Hinter dem Hologlas der versteckten Lounge blickte Antaar Plegas starr und ohne zu blinzeln auf die Szene im Inneren des Trambelli-Gedenkcenters. Niemand würde ihn sehen können, denn die Scheibe wirkte von außen wie eine weitläufig verzierte Wand. Und doch wussten alle, dass er dort stand und sie beobachtet. Er konnte die Gedanken seiner treuen Untergebenen hören, auch die der weniger Gefügigen. Nur der Neuankömmling, den die Sicherheitsbeamten gefesselt hineinbrachten und vor den Götterhain als offenkundigen Rebellen stellten, entzog sich völlig seiner Einsicht. Das war schlichtweg sehr beunruhigend. So etwas sollte es nicht geben, so etwas durfte es nicht geben! Dachte er, verzog aber keine Miene. Er war immerhin ein Gott unter Göttern. Ambrosius Antaar Plegas, die Spitze der Nahrungskette in Person. Sein Titel, Ambrosius, der Unsterbliche, den Plegas sich selbst per Dekret verleihen hat lassen, war genau das, was er sein wollte und wonach er mehr als alles andere strebte. Unsterblichkeit. Äonen erleben zu dürfen. Wie ein Gott aus der Vorzeit wollte er sein. Unsterblichkeit war mehr wert als Macht und Reichtum. Die bedeuteten ihm nicht mehr viel. Darum hatte allein die Zeremonie der Titelverleihung über zwei Billionen Credits gekostet. Damit waren er und sein Titel mehr wert, als die gesamte Welt, von der er ursprünglich stammte. Was machte das schon? Ob eine Hungersnot hier oder ein lokaler Krieg dort oder sogar ein versuchter Genozid in seinem Reich stattfand. Das war alles so nebensächlich. Wichtig war nur noch die Größe seiner Unsterblichkeit. Alle werden staunen, wenn er die 500 Jahre überschreiten würde und damit diese magische Grenze der angeloiden Spezies endlich durchbrechen würde.
Es wäre ein weiterer Triumph in seinem ohnehin schon anbetungswürdigen Lebenswerk. Ein Teil von ihm erinnerte sich ständig all seiner vielen Erfolge auf dem Weg zum Protogott. Das erheiterte ihn innerlich bei allem, was er tat. Seine stark erweiterten neuralen Fähigkeiten bescherten ihm noch einige andere Annehmlichkeiten und normalerweise wusste er genau, was andere gerade dachten. In einem Umkreis von Tausend Metern war ihm nichts verborgen und keiner war sicher vor ihm. Normalerweise war dem so. Somit blieb die Frage, wer war diese kleine gefesselte Made da unten, die sich seinen Kräften erfolgreich entzog? Das gehörte sich einfach nicht! Seine düsteren Gedanken würden mit nichts Gutem enden, dessen war er sich sicher. Antaar Plegas rechter Daumen begann fast unmerklich zu zucken. Das erste Anzeichen, dafür, dass etwas nicht stimmte. Obwohl er es wusste, ignorierte er es vorerst erfolgreich. Er beugte sich etwas weiter vor, sodass sein Kopf nur noch wenige Zentimeter vom Hologlas entfernt war. Seine dunklen Augen weiteten sich, in ihnen spiegelte sich die ganze Pracht der Trambelli-Halle wieder. Ungeheuerlich was hier geschah, es wurde sogar noch verrückter. Der Rebell redete vom Paradies, dem Mittelpunkt des Kosmos und irgendeiner Reise dorthin. Das war eindeutig Ketzerei.
