Ungeduldig und angespannt saß der hochgewachsene Ire in einem Sessel am Fenster und starrte auf die Lichter der Nacht. Dublin war eine Augenweide und obwohl es ihm so viele Probleme gemacht hatte im vorletzten Jahrhundert, liebte er es, hier zu sein.
Donnchadhs Odyssee durch die Hotels der Stadt war schon beinahe ein Hobby für ihn und wann immer er in einem war, fühlte es sich an, als wäre es das erste Mal. Die Angestellten der Gasthäuser konnten sich nie daran erinnern, dass er vorher schon einmal dagewesen war.
Besser so, wenn man bedachte, dass immer, wenn er eingecheckt hatte, mindestens ein Zimmermädchen oder ein Hotelboy spurlos verschwand. Oder auch mal ein Gast.
Ein Mann musste schließlich essen und obwohl Don es liebte, gute Steaks zu verzehren, reichte das nicht immer aus.
Er wusste, was sich für einen Vampir gehörte und ernährte sich so, wie es für seine Rasse angemessen war. Schon der Gedanke, vom Blut eines schmutzigen Tieres zu leben, trieb ein Würgen seine Kehle hinauf.
Wie ein streunender Hund von Ratten zu leben war der letzte Ausweg, wenn es nichts anderes zu beißen gab, wenn man monatelang auf einem Schiff eingesperrt war oder in einem Kerker verrottete. Doch ein Blutsauger, der etwas auf sich hielt, konnte das unmöglich einem Menschen vorziehen.
Schon gar nicht in dieser neuen Zeit, in der die Sterblichen Blut in eigens dafür angelegten Banken aufbewahrten und damit ihre Krankenhäuser belieferten. Diese hübschen, überfütterten und fetten Menschen des 21. Jahrhunderts waren ein Festmahl für jeden Vampir und jemand, der einst so stolz gewesen war wie Dionysos, verzichtete freiwillig? Er war eben doch ein Schwächling geworden, der verlernt hatte, seine Fänge zu nutzen!
Sein menschliches Haustier hatte ihm die Krallen gezogen und ihn verweichlicht. Das war eine Schande.
Don hatte den alten Dionysos sehr geschätzt. Er war ein Monster gewesen. Wie konnte man einen Mann anders bezeichnen, der ein Waisenhaus niederbrannte, ohne auch nur einen Moment zu zögern?
Natürlich war Donnchadh bei dem Ereignis nicht dabei gewesen, doch er hatte später davon erfahren und das hatte ihn sonderbar zu dem anderen Vampir hingezogen. Dessen Wahnsinn hatte ihn fasziniert. Um nicht zu sagen, berauscht.
Dionysos war damals in der Gemeinschaft der Blutsauger eine große Nummer gewesen. Jeder kannte seinen Namen und die Schauergeschichten über ihn. Viele wollten sich in seinem Ruhm sonnen und an dem Spaß teilhaben, den er sich mit den Menschen machte. Doch Dionysos hielt beinahe jeden auf Abstand und war ein ausgesprochener Einzelgänger. Umso mehr hatte es Donnchadh überrascht, dass er von dem anderen als Begleiter akzeptiert worden war.
Auch wenn Don nicht so gestrickt war wie Dionysos und sich nicht erotisch von ihm angezogen gefühlt hatte, spürte er dennoch eine Verbindung zu diesem und hatte die Zeit, in der sie gemeinsam Dublin terrorisierten, weidlich ausgekostet.
Bis der Vampir ihn verraten hatte. Donnchadh hätte eigentlich wissen müssen, dass man einem Blutsauger nicht trauen konnte, dem man all die Jahrhunderte nachgesagt hatte, seinesgleichen im Auftrag der Clans zu vernichten, und doch traf es ihn hart.
So sehr, dass er das bis heute nicht hatte vergessen können. Ebenso wenig wie die Narben verschwanden, die der verfluchte Jäger ihm damals mit Hilfe einer glühenden Eisenstange zugefügt hatte, bevor er, Don, es geschafft hatte, die dreckige kleine Made zu töten und zu fliehen.
Und seitdem hatte er mit mehr oder weniger viel Aufwand versucht, den Verräter zu finden. Dionysos hatte ihm ja bereits damals von seiner Zuflucht erzählt, allerdings niemals Namen genannt. Ein Geheimniskrämer war und blieb eben immer einer. Und das Flüstern, das zuvor über Jahrhunderte nicht nachgelassen hatte, die leise weitererzählten Geschichten seiner Gräueltaten, verstummte schließlich.
