett liege. Also doch nur ein Traum! Ich zünde meine Nachttischlampe an und richte mich seufzend auf. Irgendwie finde ich es fast schade, dass ich das nur geträumt haben soll. Vermutlich hat mich die Geschichte dieser armen Frau am Pranger einfach doch zu sehr beschäftigt. Aber es ist schon seltsam, es hat sich alles so echt angefühlt. Ich spüre Druck auf meiner Blase und gehe mit schleppenden Schritten ins Bad. Das ziemlich grelle Licht über dem Lavabo flammt auf und schmerzt einen Moment lang meinen schlafverhüllten Augen. Ich blicke in den Spiegel und erschrecke, denn ich habe Blut im Gesicht! Es ist jedoch nicht mein Blut... Nein nicht schon wieder! Nicht schon wieder so eine Gewalttat, die auf meiner Seele lastet! Ich hebe zitternd meine Hände und auch diese sind voller Blut. Die Knöchel der rechten Hand schmerzen irgendwie, sie haben Spuren von einem Schlag, einen heftigen Schlag den ich geführt haben muss. Wie Schattenkreaturen schleichen sich Brocken von Erinnerungen in mein Bewusstsein zurück. Ich war also tatsächlich dort? Ja, es muss so gewesen sein. Es war nicht nur ein Traum. Ach du meine Güte! Ich drehe panisch den Wasserhahn auf und wasche die Blutspuren von meinem Gesicht und den Händen. Nein, das darf nicht wahr sein, das darf einfach nicht wahr sein! Was für teuflische Dinge gehen da vor sich? Wie konnte ich so viel Gewaltpotenzial entwickeln? Diese Frau… es ist diese Frau, diese… was ist sie bloss: Eine Dämonin? Irgendwie glaube ich das nicht, aber was sonst kann sie sein? Ist sie ein Teil meiner Persönlichkeit, welcher durch meine traumatischen Erfahrungen mit meinem Ex- Freund befreit worden ist? Aber warum jetzt gerade jetzt, wo ich endlich daran bin, mein Leben neu einzurichten?
Ich verrichte mein Geschäft wie in Trance und setze mich dann auf meinen Bettrand. Endlos lange starre ich nur vor mich hin und versuche die Geschehnisse der letzten Stunden wieder aus dem dunklen Sumpf meines Bewusstseins empor zu holen. Was ist mit mir passiert? Da war wieder diese kämpferische Frau gewesen, die von mir Besitz ergriff und danach… ist alles so verschwommen.
Dennoch… an etwas erinnere ich mich noch viel zu genau, an den Hass und die schrecklichen Ungerechtigkeiten, die man der jungen Frau am Prangen zugefügt hatte. Doch wie war ich dorthin gekommen? Ein Art Portal… wirbelnde Lichter um mich und dann…? Aber warum landete ich ausgerechnet an jenem Ort? Was oder wer hat mich dorthin gebracht? Ich kenne Indien doch gar nicht, ich war noch niemals dort. Vielleicht doch nur ein besonders lebendiger Traum? Aber dann hätte ich doch dieses Blut nicht an mir gehabt. Habe ich mir das vielleicht sogar auch nur eingebildet? Bildete ich mir alles nur ein? So langsam glaube ich verrückt zu werden. Was ist bloss mit mir los?
Ich fürchte mich langsam vor mir selbst und vor dem zu dem ich fähig bin. Ich habe dann Kräfte, die übermenschlich sind. Doch ich darf diese doch nicht für die Rache missbrauchen!
Ich glaube ich muss mal diese indische Frau im Henna Shop fragen, vielleicht weiss sie ja etwas darüber. Sie sagte doch, dass in mir die Kraft der kriegerischen Göttin Durga stark ist. Wer weiss, sie kann mir möglicherweise helfen. Ich weiss sonst wirklich nicht zu wem ich sonst gehen könnte. Vielleicht zu Monica. Doch diese hält mich dann bestimmt für verrückt. Sie kann das gar nicht verstehen. Sie würde es niemals verstehen und ich will sie nicht noch mehr verschrecken. Morgen gehe ich in den Henna shop, ich wollte sowieso mal Tätowierungen dort machen lassen. Das geht ja im Gleichen.
