"Lad?"
Sie zuckte erschrocken zusammen. Xantha war beinahe lautlos zu ihr gestoßen und blickte mit einem milden Lächeln auf ihre vom Training verschwitzte Freundin herab.
"Er war hier, nicht wahr?", sie blickte sich um, "Der geheimnisvolle Fremde."
"Ja...", Lad spürte wie trocken ihr Mund war und wie schwer sich ihre Zunge bewegen ließ. Er war fort. Einfach so. Ihr Herz klopfte noch immer, während ihre Glieder müde geworden waren. Sie erhob sich und schenkte Xantha ein Lächeln. "Es war schön, ihn wiederzusehen. Ich hoffe... Es war nicht das letzte Mal."
"Nun ja, man sagt doch, wenn zwei füreinander bestimmt sind, dann finden sie immer einen Weg, auch, wenn dieser nicht gleich ersichtlich ist", versuchte Xantha sie aufzumuntern und bot ihr den Arm an, damit sie sich unterhaken konnte und sie taten ein paar Schritte.
„Warte!“, Lad blieb stehen, ihr Blick glitt über den Weg, den er eingeschlagen hatte. Ein Sonnenstrahl ließ etwas im Gras schimmern. Sie löste sich von Xantha, bückte sich und hob es auf. „Was ist das?“, Xantha war näher herangetreten und betrachtete nun ebenfalls den kleinen Gegenstand. Er war aus Metall, nicht gänzlich rund, filigran gestaltet mit scharfen Kanten und einer kleinen Öse. Die Gravur an der Oberfläche war kaum zu erkennen. Lad dachte bei dem rötlichen Farbton sofort an Blut. „Das ist eine Art Medaillon“, stellte sie fest und erntete einen spöttischen Blick ihrer Freundin: „Das sehe ich auch. Aber woher kommt es?“ „Er muss es verloren haben“, Lads Finger umschlossen das kühle Metall fest, „Ich denke, ich werde es verwahren. Für alle Fälle.“
"Tu das und während du dich hier amüsiert hast, habe ich mich ein wenig schlau gemacht. Nicht weit von hier soll es einen Wald geben, in dem ein verwunschenes Schloss steht. Die Dorfbewohner trauen sich nicht in die Nähe, da sie denken, in dem Wald leben wilde Wölfe und ein Monster haust im Schloss, weil Wanderer ein Heulen gehört haben wollen, als sie näherkamen. Das Schloss soll einst einer adeligen Familie gehört haben. Vor hundert Jahren, stell dir vor! Da ist ein verlassener Ort und keiner nutzt ihn mehr. Es heißt, die letzten Bewohner seien gestorben und hätten keinen Erben gehabt. Es hätte zwar eine Tochter gegeben, die sehr schön gewesen sein soll. Doch man glaubt, sie sei an einen entfernten Fürsten verheiratet worden und nie mehr zurückgekehrt."
Lad lachte auf. Die Menschen und ihr Aberglaube. Vermutlich hatte der Wind sein Spiel getrieben in dem Schloss, denn wer wusste schon, wie es dort aussah, ob es nicht verfiel und genug Platz bot, damit der Wind sein Spiel treiben konnte und schaurige Töne von sich gab. Vielleicht betrauerte er auch das Aussterben der besagten Familie in seinem Lied.
Sie strich die Haare zurück und zwinkerte Xantha zu: "Das klingt doch eigentlich nach dem Ort, nach dem wir so lange suchten. Ein wenig abseits... Vielleicht gibt es dort auch einen Platz, wo wir einen Garten anlegen können und einen Brunnen."
"Daran dachte ich auch", Xantha schmunzelte, "Also, gehen wir dorthin?"
"Auf der Stelle!", antwortete Lad und stieß die Faust triumphierend in den Himmel, "Auf in unser neues Zuhause!"