Ketzerei, die schon sein Großvater Darion als einer der ersten bekannten Metawesen ausgelöscht zu haben glaubte. Sofort setzte er einen Schmerzreiz in den Kopf des Rebellen, um ihn für die verbotenen Worte zu bestrafen. Die erhoffte Reaktion blieb jedoch aus. Kein Geschrei, kein sich vor Schmerzen herumwälzen, nicht mal ein Zucken durchfuhr den Rebellen. Entweder war der Baldorianer wirklich immun gegen seine Kräfte, oder völlig schmerzresistent. Möglicherweise wurde er zuvor schon so sehr gefoltert, dass ihm der zusätzliche Schmerz nicht mehr umhauen konnte. Einige Folterärzte haben in einem inoffiziellen Bericht erwähnt, dass es mitunter Angeloide gab, die nach einer gewissen Zeit der körperlichen Folter plötzlich keine Nervenimpulse mehr weiterleiteten. Der sogenannte Nerventod vor dem eigentlichen Tod. Als würden sie gar nichts mehr spüren. So einer könnte hier gerade vorm Götterhain stehen. Vielleicht war dem so? Plegas wollte es genauer wissen und strengte sich mehr an. Nichts geschah.
Antaar bemerkte außerdem, dass eine klebrige Flüssigkeit an seiner Schläfe herunterlief. Es war sein eigener widerlicher Schweiß. Er ekelte sich einen Augenblick lang vor sich selbst und ärgerte sich über seine Überanstrengung. So eine Sauerei. Er wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal geschwitzt hatte. Schnell beschloss er, jemand anderen dafür verantwortlich zu machen, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Diese Übung hatte er schon hunderte Male zelebriert. Sofort wusste er auch, wie er es begründen könnte, als würde es jemand wagen ihn zu hinterfragen. Er hatte Vorsorge getroffen, dass in allen Räumen, in denen er sich bewegte, exakt 17°Celsius zu herrschen hatten. Und dieser Raum fühlte sich eindeutig wärmer an. Darauf konnte er sein Schwitzen schieben, falls es überhaupt jemand bemerkt haben sollte. Ruckartig drehte er sich um und besah seine Lakaien, die sich im hinteren Bereich der Lounge wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner versammelt hatten und jäh zusammenzuckten, als sie seinen Blick sahen.
Seine schwarzen Augen hatten weder Iris noch Pupille. Er behauptete, es wäre von Geburt an so. Die Wirklichkeit über sein früheres Leben kannten nur sehr wenige. Dafür hatte er schon vor langer Zeit gesorgt. Während ein Teil von ihm darüber nachsann, dachte ein anderer Teil darüber nach, wen von seinen Dienern er bestrafen würde. Mit seinem rechten Ärmel wischte er sich schnell den Schweiß von der Schläfe. Dieses schweißgetränkte Gewand würde er vernichten müssen. Das schrie nach Vergeltung. Er würde sich später einen armen Trottel herauspicken und kurzen Prozess mit ihm machen. Dieser Gedanke entlockte ihm ein kurzzeitiges Lächeln und für einen Moment vergaß er glatt, warum er überhaupt erst ins Schwitzen geraten war. Sein Blick kehrte wieder zum Rebellen zurück und dann passierte es. Der kleine gefesselte Mann, outete sich inmitten der ehrwürdigen Trambelli-Halle vor den empörten Protogöttern als Anhänger eines anderen Herrschers. Das war ein Affront gegen den Kosmischen Götterhain selbst, von dem schließlich alle Macht im Reich ausging. Die anwesenden Götter schrien lautstark durcheinander und übertrumpften sich gegenseitig mit perfiden Ideen, wie dieser Wicht zu bestrafen wäre. Andere mahnten zur Ruhe und beschwichtigten ihre Brüder und Schwestern. Das riesige Rund des Götterhains, das stufenweise emporstieg und jedem Protogott seinen angestammten Platz darbot, brodelte nun voller Emotionen. Fast alle hatten dazu etwas zusagen, und zwar gleichzeitig. Bei diesem Anblick wusste Plegas nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte. Über den ketzerischen Baldorianer in der Mitte oder seine Mitgötter, die sich benahmen wie normale Sterbliche. Marillo Quan, ein gelbhäutiger Samptano, der sich als neuestes Mitglied im Götterhain noch beweisen wollte, schritt sogleich zur Tat. Er hob nur eine Hand, machte ein bestimmtes Zeichen und plötzlich befand sich der kleine Utopist nicht länger in den Händen der Wache, sondern im Würgegriff von Marillo Quan. Antaar war fast empört darüber, dass Quans Fähigkeiten zu funktionieren schienen, wo doch seine eigenen versagten. Einige Mitgötter um ihn herum fingen spontan an zu klatschen. Plegas las seine Gedanken und erkannte den kindischen Stolz des Samptano. Quan wollte, dass er ihm zusah. Also machte Antaar das einzig Richtige aus seiner Sicht und