So kam es, dass Thorstein seiner Rúna an diesem Abend ein ganz einzigartiges Geschenk machen durfte. Und da der Steuermann ein wenig Zeit hatte, sich auf diesen wichtigen Moment vorzubereiten, konnte man die Freigabe Rúnas durchaus als kleine Feier betrachten.
Zunächst machte der Krieger einen Spaziergang zu Jorunn, um ihr von seinem Glück zu berichten und sie für den Abend einzuladen. Dann ließ er sich Solvig geben und schickte Lathgerthas Magd aus, um ein paar Leckereien auf dem Markt zu erstehen. Er selbst zog einen kleinen Packen unter dem Lager hervor, der dort schon seit seiner Ankunft in Straumfjorður versteckt lag. Fast hatte Thorstein den Glauben verloren, dieses Geschenk noch vor dem Winter an seine Rúna überreichen zu dürfen. Nun strich er das lange dunkelgrüne Kleid liebevoll glatt und betrachtete noch einmal die feine Weberei, die es an den Schultern und den langen Ärmeln verzierte.
Gewiss waren die von Ragnar überreichten Gewänder weitaus wertvoller. Doch dieses Kleid hatte Thorstein ganz bewusst für Rúna ausgesucht, ebenso wie die dazugehörigen Schuhe und den Umhang aus Hasenfell, der sie im Winter wärmen würde. Ganz unten, zwischen den beiden Schuhen, lag noch eine kleine Dose. Hierin befand sich ein Bronzearmreif, den Aodh für den Steuermann gefertigt hatte. Eingraviert waren auf dessen Wunsch drei Runen: Gebo(1) , Kenaz(2) und Eihwaz(3) und mit ihnen jene Wünsche, die der Krieger in seine Gefährtenschaft einbringen wollte. Wenn Rúna frei war, würde Thorstein keinen Tag länger warten und sie heute noch zu seiner Frau machen.
Als Lathgerthas Magd zurückgekehrt war und sich bald nach ihrer Ankunft ein appetitlicher Duft nach Braten und gebackenen Äpfeln in dem Häuschen breitmachte, konnte es Thorstein kaum mehr erwarten. Ungeduldig schlug er Solvig in ein dickes Schaffell ein und setzte sich mit der Kleinen vor die Tür in die tiefstehende Sonne. Es wurde nun wirklich Zeit, dass Rúna von ihren Schwertübungen zurückkam.
Und das tat seine Gefährtin bald darauf auch. Zusammen mit Lathgertha kam sie plaudernd und leise lachend den leichten Anstieg vom Strand herauf. Die Sonne färbte ihre Silhouette dunkel und ließ die Spitzen ihres langen Haares funkeln. Thorstein hatte lange nichts Schöneres gesehen.
Der Mann erhob sich, als die beiden Frauen vor ihm standen. Er überließ Rúna die kleine Solvig, als diese ihre Arme nach dem Kind ausstreckte und bat sie dann zusammen mit Lathgertha ins Haus. Dieser Tag der Freude sollte ihnen allen gehören.
Zwei Tranlampen erhellten den kleinen Raum, in dem sie schon von einer lächelnden Jorunn erwartet wurden. Vollkommen überrascht starrte Rúna auf die ältere, freudestrahlende Frau, die sich von einem reichlich gedeckten Tisch erhob und ihr lächelnd entgegenkam. Doch noch viel glücklicher war ein anderes Gesicht, dass sich ihr nun zuwandte, als sie Lathgerthas Magd Solvig übergab.
"Meine liebe Rúna", begann Thorstein zufrieden. "Heute hat mir Ragnar ein ganz unvergleichliches Geschenk gemacht."
Beim Klang des erschreckenden Namens zuckte Rúna unwillkürlich zusammen, fing sich dann aber und stellte ein erwartungsvolles Gesicht zur Schau, das deutlich ehrlicher wurde, als der Steuermann ein noch verdecktes Päckchen auf seinem Lager ergriff. Mit einem Ruck zog er das alte Leder beiseite und enthüllte jenes von ihm gewählte Gewand, das ebenso wie Ragnars Kleider Rúnas Freiheit sichtbar machen würde.