Der Weg zog sich doch weiter, als die beiden Freundinnen gedacht hatten, doch nahm ein Bauer sie in seinem Karren ein Stück weit mit. Sie fragten ihn nach einer genaueren Beschreibung des Ortes und nach langem Zögern, verriet er ihnen schließlich, dass das Schloss und sein See samt umliegenden Wald als Telrúnya bekannt waren. Die Adelsfamilie, die einst dort residierte, hatte einen Wolf, gekrönt mit Rosen, in ihrem Wappen, so hatte es zumindest sein Großvater ihm erzählt, der wiederum es von seinem erfahren hatte. So abgeschieden es lag und so gemieden das Schloss auch wurde, vergessen hatten es die Einwohner der Dörfer in der Nähe nicht, denn einst gehörten sie zu Telrúnya und einst waren dies bessere Zeiten gewesen. Bevor der Krieg diese Lande streifte, bevor keiner mehr da war, der die Dörfer vereinte. Lad und Xantha lauschten seinen Worten gebannt und je mehr er erzählte, desto sicherer waren sie, dass dies der Ort war, an den sie gehörten.
Bei Einbruch der Dämmerung, verabschiedeten sie sich am Waldesrand, denn weiter war der Bauer nicht gewillt, sie mitzunehmen. Er warnte sie auch vor wilden Tieren, doch bemerkte er bald, die beiden Tollkühnen waren nicht umzustimmen und so wünschte er ihnen viel Glück, bevor er seinen Karren weiter auf der Straße lenkte, während die Freundinnen in die alte Straße bogen, die durch den Wald führte. Stück für Stück waren die Steine der Straße herausgebrochen durch Wasser und Wurzeln der Bäume, doch sie war noch so breit, wie in den vergangenen Tagen.
Xantha griff unwillkürlich nach Lads Hand, als es im Gebüsch raschelte.
"Ein wenig mulmig ist mir jetzt schon...", flüsterte sie, "Was, wenn er Recht hat und es hier wirklich Wölfe gibt?"
"Dann werde ich alles daransetzen, dass wir überleben", flüsterte Lad zurück und drückte ihre Hand, "Schau, wir haben es nicht mehr weit! Das ist auch gut. Es wird dunkel..."
Vor ihnen erhoben sich die spitzen Zinnen Telrúnyas wie Soldaten, die Wache hielten, in den immer dunkler werdenden Himmel. Zwei Straßenkurven später, erblickten sich es in voller Pracht. Das Schloss stand auf einem kleinen, sanft abfallenden Hügel. Es war unklar, ob dieser natürlichen Ursprungs war oder ob die Erbauer einst einen höheren Untergrund aufschütten hatten ließen. Zu Füßen des Schlosses glänzte ein See mit seinem dunklen Wasser. Dichtes Schilf umgab ihn und Seerosen trieben darauf, die ihre Blüten gerade schlossen. Das steinerne Gemäuer wirkte irgendwie tröstlich mit seinen Zinnen, die rötlich im letzten Licht schimmerten, seinen schief hängenden Fensterläden in den oberen Teilen der unterschiedlich hohen Türme.
Seltsam, dachte sich Lad, dass die oberen Fenster offen waren, während die unteren verschlossen wirkten. Auch stutzte sie kurz, denn ihr war, als hätte sie ein Licht gesehen in einem der Fenster. Flackernd, rasch verschwindend. Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte sie es sich nur eingebildet. Das letzte, was sie wollte, war Xantha noch mehr beunruhigen, denn diese sah sich zum wiederholten Male um. Ganz geheuer war ihr nicht und auch Lad fühlte sich in gewisser Weise beobachtet.
"Komm", sie zog Xantha mit zu den Türen des Schlosses und drückte die Klinke herunter. Mit einem unheimlichen Knarren öffnete sich die Tür und gab den Weg frei in eine düstere Vorhalle. Es fiel gerade noch genug Licht herein, dass sie einen runden Tisch auf der gegenüberliegenden Wand ausmachen konnten, auf dem eine große Kerze platziert war. Lad näherte sich dieser und suchte in ihren Taschen und schließlich auf dem Tisch nach etwas, mit dem sie den Docht entzünden konnte. Mit einem Schlucken stellte sie dabei fest, dass das Wachs rund um den Docht noch weich war, als hätte die Kerze bis vor kurzem noch gebrannt.
