Die Waldbewohner
Bengolf hatte sich so lang treiben lassen, bis er das Schiff der Harathen nicht mehr ausmachen konnte. Er lenkte das kleine Boot ans Ufer und wollte aussteigen. Doch Schmerz durchzog stechend seinen Körper. Bengolf hielt einen Moment mit schmerzverzehrtem Gesicht inne. Dann nahm er den Jutesack und richtete sich langsam wieder auf. Vorsichtig hob er sein Bein über den Bootsrand. Dann das nächste Bein. Der Kies am Ufer knirschte unter seinen Füssen, als er sich in Richtung des Waldrandes in Bewegung setzte. Bengolf fühlte sich noch schwach und ihm war klar, dass er seine Kräfte gut einteilen musste. Er ging ein Stück in den Wald hinein und wandte sich dann nach Norden. Er wollte noch ein wenig weitergehen und sich dann ausruhen. Je grösser der Abstand zum Ufer war, desto besser. Das kleine Boot hatte er nicht verstecken können, dazu hatte ihm die Kraft gefehlt. Sobald sie sein Verschwinden bemerken und ihn suchen würden, würde das Boot am Ufer ihnen den Weg weisen.
Doch er musste sich ausruhen. Seine Wunden schmerzten sehr und Bengolf hatte das Gefühl, Fieber zu bekommen. Das Fühlen an seiner Stirn bestätigte seine Vermutung. Bengolf sah sich um. Er verwischte seine Spuren hinter sich und ging tiefer in den Wald hinein. Eine Gruppe von Büschen weckte seine Aufmerksamkeit. Es gab eine Art kleinen Durchgang in die Mitte der Buschgruppe. Bengolf trat hindurch und wurde von einem kleinen geschützten Raum empfangen, der ihm ausreichend Schutz zu bieten schien. Er entschied sich, hier niederzulassen und ein wenig auszuruhen. Den schmalen Eingang verschloss er geschickt mit einigen Ästen, welche er aus dem dichten Buschwerk entnahm und so die kleine Lücke schloss. Er richtete sich aus Gräsern, Blattwerk, Moos und kleinen Zweigen ein gemütliches Lager her und streckte sich aus.
Das Fieber holte ihn nun stärker ein und bald nach dem Einschlafen fand er sich in wilden Träumen.....
Die drei Waldsäumer hatten ihn schon länger beobachtet. Als sie bemerkten, dass Bengolf eingeschlafen war und zu träumen begann, schlichen sie sich langsam näher heran. Die friedfertigen kleinen Waldbewohner, die an Grösse kaum die Hüfte eines erwachsenen Mannes erreichten, betrachteten mitleidig den heftig träumenden Bengolf. Einer der Waldsäumer schickte einen seiner Begleiter fort, nachdem er ihm mit eindringlichen Worten leise etwas erklärt hatte. Sofort machte sich der kleine Mann auf den Weg. Als er sich etwas von Bengolfs Versteck entfernt hatte, begann er schnell zu rennen. Sein langer weisser Zopf flog dabei hin und her. Als er völlig ausser Sichtweite war, legte er seine wahre Stärke an den Tag. Der bereits schon sehr schnell laufende Waldsäumer verzehnfachte plötzlich noch einmal seine Geschwindigkeit und flog förmlich über den Waldboden. Innerhalb eines Augenblickes war er nicht mehr zu sehen.
Die beiden am Versteck zurückgebliebenen Waldsäumer hatten inzwischen Kräuter im Wald gesucht und zerkleinert. Einer der beiden hatte kunstvoll eine Art Stirnband geflochten, in welches die zerkleinerten Kräuter eingelegt und mit Wasser beträufelt wurden. Nun schlichen sie vorsichtig an Bengolf heran und legten ihm ohne das er etwas bemerkte das Band um seinen Kopf. Sie deckten ihn mit ausgesuchtem Blattwerk zu und zogen sich zurück. Dann kehrte der dritte Waldsäumer wieder zurück. Aus seiner geschulterten kleinen Tasche holte er weitere Kräuter hervor, die von allen Dreien rund um das Buschwerk verstreut wurden. Etwas wie feiner Nebeldunst stieg auf und legte eine Art Schutz um die Büsche, um dann wieder im Waldboden zu versinken.
Plötzlich hielten die kleinen Mannen inne. Geräusche! Jemand näherte sich. Schnell wie der Blitz zischten sie plötzlich davon. Einige Augenblicke später durchkämmten drei Harathen den Wald. Sie hatten Bengolfs Flucht bemerkt und waren ans Ufer gekommen. Das kleine Boot verriet ihnen, wo Bengolf angelandet war. Sie waren keine zwanzig Schritte mehr von seinem Versteck entfernt. Einer der Krieger steuerte schnurstracks auf die Buschgruppe zu, doch irgend etwas liess ihn stoppen und vor den Büschen abdrehen. Sie liefen vorbei....
Es kehrte Ruhe ein im Wald.