drehte sich bewusst weg. Der kleine Wurm in Marillos Hand regte sich nicht und wehrte sich auch nicht. Nur ein paar erstickte Worte lagen auf seinen Lippen. Plötzlich wurde es sehr still im Raum. Marillo Quan legte den Kopf schräg. Hörte er da etwa ein Gebet zu anderen Göttern oder hatte sein Übersetzter einen Fehler? Voller Schrecken nahmen auch die anderen Herrschenden zur Kenntnis, dass der Wicht in Marillos Hand verbotene Namen um Hilfe anrief, also kein Fehler. Marillos Griff lockerte sich, sodass der kleine Baldorianer zu Boden fiel. Angewidert, als hätte er jemand Ansteckendes berührt, zog er seinen Arm zurück und wischte ihn an seinem Hosenbein ab. Antaar Plegas wandte sich bereits dem Ausgang entgegen, als ihn eine vertraute innere Stimme mahnte: »Vorsicht, der ist gefährlicher, als du denkst, beende dieses Schauspiel und lass ihn endlich töten!«. Dieser Stimme nicht zu gehorchen wäre töricht gewesen, darum gab Antaar ihr nach. Sofort ging er wieder zum Hologlas und visualisierte einen ganz bestimmten Protogott an. Binnen Sekunden hatte er Zshukraqh, dem Älteren, einen Gedankenimpuls eingegeben, der sich für ihn so anfühlen würde, als käme er von ihm selbst. Zshukraqh, der einzige Farlon Gonko im Götterhain, schnallte lächelnd seine Brachuspistole von seinem Holster und drückte genüsslich ab. Die Baldorianer und die Farlon Gonko waren von Haus aus nicht gerade die besten Freunde. Antaar Plegas wusste das natürlich und nutzte diesen Umstand kurzerhand aus. Später würde er Zshukraqh für sein schnelles Eingreifen loben. Der alte Narr würde denken, es wäre seine eigene Idee und sein Mut gewesen, die die Situation bereinigt hätten. Plegas lächelte über seinen dümmlichen Untergebenen und bereitete schon seine Rede vor.
Als er sich wieder dem Ausgang zuwandte, erinnerte er sich an den ekligen Schweißtropfen. Er überprüfte nochmal sicherheitshalber, dass kein weiterer Schweiß von seinem Kopf tropfte. Das war nicht der Fall, also zurück zur Tagesordnung. Schatten legten sich auf sein Gesicht. Seine Augen wurden immer kleiner. »Du, du warst zuständig für die Einhaltung meiner Temperaturgebote« näselte er den erstbesten Diener an, der ihm in die Quere kam und deutete mit seinem metallenen Zeigefinger auf ihn, als wäre er eine lästige Fliege. Der Diener gab weder eine Widerrede noch eine Rechtfertigung von sich. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Doch er beugte sich seinem Schicksal, immerhin hoffte er dadurch in die ewige Konstellation aufgenommen zu werden. Dafür hatte er wahrlich genug getan. Seine Augen starrten ein Loch in den Boden. Die Umherstehenden traten symbolisch zwei bis drei Schritte zurück, um nicht auch noch vom Zorn des Protogottes ergriffen zu werden. Der Diener, der nun sterben würde, hieß Marzozuin, ein einfacher Adon aus gutem Hause. Geh zu den Göttern, hatte man ihm geraten, dort kann man Karriere machen und in der Konstellation vorankommen. Und jetzt sollte er sterben wegen der Laune des obersten Gottes dieses lächerlichen Götterensembles. Antaar Plegas verzog genüsslich den Mund, da er die Gedanken des jungen Dieners selbstverständlich erkannte. Nun hatte er auch einen legitimen Grund diesen Knirps aus der Geschichte zu tilgen, Gotteslästerung. Ein kurzes Schnipsen und der rötliche, rundliche Kopf des Adon verwandelte sich in eine breiige Masse und zerfloss wie heißes Wachs. Marzozuin sackte mit einem gurgelnden Geräusch einfach in sich zusammen, er konnte nicht mal mehr schreien. Das war eine Lektion in Sachen Furcht für die ganze Belegschaft. Eine Überflüssige wohlgemerkt, wussten doch alle um die schreckliche Macht des Ambrosius. In einem Sendschreiben an die Familie des Verstorbenen würde es später heißen, er sei in Ausübung seiner Pflicht gestorben. Die damit verbundenen Konstellationssprünge für die gesamte hinterbliebene Familie und die Trauerbekundung durch das Siegel des Ambrosius selbst würden dem Anspruch des Ausgleichs genüge tun. Sodass alle Fragen bezüglich der Umstände des Ablebens besagten Dieners obsolet und gar frevelhaft wären. Ambrosius Antaar Plegas schwebte fröhlich, als wäre nichts gewesen dem Ausgang entgegen und nickte dabei noch freundlich in die Richtung der anderen Bediensteten und politischen Speichellecker. »Ambrosia! Ambrosia!« Hallten die Rufe seiner Dienerschaft in der Lounge noch lange wieder, als sich die Tür schon längst surrend hinter ihm geschlossen hatte.