Dionysos war ein Geist geworden.
»Don?«, brach sich nach einer ganzen Weile, die der Mann nur über die Lichter der Stadt geblickt hatte, eine Stimme in sein Bewusstsein.
John, den Donnchadh durch eine Klinge ins Herz für einige Stunden schlafen geschickt hatte, hatte das Hotelzimmer betreten. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er das dem Anderen noch nicht verziehen hatte, aber die Rollen waren klar verteilt.
Don war der Älteste von ihnen, er war mächtiger, er hatte das Sagen!
»Johnny? Hast du etwas für mich? Ich hoffe für dich ...«
Der angesprochene Vampir zuckte fast unmerklich und hob eine Mappe. »Ich habe mich in den Rechner der County-Polizei eingehackt, um nach Meldungen über verletzte Tiere und dergleichen zu schauen.«
»Ah, ich wusste, es würde nützlich sein, mir einen jungen Gehilfen aus dem Computerzeitalter zu suchen. Die verstehen etwas davon. Und was hast du herausgefunden?«
»Nichts.«
»Nichts?«
John schüttelte den Kopf. »Entweder hat es keine Vorfälle gegeben oder die Menschen haben das nicht angezeigt. Tiere, gerade Vieh, verletzen sich nun einmal, wenn sie auf der Weide stehen. Vermutlich haben sich die Farmer, wenn etwas passiert war, nichts dabei gedacht ...«
»Also ist das eine Sackgasse?«
Der junge Vampir konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, das einen gewissen Stolz ausdrückte. »Das würde ich nicht sagen. Nachdem ich bei der Polizei kein Glück hatte, habe ich die Unterlagen der größten Flughäfen an der Ostküste eingesehen und von da aus weiter gesucht ...«
»Und? Gott, wenn ich dir jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen muss, bringe ich dich um!«
»Nun, wenn man weiß wie, kann man die Spur eines Menschen recht gut nachvollziehen. Kreditkartenabrechnungen, Hotelbuchungen, Flüge, das volle Programm. Ich bin auf eine Buchung eines Garrett Pinkerton aus Gatwick in Südengland gestoßen, der zusammen mit einem gewissen Henry St. John vor zwei Wochen in Irland eingetroffen ist. Am Flughafen in Waterford.«
»Henry St. John ...«, murmelte Don und ein feines Lächeln umspielte seine Lippen.
»Dionysos’ bürgerlicher Name, wie du sagtest.«
Donnchadh nickte. Er hatte Dionysos’ geheimgehaltenen Namen durch Zufall einmal aufgeschnappt und geahnt, dass es womöglich eines Tages nützlich sein könnte, diesen zu kennen.
»Wo sind sie?«
»In Dunmoor, Lower Wicklow. Mit dem Auto etwa eineinhalb Stunden südlich von Dublin. Die Kreditkarte dieses Pinkerton wurde durch eine Pension namens ‚Goodfellow Inn’ belastet.«
Don lachte leise. »Die Menschen haben es sich heute so einfach gemacht. Bargeldloses Bezahlen, Onlinebuchungen ... ganz ohne zu wissen, wie leicht man es anderen macht, sie zu verfolgen.«
»Wenn man weiß, wie«, entgegnete John und seine Lippen zuckten. Er wusste genau, dass Donnchadh nicht den geringsten Schimmer hatte, wie er all diese Informationen gefunden hatte. Don konnte im Internet gerade einmal eine Pornowebseite aufrufen.
»Dafür hab ich ja euch. Um mich nicht selbst damit herumzuschlagen. Warum hast du diese Onlineverfolgung nicht schon vor einer Woche gemacht? Anstatt dich auf Vermisstenanzeigen zu konzentrieren?«
»Weil du uns Anweisung dazu gegeben hast und zu nichts anderem.«
Der Ire knurrte ungehalten und funkelte den jungen Vampir an. »Mitdenken ist nicht eure Stärke, oder? Der Nachteil der Internetgeneration. Einer dümmer als der andere, nur noch Fachidioten, wo man hinsieht.«
Don nahm den Ordner entgegen, den John ihm hinhielt und blätterte durch die Kopien. »Wo treibt sich Leo herum? Wenn der wieder auf meine Kosten mit einer Nutte auf einem Zimmer verschwunden ist, reiß’ ich ihm den Kopf ab.«
»Er besorgt uns das Abendessen«, beschwichtigte der junge Vampir ihn und nahm auf einem Stuhl Platz.