Jorunn, Lathgertha, die auch ahnte, was nun kam, Thorstein, alle waren so glücklich, dass auch Rúna die aufkommende Spannung und Vorfreude zuließ. Eine Feier, die ihr galt, hatte es in ihrem bisherigen Leben nur in ihrer ganz frühen Kindheit gegeben, als sie ihren Frauennamen erhalten hatte. Sie ahnte, was Thorstein vorhatte und ließ sich von dessen feierlicher Haltung und seiner Würde anstecken.
Mutig trat sie einen Schritt vor und stellte sich ein wenig gerader hin. Den Blick anzuheben, schaffte sie noch nicht ganz. Erst, als ihr Gefährte schon fast vor ihr stand, sah sie in sein Gesicht. Die Freude darin würde ihr ein ganzes Leben lang in Erinnerung bleiben!
"Unser Jarl, Ragnar Loðbrók", führte Thorstein nun würdevoll aus, "hat beschlossen, dir mit dem heutigen Tag die Freiheit zu schenken. Ein Zeuge hat seine Worte gehört und ich habe die Gabe für dich angenommen."
Liebevoll nahm Thorstein seine Rúna in die Arme. "Es ehrt mich ganz besonders, dass ich es sein darf, der dir diese Nachricht überbringt." Der Steuermann zog seine Frau eng an sich. "Du bist frei, Rúna. Ab heute gehörst du zu uns, eine freie Dänin, eine Frau Straumfjorðurs."
Es war unvermeidlich, dass Rúna bei diesen Worten in Tränen ausbrach. Thorstein hatte ihr mehr geschenkt, als sie je zuvor in ihrem Leben erhalten hatte. Doch es war nicht nur ihre Freiheit, die sie ihm verdankte, viel mehr berührte sie die unzerstörbare Liebe, die er ihr trotz aller Widrigkeiten und Missverständnisse inzwischen entgegenbrachte. Und so gab es für sie kein Zögern, als er ihr nach jener symbolträchtigen Kleidung auch den Armreif anbot, der ihre Gefährtenschaft besiegeln würde.
Nun war es an Jorunn und Lathgertha, ein paar Tränen zu vergießen, als sie dem Krieger ihr Handgelenk überließ, damit er sie als seine Gefährtin kennzeichnen konnte. Kühl glitt der Bronzereif über ihre Hand und mit einem leichten Druck von Thorsteins Rechter näherten sich die offenen Enden des Ringes einander an, bis Rúna das Schmuckstück nicht mehr verlieren oder auch nur ohne Kraftaufwand ablegen konnte.
Bedeutungsvoll sah Thorstein auf den Schmuck und dann in Rúnas Augen. "Nun, meine liebe Rúna, gehörst du zwar nicht mehr mir, aber du gehörst zu mir. Für immer!"
Unter dem gutmütigen Lächeln Jorunns und Lathgerthas gab er dann seiner vor Rührung schweigenden Gefährtin einen zärtlichen Kuss, der ihr noch ein wenig mehr Röte ins Gesicht trieb. Unter dem leisen Lachen seiner Gäste zog er die schüchterne Frau dann an den gedeckten Tisch, ergriff das Methorn und wünschte ihnen allen einen fröhlichen Abend, den sie so bald nicht vergessen sollten.
(1)G Gebo - Bedeutung: Gabe, Geschenk, (sexuelle) Harmonie, die gekreuzten Balken, Opfer, Glück, Harmonie, Großzügigkeit, Gutes, Gunst, Gastfreundschaft, Mystische Vereinigung
(2)K Kenaz - Bedeutung: (kontrollierte) Flammen, Feuer, Liebe, Leidenschaft, das Karma, (schöpferischer Wille), Schicksal, Kreativität, Transformation, Lust, Wärme, Regenerierung
(3)Ë Eihwaz - Bedeutung: Eibe, Selbstdisziplin, Säule vom Weltenbaum „Yggdrasil“ und seinen drei Reichen und Kommunikation zwischen ihnen, Schutz, Kraft, Ausdauer, Erfolg, Bannung vor Furcht, Langlebigkeit