Währenddessen sackte auch der Baldorianer auf dem Boden des Trambelli-Gedenkcenters in sich zusammen. Der Strahl der Brachuspistole hatte seine komplette Brust aufgerissen und verbrannt. Er starb innerhalb von Sekunden, lautlos aber schmerzvoll, falls er noch Schmerzen empfinden konnte. Vor allem die Insektoiden und Similoiden Götter beglückwünschten Zshukraqh für seine beherzte Heldentat. Über den Umstand, dass in der Heiligen Trambelli-Halle Blut vergossen wurde, verlor auch im Nachhinein keiner ein Wort. Zu groß war die Furcht vor der Omnipräsenz des Ambrosius. Natürlich gab es einige Angeloiden, besonders natürlich die beiden Baldorianer im Kreise des Götterhains, die sich sehr zurückhielten. Sie tauschten lediglich vielsagende Blicke aus und schauten hoch zur Lounge, wo sie ihren Herrscher vermuteten. Doch dann öffnete sich das goldene Mindarytor und alle Augen richteten sich auf die Ankunft des Ambrosius. Die Gespräche und Glückwünsche verstummten, während Antaar Plegas durch die Reihen hinunter zum Helden des Tages schwebte. Um ihren Anführer nicht zu empören, schafften drei kräftige Sicherheitsbeamte noch schnell die Leiche hinaus. Zshukraqh beugte seinen weißen buschigen Kopf, bis der Ambrosius ihm erlaubte, wieder aufzusehen »Nein, nein mein treuer Zshukraqh. Du kannst mir ins Angesicht sehen. Du hast beeindruckend schnell reagiert. Fast als hättest Du meine Gedanken gelesen.« Scherzte Antaar Plegas und erntete dafür das Lachen und den Applaus der ganzen Halle. Die Zweideutigkeit in seinen Worten entging natürlich den meisten Anwesenden.
Einige Wenige verließen so heimlich, wie möglich ihre Plätze und begaben sich in ihre Gemächer. Einer von Ihnen war ein hochgewachsener Emblischon. Er blickte sich noch einmal um und sah sich den Haufen von Feiglingen an, die sich um ihren falschen Gott versammelten und ihn anhimmelten. Nervös fragte er sich, ob Plegas gerade seine Gedanken las. Wie als Bestätigung sah der Ambrosius genau in diesem Moment in seine Richtung, obwohl man das bei seinen unheimlichen Augen schwer sagen konnte. Arismandur Ti Blaaw drehte sich schleunigst um und steuerte ohne Umschweife den Ausgang an. Seine matten Haare flatterten zusammen mit seinem dunkelblauen Mantel hinter ihm her wie die Schleier des Hochzeitsfisches seiner Heimatwelt. Er fragte sich schaudernd, ob er gerade sein Todesurteil unterschrieben hat. Das hellblaue Tradiumtor öffnete sich zischend vor ihm und er verschwand im Nebel.