Dieser Gedanke beruhigt mich etwas und endlich schlafe ich wieder ein. Diesmal wird mein Schlaf zum Glück nicht mehr durch schlimme Träume gestört.
Tags darauf erwache ich mit einem brummenden Schädel und meine rechte Hand schmerzte noch mehr. Ich reibe sie mit einer Salbe ein. Dadurch werden die Schmerzen etwas gelindert. Dann binde ich meine Hand etwas ein. Bewegen kann ich all meine Finger noch, doch dass ich überhaupt solche Schmerzen habe, beunruhigt mich schon etwas. Als ich in diesem seltsamen Zustand war, habe ich das alles nicht gespürt. Noch immer gibt es eine Menge Lücken in meiner Erinnerung. Besonders im Bezug auf meine Rückkehr von dort. Ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen, wie das möglich war.
Meine Arbeit verrichte ich wie schon seit einiger Zeit, eher halbherzig und kann es kaum erwarten, bis ich endlich Feierabend habe und den Henna Shop in der Altstadt aufsuchen kann.
Bald bin ich bei dem kleinen Geschäft angelangt und als ich die Türe mich der kleinen Glocke, die mein Kommen ankündigt öffne, fühle ich wie eine wundersame Ruhe in mich einkehrt. Ich atme den angenehmen Duft der Räucherstäbchen und lausche auf die sanften Klänge von indischer Musik. Mein Blick fällt nun auf einen kleinen Altar auf der Theke. Erst jetzt sehe ich das dieser Altar eigentlich ein Altar der Muttergottheit des Hinduismus ist. Blumen umrahmen ein buntes Bildnis der Göttin. Davor stehen die Räucherstäbchen und eine Schale mit Früchten. Eine Art Opfergabe vermutlich. Noch tief in den Anblick des Altars versunken, welcher mit sanftem Kerzenlicht beleuchtet wird, erschrecke ich beinahe, als mich die Stimme der Besitzerin des Ladens anspricht. «Ein schöner Altar nicht wahr? » «Jaja, stottere ich. «Das ist aber nicht Durga. » «Nein, es ist ein anderer Aspekt der Muttergöttin: Lakshmi. Sie ist die Göttin von Schönheit, Fülle und Reichtum. Wie eine Mutter gibt sie alles, was die Lebewesen auf der Erde brauchen. Auf der spirituellen Ebene repräsentiert sie die Ansammlung von positiven Charaktereigenschaften. Durga ist eher kriegerisch und zerstört Altes, damit Neues entstehen kann. Aber beide gehören sie zur selben, grossen Gottheit.» «Das alles ist etwas verwirrend für mich, » erwidere ich unsicher. «Ich habe zu wenig den Durchblick in diesen Dingen. » «Das macht nichts. Sie spüren die Gegenwart der Göttin dennoch deutlich in sich, habe ich Recht? » «Ja, nur leider scheint es bei mir eher Durga zu sein, welche mich ab und an heimsucht. » Die Frau schaut mich neugierig an. Diesmal trägt sie einen türkisblauen Sari und dazu Silberschmuck mit blass türkisen Halbedelsteinen besetzt. Ihre Augen schauen mich tiefgründig an. Es scheint, als seien ihr solcher Ereignisse, wie ich sie beschrieb, nicht gar so fremd. «Sie sagten… Durga sucht sie heim? » fragt sie. «Ja… leider… Irgendwie ist das so, seit ich mein Leben umgekrempelt habe. » «Kommen sie doch mit, ich habe ein kleines Hinterzimmer, wo wir ungestört reden können. Mögen sie Chai Tee?» «Jaja… schon!» «Dann kommen sie doch!» ich zögere noch etwas, doch dann folge ich der Frau. Irgendwie habe ich Vertrauen zu ihr und glaube ihr meine Geschichte erzählen zu können.