»Danach werdet ihr beide nach Dunmoor aufbrechen. Ihr behaltet die beiden ... Liebesvögel«, Don verzog spöttisch den Mund, »im Auge, damit sie uns nicht wieder entwischen. Aber wehe, ihr lasst euch erwischen! Dionysos wird nicht zögern, euch zu vernichten, wenn ihr seinem Liebchen zu nahe kommt. Er mag auf Kuschelkurs mit den Menschen gegangen sein, aber sein Instinkt ist ausgeprägt. Ich habe selbst erlebt, wie er sich benimmt, wenn der Junge dabei ist, als ich ihn traf.«
Beide Vampire wandten den Kopf um, als die Tür des Hotelzimmers sich erneut öffnete und der Jüngste im Bunde, Leo, mit einer jungen Frau im Schlepptau hereinkam. Diese ging zweifellos einem fragwürdigen Beruf nach und sah sich verwirrt um, während die Unsterblichen nur lächelten und der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
»Es ist angerichtet«, knurrte Donnchadh leise.
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Mit einem genüsslichen Brummen rieb Garrett sein Bein an Henrys nackter Haut und strich über dessen Brust.
Es war stockfinster in dem Zimmer, da die Straßenlaternen in Dunmoor nur das Nötigste an Licht gaben und so nichts bis in den ersten Stock vordrang.
»Wolltest du nicht eigentlich schlafen?«, schnurrte der Vampir in der Dunkelheit und hörte den Anderen nur leise kichern.
»Warum? Haben wir morgen etwas vor?«
»Klar. Das Anstreben der Weltherrschaft von Dunmoor aus oder so?«
Garrett biss Henry in die Schulter. »So so. Und hier ist das Zentrum? Ich dachte, du wolltest irgendwann wieder nach Hause?«
Der Unsterbliche packte den jungen Mann und zog ihn an sich, bevor er nickte und brummte: »Es ist nett hier. Für den Moment. Aber Daheim ist es am Schönsten.«
»Denk’ an unser Kind, das wartet auf uns!«
»Wir sind wirklich ein verrücktes schwules Paar mit einer Katze als Babyersatz.«
Beide lachten.
»Ich glaube, ein echtes hätte zwischen uns keinen Platz. Und ich will auch keins«, murmelte Garrett gemütlich. »Nichts, was mich zwingt, meine Aufmerksamkeit von dir abzuwenden.«
»Du bist ja richtig selbstsüchtig.«
»Na du nicht? Würdest du das wollen? Ein Kind und mich die nächsten zwanzig Jahre teilen?«
»Nein«, knurrte Henry finster.
Der Vampir hatte schon einige Male gedacht, dass es, wenn er anders ticken und Frauen begehren würde, möglich wäre, etwas Eigenes, Leibliches zu haben. Etwas, das ihm bleiben würde nach dem Tod des geliebten Menschen. Auch wenn es schwierig für einen Unsterblichen war, mit einer menschlichen Frau ein Kind zu zeugen, so war es doch nicht unmöglich. Doch es war nun einmal nicht so.
Henry war, wie er war und hatte sich, nach der anfänglichen Scham darüber, in dieses Leben eingefügt und sich akzeptiert. Und er liebte es.
Er nahm gern in Kauf, mit Garrett keinen leiblichen Nachwuchs haben zu können, solange sie nur einander hatten. Denn der Vampir bezweifelte, dass er jemanden mehr würde lieben können als ihn. Auch ein Kind nicht. Mal von der Tatsache abgesehen, dass Henry, bei seiner dunklen Vergangenheit und den ganzen Altlasten, einen furchtbaren Vater abgeben würde.
»Na siehst du«, drang Garretts murmelnde Stimme in die Gedanken des Vampirs.
»Ich bin sehr egoistisch und will dich ganz für mich«, kicherte Henry und spürte, wie der junge Mann an seiner Schulter nickte. Garretts Haare kitzelten den Unsterblichen.
»Ich weiß. Ich auch.«
»Gut, dass wir uns da einig sind.«
»Wie fast immer.« Garrett war nur noch schwer zu verstehen und so sparte sich Henry eine Antwort. Sein Freund war bereits fast eingeschlafen und würde die Worte vermutlich ohnehin nicht mehr wahrnehmen. Es gab ja auch eigentlich nichts mehr zu sagen.
Während der Vampir seine Fingerspitzen über Garretts Rücken gleiten ließ, blickte er an die dunkle Decke des Zimmers, über die der Lichtstrahl eines vorüberfahrenden Autos strich und wieder verschwand.
Die beiden wussten nicht, was in diesem Moment auf dem Weg zu ihnen war.