Das Treppenhaus war nun komplett verwüstet. Irgendetwas mit Klauen schien sich durch die Barrikaden geschlagen zu haben. Sassy deutete ihren Begleitern sich möglichst ruhig zu verhalten, sie hatten es bereits in den dritten Stock hinuntergeschafft.
Plötzlich schien sich ein Schemen aus der Dunkelheit zu lösen. Church bemerkte ihn als erster. "Alle gleich", krächzte das abscheuliche Wesen vor ihnen, "Wir sind alle gleich ... Aber, was ist das? Süßes Fleisch, frisch und mächtig ..."
Sassy erstarrte zu Salzsäure, als sie erkannte, was da aus einem Haufen Bretter gekrochen war. Es hatte in etwa die Größe eines Rottweilers und vor all dem Ekel war es vielleicht eine Katzenart gewesen. Ein Auge schien aus der Höhle gefallen zu sein, es hing noch an einer dünnen Sehne. Die linke Hälfte des Katzengesichts war mit Gewalt vom Fell befreit worden, die pergamentartige Haut war an manchen Stellen aufgeplatzt, sodass man den Knochen durchschimmern sah. Die vertrocknete Kreatur schien kaum noch vorwärts kriechen zu können. Die Hinterbeine fehlten und der Gestank, den das Untier verbreitete, war bestialisch.
"Untotes Wesen, aus einer anderen Welt", krächzte es und starrte Sassy mit dem noch gesunden Auge an, "Du kannst die Dinge nicht aufhalten. Der König wird gekrönt!" Mit einem Mal begann es zu schweben und ehe Church reagieren konnte, schoss es auf Sassy zu. Ein Knall ertönte, riss das Monster aus der Luft und schleuderte es gegen die Wand, wo der Kopf beinah zerschellte. Angewidert wandten sich die drei ab, um ihren Helfer auszumachen.
"Was seid ihr nicht für ein erbärmlicher Haufen Scheiße!", grölte die Stimme der Frau, die am Treppenabsatz stand. Ihre roten Locken fielen ihr wild über die Stirn und ihre grünen Augen blitzten verächtlich auf. In ihrer ausgestreckten Hand hielt sie eine wunderschöne 92iger Beretta mit deren Schuss sie das eigenartige Wesen niedergestreckt hatte.
"Kyra!", rief Sassy freudig aus und fiel der willkommenen Retterin um den Hals.
"Du stinkst nach Dämon", stellte sie fest, "Da draußen ist alles voll von diesen Biestern, wir müssen verschwinden!" Church verdrehte die Augen, Kyra war die jüngere Schwester von einer ihm nur zu gut bekannten Jägerin. Sie fiel immer durch ihre schlechte Laune und die bissigen Kommentare auf. Sie lächelte nur zu besonderen Anlässen und hasste nichts mehr auf der Welt als Dämonen wie ihn. "Kannst du uns rausbringen?", fragte er sie trotzdem, gewillt die Feindseligkeit angesichts der Lage beizulegen.
"Nehmen wir das da auch mit?", Kyra deutete angewidert auf Alpha, abfällig wie sie war ignorierte sie Church komplett.
Sassy nickte: "Ja, es hat einen Namen: Alpha!"
Kyra zog eine Braue hoch und rekelte sich gelangweilt: "Passt zu einem Köter!"
Alpha war bewusst, dass diese arrogante junge Dame sie vor dem Verstoßenen gerettet hatte, der sie im Endeffekt alle zerlegt hätte. Sympathie konnte er für sie aber trotzdem nicht aufbringen, also beschloss er vorerst zu sehen, wie er lebend aus dem Debakel herauskommen konnte. Kyra strich mit ihrer Hand über die Wand, diese begann zu schimmern und schien eigenartige Wellen zu werfen. "Hauen wir ab, meine Schwester erwartet uns schon!"
Sassy rannte auf die Wand zu. Alpha beobachtete fasziniert, wie sie einfach hindurch zu laufen schien und verschwand. Church tat es ihr gleich und der genervte Blick von Kyra ließ ihn selbst die Beine in die Hand nehmen. In einem Treppenhaus voller Monster wollte niemand zurückgelassen werden.