Das Hinterzimmer ist wirklich sehr gemütlich eingerichtet, mit zwei kleinen, mit glänzenden Tüchern belegten Tischchen. Ein paar bequeme, handgedrechselte Stühle mit weichen Kissen darauf, stehen darum herum. Auf einem bunten, mit reichen Ornamenten verzierten Buffet, steht eine Kaffeemaschine und es gibt auch einen kleinen Herd und ein Waschbecken. Auch hier fehlen die bunten Wandbehänge verschiedenster indischer Gottheiten nicht.
«Setzen sie sich doch! » fordert mich die Frau auf. «Ich bin übrigens Devi. » «Ich heisse Milena.» Die Inderin lächelt ihr warmes Lächeln und ihre Gewänder rascheln, als sie anfängt den Tee zuzubereiten. Irgendwie ist es schon etwas seltsam hier zu sitzen und mich einer völlig Fremden anzuvertrauen.
Etwas scheu lasse ich meinen Blick schweifen. Irgendwie fühle ich mich hier sehr wohl. Devi bringt den Tee und stellt ihn vor mich. Sie nimmt sich selbst eine Tasse und setzt sich dann mir gegenüber. «Das was sie beschreiben, » beginnt sie dann ohne Umschweife «ist in Indien kein unbekanntes Phänomen. Es gab und gibt ab und zu Frauen, welche von der Muttergöttin übermannt zu werden. Meistens passiert das, wenn sie unter schwierigen Lebensumständen zu leiden haben, die sie unglücklich machen, oder sie sind sehr religiös. Sind sie denn religiös? » «Nein, eigentlich nicht sonderlich. Ausserdem bin ich eigentlich Christin. » «Christin, Hindi oder Muslima, das macht eigentlich keinen grossen Unterschied. Es kann theoretisch jedem passieren. » «Jedem, das glaube ich kaum! » erwidere ich etwas verächtlicher als gewollt. Doch Devi lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und fährt fort: «Doch es gibt solche Vorfälle, mehr als sie denken. Die Religion oder die Rasse spielen dabei keine Rolle. Wir würdigen in Indien Leute sehr, denen das passiert. Es ist unserer Ansicht nach eine Ehre, sowas zu erleben. » «Na ich weiss nicht so recht. Eigentlich empfinde ich es nicht als Ehre, eher als etwas das mir Angst macht. » «Weil sie es nicht kennen und weil sie es nicht kontrollieren können. In der westlichen Welt hat man sehr viel Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. » «Ja, wenn dabei Leute zu Schaden kommen auf jeden Fall. Bei mir war das nun schon mehrere Male so. » Ich erzähle Devi alles was sich in den letzten Monaten zugetragen hat. Die Worte sprudeln auf einmal nur so aus mir heraus und Devi hört mir aufmerksam zu.
Als ich geendet habe meint sie: «Ich verstehe ihre Lage. Das alles ist sicher etwas beängstigend. Doch irgendwas will ihnen die Göttin damit vermitteln. Sie ringt um ihre Aufmerksamkeit und aus irgendeinem Grund sind sie für ihren kriegerischen, kämpferischen Aspekt besonders empfänglich. Das hat wohl mit dem schrecklichen Leid und den traumatischen Erfahrungen zu tun, die sie schon in jungen Jahren gemacht haben. Sie sagten doch, es begann, als ihr Ex- Mann sie wieder so schwer misshandelte. Irgendwann war es wohl genug und die Göttin hat von ihnen Besitz ergriffen, damit sie sich wehren können. » «Ja, aber sie müsste jetzt auch nicht so gewalttätig sein, » wende ich mit bekümmerter Mine ein. «Es gibt noch etwas Ungelöstes in ihrem Leben, etwas, dass irgendwo in ihnen brodelt, » erwidert Devi. «Solange sie es nicht auflösen, werden sie vermutlich immer mal wieder solche Trancezustände erleben. Es gibt Gründe weshalb die Göttin bei ihnen so zornig auftritt.» «Das hilft mir jetzt auch nicht sonderlich, » denke ich bekümmert. Devi schaut mich