Noch etwas schlaftrunken und verwirrt von den Emotionen, welche der Traum im Flugzeug in ihr ausgelöst hatten, ging Nia von Bord. Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust, als sie in die winzige Ankunftshalle kam. Wo um alles in der Welt war sie denn hier gelandet? Ihr ganzer Mut, den sie während des Fluges noch verspürt hatte, schwand. Verloren stand sie herum und überlegte, was sie wohl jetzt am besten tun sollte. Einmal mehr schalt sie sich als naiv. Ein Flugeug besteigen ohne feste und genaue Absichten. "Einfach drauflos - wie alt bist du denn?" schimpfte sie sich selbst leise.
So schlug sie denn zuerst mal den einfachsten und üblichsten Weg ein, der auf jeder Reise zu gehen ist. So ein Toilettengang könnte ja bereits etwas entspannen und gab einem das Gefühl, im wörtlichsten Sinn geschäftig zu sein und etwas vorzuhaben. Zudem hatte sie schon davon gehört, dass einem die besten Ideen an bestimmten Örtchen kommen. Doch Nia verliess dieses bestimmte Örtchen genauso ideenlos wie sie es betreten hatte. Nur flüchtig hatte sie wahrgenommen, dass gerade nach ihr eine alte Frau den Waschraum betreten hatte.
Nia verliess das Hauptgebäude und atmetet erst einmal tief ein und aus. Dann sah sie sich um. Viel hatte dieser kleine Flughafen nicht zu bieten. Die meisten Passagiere, welche mit derselben Maschine wie sie geflogen waren, hatten das Gelände wohl bereits verlassen. Verloren stand Nia da. Was nun?
"Achte auf die Zeichen", hatte das Reh ihr nun schon zweimal gesagt. Und dass sie es finden werde. "Soll mal einer ein Reh finden auf einer Flugpiste", seufzte Nia.
Langsam schlenderte sie über den Vorplatz des Flugplatzes - der Begriff Flughafen wurde diesem Ort nun wirklich nicht gerecht. Eine einzige Flugpiste, ein einstöckiges Hauptgebäude, ein Kiosk, der Fish and Chips und selbstverständlich ein allgegenwärtiges braunes Getränk anbot, streunende Hunde - dies entsprach so gar nicht dem, was sich Nia unter einem Flughafen vorstellte. Die Vegetation hier war karg und der Himmel hatte sich grau überzogen. Nia fühlte sich sehr einsam und verloren. Auf einmal entdeckte sie ein Schild: "Autovermietung" . Sie überlegte. Ihren Ausweis hatte sie zwar als ganz junge Frau einmal gemacht, war dann aber nie mehr richtig Auto gefahren. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass ein Auto in einer Gegend mit solch grossen Distanzen ganz praktisch sein könnte. Mutig näherte sie sich dem Schalter. Vor ihr stand eine alte Frau, die ihr, zumindest von hinten, bekannt vorkam. Auch sie schien ein Auto mieten zu wollen.
Da wandte die alte Frau den Kopf. Braune, sanfte Augen blickten Nia aufmerksam an.
"Wollen wir gemeinsam fahren?" fragte sie die verdutzte jüngere Frau.
Nia war völlig perplex. Da stand sie irgendwo im weiten, hoffentlich nicht wilden Westen dieses Landes und bekam soeben eine Mitfahrgelegenheit angeboten von einer unbekannten alten Frau, die ihr aber trotz allem bekannt vorkam. Diese Augen - woher kannte sie bloss diese Augen? "Nun?" fragte die alte Frau freundlich. "Haben Sie es sich überlegt? Ich beisse normalerweise nicht. Und gemeinsam reisen macht doch viel mehr Spass als alleine, finden Sie nicht auch?"
Nia errötete und räusperte sich verlegen. "Doch - ja - gerne ... Bloss... "Die alte Frau lachte lachte vergnügt. "Bloss kennen wir uns nicht, meinen Sie? Kein Problem, das können wir ja unterwegs nachholen! Nun - wie ist es?" Nia fühlte leichten Schwindel in sich aufsteigen. Doch gleichzeitig meldete sich nun auch ihre Abenteuerlust. "Warum nicht?" flüsterte ihr diese zu. "Du bist doch hergekommen, um hier etwas zu erleben! Also pack diese Chance!"
Nia nickte benommen. Wie durch eine Nebelwand meinte sie zu hören, dass die alte Frau ein Auto für sich und ihre Tochter mietete.
Kurze Zeit später sass sie auf dem Beifahrersitz eines leicht verbeulten Mietwagens. Schwungvoll setzte sich die alte Frau hinters Steuer. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, hielt inne dann inne und schaute Nia direkt an. "Nun, wo wir ja gemeinsam unterwegs sein werden, sollten wir uns vielleicht doch bekannt machen. Ich bin Sally. Und du heisst..." "Nia," beeilte sich diese zu antworten. "Ach, und herzlichen Dank! Es ist ... es ist... " "Ja, ich weiss. Es ist alles noch sehr ungewohnt. Gewöhn dich dran, Nia-Kind. Mit mir wirst du noch sehr viel Ungewohntes erleben!"
Sally startete fröhlich glucksend den Motor und fuhr los.