Church wurde nach seinem Schritt durch das Portal von fletschenden Zähnen begrüßt. Große Pfoten landeten sofort auf seiner Brust und rangen ihn zu Boden. Ein Knurren und der Druck einer kalten Schnauze an seinem Hals, machten ihm den Ernst der Lage deutlich. Zudem wurde ihm von hinten ein Jutesack über das Gesicht gedrückt. Er hörte Sassys Stimme. Sie schien wütend auf jemanden einzureden. Dann war alles still, die kalte Schnauze verschwand wieder, auch der Jutesack wurde entfernt. Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Sie befanden sich auf einem hügeligen Berghang. Unter ihnen erstreckte sich die Stadt, aus der sie durch das Portal entkommen konnten. Vor ihm war reges Treiben zu sehen, schwarze Mäntel wohin das Auge blickte, verhüllte Gestalten mit Holzwaffen und riesigen Mastiffs an ihrer Seite.
Sassy stand vor ihm und hatte ihre Arme lässig in die Hüfte gestemmt. Sie schien auf einen Dank zu warten. Alpha betrachtete wie er das rege Treiben und die vielen Zelte, die erst bei genauerer Betrachtung sichtbar wurden, da sie unter Ästen und Blättern versteckt waren.
"Willkommen in Finns Wacht, Dämon", die spöttische Stimme einer alten Bekannten lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie stand neben einem der Biester, die ihn bei seinem Eintreffen außer Gefecht gesetzt hatten. Der bullige Mastiff war pechschwarz und seine dunklen Augen fixierten ihn nach wie vor. Aber Church wusste, dass er ohne einen Befehl seiner Herrin keinen Schritt tun würde.
"Julopatra, die Amazone!", stellte er fest, betonte das zweite Wort voller Spott. Die Frau mit den langen, beinahe weißen Haaren, hasste diesen Spitznamen, den man ihr über die Jahre verpasst hatte. Sie war im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Kyra, ihrem Bogen und dem Speer immer treu geblieben. Darum nannte man sie die Amazone. Sie verweigerte den Gebrauch moderner Feuerwaffen und wenn sie jemanden töten wollte, dann würde dieser Auserwählte sie nicht einmal kommen hören. Sie war nicht nur lautlos, sondern arbeitete auch perfekt mit ihren folgsamen Mastiffs Yuna und Titus, die Church schon zu genüge kannte. Julopatra hatte ihre Hunde auf das Töten von Dämonen abgerichtet. Sie war Finns erste Verbündete gewesen, dann kam Kyra und am Schluss das Mädchen aus der Menschenwelt, das den Tod überlebt hatte, Newra.
"Wie immer eine Freude dich zu sehen", Julopatras Sarkasmus schlug wieder zu, "und für alle, die unsere Gäste nicht kennen, das sind die Versager, die ebenfalls nach Finn suchen!" Sassy verdrehte die Augen. Sie war nie mit der Art von Finns erklärten Lieblingen zurechtgekommen. Sie hassten alle Wesen, bei denen es sich nicht um Elensarians, Menschen oder irgendwelche Elfen handelte. Sie schienen unbelehrbar und hart mit jedem zu verfahren, der durch seine Geburt der falschen Rasse angehörte.
"Wo ist eure Zombiefreundin?", fragte Sassy bissig, denn sie konnte die Dritte im Bunde der erklärten Elite nicht einmal wahrnehmen. Kyra schaltete sich ein und schrie zuerst einmal die anderen Verhüllten an, dass sie ihre Arbeit wiederaufnehmen sollen.
"Sie hat, im Gegensatz zu euch", Kyras Lächeln wurde zuckersüß, "Finn bereits gefunden!" Alpha wurde hellhörig. Er hatte den Namen seines toten kleinen Bruders bereits viel zu oft an einem Tag gehört. Diese seltsamen Vermummten hatten sich über seiner Heimat ein Feldlager aufgebaut und es "Finns Wacht" getauft. Alles hier schien perfekt organisiert und strukturiert abzulaufen. Niemand schien die Gefahr, die unter ihnen lauerte wahrzunehmen.
"Finn ist tot", zischte er, seine linke Augenbraue begann vor Wut leicht zu zucken, "Wen auch immer ihr sucht, wenn er in Zone 1 ist, dann ist er ebenso tot. Wie jeder, der sich dort hinwagt. Ihr habt hier nichts zu suchen, zieht ab!"
Sassy schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Ihr war bewusst, dass sie keinen leichten Stand bei den Jägern hatten, aber ihr neuer Begleiter schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen und spielte mit seinem Leben. Noch schien durch Church niemand auf ihn und seine Existenz aufmerksam geworden zu sein. Sassy hatte ihn einen Teufel genannt, aber das, was sie gespürt hatte, als ihr sein Blut die Speiseröhre hinunter gewandert war, war weitaus schlimmer.