Xantha trat unruhig von einem Bein aufs andere, atmete erleichtert auf, als das warme Licht des Feuers den Raum etwas erhellte. Nun konnten sie auch ausmachen, dass links und rechts dieser Vorhalle Türen waren, die sich zu Gängen öffneten und tiefer ins Schloss führten. Xantha schloss die Eingangstüre zur Sicherheit. Egal, was da draußen war, sie wollte, dass es draußen blieb.
"Lass uns etwas schlafen und uns morgen genauer umsehen", schlug Lad fort und stellte ihre Sachen neben dem Tisch ab, "Es ist zu dunkel, um allzu viel zu erkennen und unser Weg war lang genug."
"Ja...", erwiderte Xantha tonlos. Ihr Blick war auf ein Portrait gefallen, das hinter dem Tisch an der Wand hing. Im Licht der Kerze war nicht viel zu erkennen, doch es zeigte in seiner Mitte eine junge, schöne, dunkelhaarige Frau mit braunen Augen, tiefroten Lippen. Ihr Haupt war von einem Kranz aus Rosen gekrönt. Ihre Züge waren edel und ihre Haut sehr hell. Sie trug ein smaragdgrünes Kleid mit goldenen Borten. Ihre schlanken Finger umschlossen den Stiel einer roten Rose und um ihren Hals hing ein Medaillon.
"Ob das die Herrin des Schlosses war?", fragte sie leise.
Nun drehte auch Lad sich um und sah zum Bild hinauf. "Vielleicht war sie das oder es ist die Tochter, von der dir erzählt wurde. Sie soll ja unglaublich schön gewesen sein.", sie breitete eine Decke auf dem Boden aus und legte sich nieder, "Komm, lass uns schlafen. Morgen haben wir genug Zeit."
Xantha nickte und gesellte sich dazu. Erst jetzt bemerkte sie, wie müde sie eigentlich war und schloss die Augen. Ja, Morgen war auch noch ein Tag...
Wie die beiden so dalagen im Kerzenschein, bemerkten sie nicht, wie zwei gelbliche Augen sie von einer der Türen aus beobachteten. Fast lautlos huschten vier Pfoten über den Flur. Näherten sich den Taschen der beiden Schlafenden. Eine lange Schnauze stupste sie an, schnupperte neugierig an ihnen. Scharfe Zähne zogen die Lasche auf. Ein Stück Brot fiel heraus und eine raue Zunge leckte gierig darüber, schlang es hinunter.
"Mhhh... Wenn du Hunger hast, warum hast du dann nicht vorher gegessen?", murrte Xantha verschlafen, die sich vom schlabbernden Geräusch gestört fühlte und rollte sich auf die andere Seite.
"Ich mach doch gar nichts...", antwortete Lad leise, "Ich wollte gerade fragen, warum du..." Sie riss die Augen auf und starrte direkt in die gelblichen Augen der Kreatur vor ihr. Ihr Mund öffnete sich, doch ein Laut entwich ihrer Kehle.
"Wie? Ich liege doch nicht mal auf der... Seite...", Xantha hatte sich aufgesetzt und rieb sich die Augen, bis auch sie den großen Wolf erblickte, der bei ihren Taschen stand und die beiden wohl ebenso erschrocken ansah, wie sie ihn.
Ein gellender Schrei entschlüpfte ihr und wurde vom Wolf erwidert, der ein Heulen ausstieß und sich hastig aus dem Staub machen wollte. Er stieß strauchelte über die Taschen. Lads Schwert fiel scheppernd aus seiner Halterung an ihrer Tasche. Sie selbst sprang, ein wenig stolpernd, auf, stützte sich vorn ab und griff nach dem Schwert, nahm so die Verfolgung auf.
"LAD!", Xanthas Stimme verfolgte sie den ganzen Weg, während sie den Gang entlang rannte, dem Geräusch von rutschenden Krallen auf dem Boden folgend. Eine Treppe hinauf, die sich in den oberen Bereich eines Turmes schlängelte.