verständnisvoll an. «Es ist wichtig, dass sie sich mit ihrem Trauma auseinandersetzen und es bearbeiten. Dann werden sie nach und nach wieder die Kontrolle zurückerhalten. Vielleicht wird die Göttin dann wieder von ihnen weichen… Es sei denn, sie sind für ein gänzlich anderes Leben bestimmt. » «Was soll das denn schon sein? » antworte ich. «Das kann ich ihnen nicht sagen. Das können nur sie selbst herausfinden. » «Womit wir wieder gleich weit wären, ausser dass ich nun weiss, dass ich vermutlich von einer zornigen Hindugöttin besessen bin. Die ich wohl niemals kontrollieren kann. Aber immerhin… ich stehe mit diesem Schicksal scheinbar nicht alleine da, wenn sie sagen, dass es auch noch andere wie mich gibt. » «Ja. Ich hatte sogar mal jemanden in meinem Bekanntenkreis. Sie ging dann aber in ein Kloster und widmete ihr Leben ganz der Göttin. Man hatte sie einst mit einem Mann verheiratet, den sie nicht mal kannte und dieser behandelte sie nicht gut. Eines Tages wurde sie von der Göttin übermannt. » «Kloster wäre wohl kaum etwas für mich. Aber vielleicht gründe ich ja mal eine Selbsthilfegruppe für «Von der Göttin Besessene», » erwidere ich zynisch. «In Indien hätten sie damit vielleicht sogar Erfolg, » lächelt Devi und ich bewundere einmal mehr ihren unerschütterlichen Gleichmut. «Doch hier in diesem Land, wohl kaum. » «Ja, wenn ich hier mit jemandem darüber reden würde, würde mich dieser vermutlich in die Irrenanstalt einweisen lassen. » «Damit haben sie wohl leider Recht. Doch zweifeln sie nicht an sich! Sie werden irgendwann alle Antworten finden. All das hat einen tieferen Sinn. » «Nun ja… ich hoffe es zumindest mal, » Devi kann mir also auch nicht weiterhelfen. Ich erhebe mich und spreche: «Danke für den Tee, das offene Ohr und dafür, dass sie mich wenigstens nicht als wahnsinnig abgestempelt haben. »
Ich will mich abwenden, doch Devi hält mich nochmals fest: «Sie sind nicht wahnsinnig, liebe Milena, im Gegenteil. Vermutlich sind sie gerade in einer Phase ganz neuer Klarheit. Etwas wartet auf sie und ich bin sicher, sie werden ihr Leid überwinden und dadurch auf wunderbare Weise reifen. Sehen sie Durga nicht als ihre Feindin, sondern als Freundin, als jemand der ihnen hilft zu neuer Stärke zu finden. Wenn sie ihr mehr und mehr vertrauen lernen, werden sie irgendwann ganz neu geboren. Ich werde ihnen, wenn sie wollen die ersten Henna Tattoos kostenlos machen. Es sind Tattoos die sie auf ihrem Weg unterstützen werden, denn alle Tattoos die ich ihnen mache haben eine besondere Bedeutung, wenn nicht gar magische Kräfte. » So langsam wird mir das ganze etwas unheimlich und ich versuche meine Unsicherheit mit einem lockeren Spruch zu überdecken: «Dann sind sie eine Hexe oder sowas?» «Keine Hexe, jemand welcher um die Macht der Symbole weiss und sie zu nutzen versteht.» Ich seufzte leicht und erwiderte: «Nun gut, schaden kann es sicher nicht.» «Es hilft ihnen vielleicht sogar dabei, ihre innere Balance nicht mehr so schnell zu verlieren und vielleicht werden sie damit sogar den Zorn der Göttin in ihnen etwas zügeln können.» «Wünschenswert wäre das ja.» Devi blickt auf ihre Uhr und meint: « Gerade ist nicht so viel los. Wollen sie dass ich ihnen mal ein paar Tattoos machen? » ich zucke leicht mit den Schultern. «Ja, warum nicht. Ich wollte das ja eh. Dekorativ sind die Henna Tattoos allemal und wenn sie auch noch eine Magie beinhalten, umso besser. » Ich grinse leicht und Devi beginnt mit ihrem Werk...