"Du bist mir ja ein aufgewecktes Kerlchen", fauchte Julopatra. Ihre Mastiffs knurrten im selben Moment in seine Richtung und verloren den Fokus auf Church.
Dann passierte etwas Unerwartetes: Die Hunde begannen aufgeregt in die Luft zu schnüffeln, dann zogen beide den Schwanz ein. Julopatra betrachtete fassungslos, wie sich ihre Tiere winselnd zurückzogen und vor Alpha zurückzuweichen schienen. Sassy seufzte. Das gab ihr die letzte Bestätigung, die sie brauchte.
Die letzte Person, die sie gebissen hatte, welche ihr solche Aussetzer verpasst hatte und deren Blut zu mächtig für sie schien, war keine geringere als Celles Dunkler gewesen. Die leibliche Tochter des Dunklen selbst.
"Kannst du mich hören?", Sassy bemerkte, dass Alpha mit ihr sprach, ohne dabei seine Lippen zu bewegen. Niemand sonst schien das wahrgenommen zu haben. Die Situation war kurz davor zu kippen, die Anspannung lag drückend in der Luft.
"Lass uns springen, sie werden uns nicht folgen können!" Verwirrt lauschte Sassy den Eingebungen des Abkömmlings des Dunklen weiter. Auch wenn sie nicht verstand, was ein Sprung zurück in die Tiefe dieser verfluchten Stadt bringen sollte. Die Monster, die sie in dem verfallenen Hochhaus gejagt hatten, waren auch noch dort unten. Ihre erste Begegnung vor wenigen Minuten mit diesem Verstoßenen hatte ihr gereicht. Selten hatte sie eine so große Bedrohung auf ihr Leben wahrgenommen.
"Mach dir keine Sorgen, um die Verstoßenen. Sie werden dich nicht anrühren, das verspreche ich dir! Komm mit mir und ich bringe dich in Zone 1, in den Gang, den du gesehen hast!" Sassy versuchte mit Kopfschütteln seine Stimme aus ihrem Kopf zu verbannen. Die Stimme des Dunklen hatte so vielen den Verstand geraubt. Die Stimme seines Sohnes würde also kaum für geistiges Wohlbefinden sorgen.
"Spring mit mir! Wenn der Moment gekommen ist, musst du mir vertrauen!"
"Was bist du?", Julopatra hatte ihren schwarzen Langbogen gespannt und den Pfeil auf Alpha gerichtet. Auch die Beretta von Kyra zeigte auf seinen Kopf. Langsam näherten sich auch die anderen Jäger, alle mit schwarzen Bögen oder Speeren bewaffnet.
"Ich bin", Sassy stellte fest das sich Alphas Lippen diesmal wieder bewegten und alle ihn hören konnten, "der Einzige, der ein Recht darauf hat, hier zu sein. Ihr kommt in meine Heimat, bedroht mich, tötet meine Freunde und stellt mir dann noch blöde Fragen?"
Julopatra schnaubte: "Du hast kein Recht dazu, so mit uns zu reden, Abschaum. Wir sind die Jäger, die Elite von Elensar!"
Alphas gelbe Augen funkelten, langsam ging er immer weiter zurück, bis er am Rand der Klippe stand: "Ihr wisst nichts über dieses Land. Hier bin ich die Elite! Euer Elensar könnt ihr in der Pfeife rauchen!"
Ein plötzliches und ohrenbetäubendes Krachen erschütterte den Boden und ließ die Jäger herumfahren. Hinter dem Lager, tief im Schatten des Berges, hatten sich zwei Bäume entwurzelt und waren umgestürzt. Aus dem Rauch manifestierten sich schlangenhafte Körper mit langen, messerscharfen Zähnen.
"Haltet Stand!", befahl Julopatra, "Treibt diese Biester zurück in die Schatten!"
"Jetzt, gib mir deine Hand!", das Flüstern in Sassys Kopf war zurückgekehrt. Sie hatte sich ebenfalls nach dem Knall umgedreht, in die Richtung geschaut, in welcher die Jäger nun verbissen gegen die spektralen Angreifer kämpften. Die Schreie fesselten sie. Erinnerungen an die vergangenen Schlachten holten sie ein. Sie sah Finn wieder vor sich, verbissen gegen den dämonischen Zwillingsbruder von Church kämpfend. Sein Blut auf dem staubigen Schlachtfeld, die goldenen Augen seiner Retterin, die sich mutig vor den irren Dämonenkönig von Argenshire gestellt hatte. Ein Satz fiel ihr ein. Finn hatte ihn gesagt, als sie verweigert hatte mit Church zu arbeiten: "Wenn du nicht fähig bist, deinem Feind zu vertrauen, um für eine große Sache zu kämpfen, dann bist du nicht bereit, alles für die zu geben, die du liebst!" Sie hatte das damals als unfair empfunden.