Es widerstrebte ihr der Gedanke, diese Kreatur töten zu müssen, doch es war zu ihrer beider Sicherheit. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Brust und das Adrenalin rauschte in ihren Adern. Keuchend holte sie den Wolf ein und stürzte sich auf ihn. Ein Winseln war zu hören und sie spürte Fell unter ihren Fingern durchrutschen. Verdammt! Sie stieß ein Fluchen aus und hetzte ihm weiter nach. Erreichte schließlich das obere Ende der Treppe und folgte dem Tier in einen offenen Raum. Mondschein fiel durch die offenen Fenster, ließ den Staub am Boden sichtbar werden. Lad griff nach einem Buch, das neben der Tür am Boden lag, als hätte jemand es einst fallen gelassen und nie mehr angerührt. Der Raum barg ein großes Bett mit zerfetzten Gardinen, die wie weiße Spinnweben wirkten. Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen. Ließ den Blick schweifen. Da. Eine Bewegung auf der anderen Seite des Bettes. Lad umfasste den Schwertgriff fester, bereit sich der Bestie zu stellen. Ein gezielter Wurf und das Buch traf sein Ziel hart. Lad dachte, nun würde sich der Wolf wütend auf sie stürzen, doch stattdessen, ertönte ein schmerzhaftes Winseln, gefolgt von einem menschlichen Stöhnen und sie beobachtete, wie die Gestalt einer Frau sich erhob, mit einer Hand an einem der Bettpfosten abstützte, die andere an den Kopf gepresst, wo das Buch gelandet war.
"Ohhhh", kam es von ihr, bevor sie auf die Knie fiel.
Lad ließ das Schwert sinken. "Was zum...", ihre silbernen Augen starrten auf die Frau mit dem langen schwarzen Haar vor ihr, wo gerade noch der Wolf gewesen war.
"Lad!", keuchend tauchte Xantha in der Tür hinter ihr auf, stützte die Hände auf die Knie, "Bei allen Göttern, bist du irre?! Was, wenn noch mehr von diesen Viechern hier sind? Was, wenn er dich erwischt hätte? Was, wenn..." Auch sie erblickte nun die Frau, die sich schmerzhaft die Stirn rieb. "Wer ist das?"
"Guter Wurf...", murmelte die Frau und blickte zu ihnen hinüber. Xantha stockte der Atem. Die Frau sah exakt so aus, wie die Dame auf dem Portrait in der Halle.
"Ich kann dich beruhigen, hier ist niemand... Außer mir und euch jetzt. Es tut mir leid, dass ich euch erschrocken habe... Ich war so hungrig", ihr Blick war flehentlich und Lad trat näher an sie heran, ging vor ihr in die Hocke.
"Du bist ein Gestaltwandler", hauchte sie und musterte die Frau von Kopf bis Fuß. Diese nickte. "Ja und du... Du bist eine der Elfen. Eine wie du reist mit Menschen?", sie nickte zu Xantha, die beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte und nähertrat. "Kannst du uns versprechen, dass wir dir trauen können und du nicht Appetit auf Menschenfleisch bekommst?", fragte sie, versuchend taff zu klingen, doch ihre Stimme zitterte.
Ein Lächeln huschte über die Züge der Frau, bevor sie auflachte: "Natürlich. Ich hatte Angst... Ihr wäret Jäger oder Räuber, als ihr hereinkamt", sie senkte verlegen den Kopf, "Es ist lange her, dass ich Gesellschaft hatte."
"Mein Name ist Lad und das ist meine Freundin Xantha", stellte Lad sie beide vor, "Wir sind weit gereist und auf der Suche nach einem Ort, wo wir leben können." "Und da führt euch euer Weg ausgerechnet zu einem alten Schloss?", die Frau blickte verwundert. "Ruhig und abgeschieden", entgegnete Xantha, "Die Dorfbewohner sagen, es sei verwunschen und seine Bewohner vor vielen Jahren gestorben."
"Nun... Nicht ganz", die Frau lächelte, "Ich bin die Tochter des alten Grafen. Es gibt einen Fluch, der meine Familie seit Jahrhunderten befällt, doch wir lernten, damit zu leben. Manche mehr als andere...", ihr Blick wurde traurig und glitt zum Fenster, "Manche verfielen ihm komplett und streifen durch die Wildnis, unfähig jemals wieder zu Menschen zu werden. Ich hingegen kann meine Gestalt wechseln, wann immer ich es möchte, doch ich bin die letzte meiner Familie, die meiner Art. Mein Name ist Merenwen."