Zwischen den Buschblättern hindurch kitzelte ein erster Strahl der Morgensonne den verletzten Bengolf wach. Er blinzelte und richtete sich auf. Als er an seine Stirn fasste, bemerkte er den Kranz aus Blättern samt Inhalt. Der Griff an seine Stirn zeigte ihm, dass er kein Fieber mehr hatte. Was war das? Jemand der ihm wohlgesonnen war, hatte ihm scheinbar geholfen. Es roch wie ein Extrakt aus Sternblättern und hatte ihm während der Nacht sehr gut geholfen. Es ging ihm wesentlich besser heute früh. Bengolf packte seine Sachen zusammen und verliess sein nächtliches Versteck. Er wollte auf dem schnellsten Weg zurück. Er musste Hatora unbedingt warnen. Er fühlte sich beobachtet, hatte aber ein gutes Gefühl dabei.
Die fünf Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren, blickten zufrieden auf ihr nächtliches Werk. Dem Fremden schien es viel besser zu gehen. Er machte den Eindruck eines guten Menschen auf sie und sie waren froh, dass sie ihm geholfen hatten. Vermutlich war er in einer wichtigen Mission unterwegs und sie überlegten, ob sie ihm vielleicht irgendwie helfen konnten. Ihr Führer fasste plötzlich einen Entschluss und zischte an Bengolf vorbei, um einige Pferdelängen vor ihm stehen zu bleiben. Überrascht blickte Bengolf ihn freundlich an. Dann ging er in die Hocke und sprach ihn an:" Ihr müsst ein recht kundiger Heiler sein lieber Freund. Ich bin Euch zu Dank verpflichtet" und er neigte etwas sein Haupt.
Der kleine Waldsäumer legte seinen Kopf auf die Seite und sah Bengolf an. "Ihr seid ein guter weiser Mann, Fremder. Gerne haben wir Euch geholfen. Ihr scheint in äusserst wichtigen Angelegenheiten unterwegs," sagte er mit fragendem Blick.
"Mein Name ist Bengolf und ich bin auf dem Wege in die Kristallstadt. Ich habe dringende und eilige Botschaft für Hatora, der Herrscherin dort. Sie muss gewarnt werden. Krieg zieht herauf."
"Oh, entgegnete der Waldsäumer mit besorgtem Blick. Das sind keine guten Nachrichten. Wir hörten viel Gutes von Hatora. Seit langer Zeit regiert sie dort friedlich und mit weiser Hand. Wann wollt Ihr dort sein, Bengolf?"
"Nun, antwortete Bengolf mit besorgter Miene, mein Pferd wurde getötet und ich bin nun zu Fuss unterwegs. Ich denke, sechs bis sieben Tage wird meine Reise dauern."
"Dies würde Euch weit zurückwerfen, oder?"
"Gewiss, antwortete Bengolf, ein Pferd wäre nun sehr hilfreich."
"Vielleicht kann ich Euch einen schnelleren Weg anbieten, sprach der Waldsäumer. Habt Ihr schon einmal von den Bukkis gehört?"
"Bukkis?, nein diesen Namen hörte ich noch nie, offen gestanden."
"Wenn Ihr möchtet, bieten wir Euch diese Reise an und Ihr werdet heute gegen Abend in der Kristallstadt sein."
Ungläubig sah Bengolf den Mann an. Ein schriller Pfiff durchschnitt die Ruhe des Waldes. Kurz darauf zischte ein schlittenähnliches Gefährt heran, gezogen von sechs......Bukkis. Der freundliche Waldsäumer ging an den Schlitten heran und tätschelte die ungewöhnlichen Tiere im Vorbeigehen. Er zeigte auf einen Waldsäumer, der auf einer Art Kutschbock sass und die Zügel in der Hand hielt. "Dies ist Siewolt, unser bester Lenker. Er kann Euch bringen. Und ich bin Browand, der Anführer der Waldsäumer. Steigt ein, guter Bengolf und reist schnell, so wird Hatora heute noch die wichtigen Nachrichten erhalten."
Bengolf sah die seltsamen Tiere an. Wie halbwüchsige Rehe sahen sie aus. Allerdings hatten sie kräftigere Beine und die Kopfform von Pferden. Ihr Fell war grünbraun und ihre grossen Augen leuchteten. Ihre spitzen Ohren waren hoch aufgerichtet. Langsam ging Bengolf auf das Gefährt zu. Der Schlitten hatte eine hölzerne Umrandung und war mit bequemem Fell ausgeschlagen.
"Nehmt Platz guter Bengolf und lasst Euch bringen," sagte Browand mit einer einladenden Handbewegung.
Bengolf zögerte nun nicht mehr länger und nahm auf der Sitzbank Platz. Der Anführer der Waldsäumer neigte leicht seinen Kopf. Das war das Letzte, was Bengolf von ihm sah.
"Ziiiiiiiiieht", hörte Bengolf den Lenker rufen und mit einem Ruck flog der Schlitten durch den Wald. Das seltsame Gefährt schien durch die hohe Geschwindigkeit über dem Boden zu schweben. Es war Bengolf viel zu schnell und er schloss seine Augen. Dann schlief er ein.....
Bengolf wurde durch sanftes Rütteln an seiner Schulter geweckt. Als er die Augen aufschlug, erblickte er von der Anhöhe aus die Kristallstadt. Wunderschön glänzte sie in der Abenddämmerung. Erleichter war er, als er kurz darauf den Boden der Kristallstadt unter seinen Füssen spürte. Dieser Glanz. Diese Ruhe. Dieser Frieden.
Doch wie lange noch?......