Sie drehte sich zu Alpha um, der ihr die Hand entgegenstreckte. Church bemerkte das und wollte sie noch zurückhalten, aber sie war, wie üblich, schneller als er. Sassy erreichte die Klippe und griff nach seiner Hand. In dem Moment, als sich ihre Finger um seine schlossen, schoss warme Energie durch ihren Körper. Sie wurde von ihr geblendet und mitgerissen, hinab in die Stadt. Ein tiefer Fall, und doch schien sie zu schweben, schwerelos zu gleiten und behütet einzuschlafen.
"Fang mich doch!", Sassy war zurück in dem Gang, den sie schon bei ihrem ersten Ausfall gesehen hatte. Die Stimme des älteren Jungen war wieder zu hören.
"Alpha, du weißt wir dürfen nicht in Dr. Jaseias Labor!", die Stimme des Jüngeren klang verschreckt.
"Ach, sei doch nicht immer so ein Baby. Du musst mutig sein, sonst bringst du es zu nichts! Versprich mir, jetzt mutig zu sein, nur für einen Moment!", spornte der Ältere seinen kleinen Bruder an. Diesmal kam eine dritte Stimme hinzu, noch ein Junge: "Was macht ihr da? Wir dürfen nicht ... Macht die Türe wieder zu! Was ist das? Oh mein Gott ... Was ist das?" Die entsetzlichen Schreie der Kinder hallten durch die Gänge, panisch und verängstigt.
Sassy wollte zu ihnen eilen, um sie zu beruhigen, aber eine Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück.
"Das ist nur ein Traum", stellte sie verbissen fest, verbat sich jede Hoffnung und Freude über die Anwesenheit von Finn, der hinter ihr erschienen war.
"Du bist Teil einer fremden Erinnerung, also ist es kein Traum. Dein Bewusstsein bekommt nur mehr mit, solange es hier ist", erklärte Finn und stellte sich neben sie. Sassy presste ihre Lippen zusammen, noch nie war sie den Tränen so nahe gewesen, ohne überhaupt zu wissen warum. "Wo bist du nur?", fragte sie schließlich, als die erste Träne sich ihren Weg durch den dichten Wimpernkranz ihrer geschlossenen Augen bahnte. Finns warme Hand wischte diese sofort weg. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und zwang sie ihn anzusehen.
"Die Wahrheit ist nicht immer schön", erläuterte er ihr in beruhigendem Tonfall, "aber sie ist notwendig! Und nur für einen Moment kann das hier wahr sein, du und ich, wir können hier stehen und uns in die Augen sehen! Das ist gerade unsere Wahrheit, genau wie der Moment. Beides gehört uns!" Sassy spürte, dass es keinen Sinn mehr machte, die Tränen zu unterdrücken. Der Damm war gebrochen, das Fass übergelaufen, die Fassade zerfallen und kein Raum mehr für falschen Stolz.
"Du hast uns verlassen. Du bist weggelaufen", klagte sie ihn zaghaft an, "Du hast unsere Sache verraten!"
Finns Blick war von vielen Emotionen geprägt. Er schaute sie aber vor allem lange verständnisvoll an: "Ich musste gehen, Sassy. Du kannst doch nicht glauben, dass ich je damit aufhören würde Shanora zu beschützen, euch zu beschützen! Ich muss euch vor mir schützen! Ich muss Shanora vor mir schützen!"
Sassy riss sich los und wich zurück. Sie konnte die Worte nicht glauben, die sie hörte. Und doch fürchtete sie zu sehr, um sie als Lüge abzustempeln. Die drei Jungen rannten durch den Gang an ihr vorbei. Der Erste hatte eine Narbe an der Stirn, braunes Haar, Alpha. Er schien um die zehn Jahre alt gewesen zu sein. Der Zweite war kaum jünger als er, sein blondes Haar wirkte fast gräulich. Der Jüngste war Finn. Da war Sassy sich sicher. Finn, der kleine blonde Junge mit den ständig zerzausten Haaren. Sie hatte ihn aufwachsen sehen, er musste es sein. Aber seine Augen waren gelb, wie die von Alpha.
"Nein...", sie blickte sich um, sie war alleine, "Das kann nicht stimmen! Das darf nicht sein!"