„Kommst du bitte?!“, nörgelte mein Dad am oberen Ende der Treppe und riss mich damit aus der Starre. Vor Schreck blinzelte ich und musste danach feststellen, dass dieser Typ wieder seine ursprüngliche Position eingenommen hatte und begann an meinem eigenen Verstand zu zweifeln.
„Hast du das gesehen? Der hässliche Typ auf dem Bild hat sich gerade bewegt!“, flüsterte ich schockiert.
„Sicher doch“, lachte mein Dad abwertend und setzte seinen Weg langsam in Richtung Zimmer fort. Kurz verharrte ich noch auf meiner Position und versuchte das Geschehene zu verstehen, doch umso länger ich darüber nachdachte, desto beunruhigender wurde es. Deshalb ergriff ich kurzerhand die Flucht und eilte meinem Vater hinterher.
Unser Zimmer befand sich direkt hinter der Treppe links. Langsam öffnete ich die knarrende Tür und hoffte dieses Zimmer würde meine schlimmsten Alpträume nicht wahr werden lassen.
Unsicher betrat ich das Wohnzimmer und betrachtete die tristen Farben. Obwohl das Licht brannte, machten die Farben das Zimmer ungewöhnlich dunkel und riefen in mir den Drang hervor, so schnell es geht wieder zu verschwinden. Gezwungener Maßen saß ich jedoch noch eine ganze Nacht hier fest und müsste mich zumindest für diese Zeit, mit dem ganzen Staub anfreunden. Ich rümpfte die Nase, als mir der modrige Geruch des Zimmers in die Nase stieg.
Durch einen Türbogen konnte ich einen schnellen Blick in die Küche werfen. Auch sie hatte schon so einige Jahre hinter sich und musste in der Zeit gebaut worden sein, wo die Menschen noch Hexen verbrannt hatten. Nicht einmal eine Mikrowelle gab es hier! Drecksloch!
Vom Wohnzimmer aus konnte man die drei Schlafzimmer erreichen, die hoffentlich ein wenig entstaubt worden waren. Da sich der Rest meiner Familie schon zwei unter den Nagel gerissen hatte, blieb mir nur noch das ganz linke übrig. Ziemlich unbegeistert schleppte ich meine Koffer dort hin und schmiss sie ohne Überlegung auf mein zukünftiges Bett. Ein paar Schlammkrümel fielen von den Rädern meines Koffers ab und landeten direkt auf meine braue Tagesdecke.
Ein paar schimmlige Brotkrümel und einige undefinierbare Flecken waren bunt auf dem Bettzeug verstreut und lösten in mir einen leichten Würgereiz aus. Und hier sollte ich zwei Wochen wohnen? Dank meiner jahrelangen Reiseerfahrung mit meinen Eltern, hatte ich literweise Desinfektionsmittel eingesteckt. Ich hatte mich die Zeit über an so einiges gewöhnt, aber das hier toppte echt alles! Morgen würde ich ohnehin wieder fahre, da war ich mir sicher!
Ich erspähte dunkelgrüne Vorhänge und vermutete dahinter ein Fenster finden zu können. Vielleicht könnte ich auf diese Weise den modrigen Geruch beseitigen.
Vorsichtig zog ich die Vorhänge beiseite und fiel fast in Ohnmacht, als ich dahinter aufgeregte, flatternde Motten entdeckte. Panisch riss ich beide Fensterseiten auf und versuchte sie so gut es ging hinaus zu scheuchen. Dabei entwich mir ein kleiner Schrei, der mich bei dieser ungewohnten Stille etwas erschreckte. Zuhause drangen einem die ganze Zeit der Autolärm und unbekannte Stimmen in die Ohren, sogar nachts und hier war es so ungewöhnlich still, dass man man beinahe jedes Atmen hören konnte.
Als ich das Fenster wieder schließen wollte, fiel mir auf, dass es schon mehr Mals geklebt worden war und sich nicht mehr richtig schließen ließ. Verärgert gab ich ihm einen starken Stoß und sah zu, wie es mit voller Wucht gegen den Fensterrahmen krachte. Mein kleiner Wutanfall hatte es nicht sonderlich beeindruckt und so ging es langsam, mit ohrenbetäubenden Quietschen wieder auf.
Durch den kleinen Spalt erblickte ich draußen ein paar graue Steine und als ich etwas näher heran ging, erkannte ich, dass es sich um Gräber handelte. Na super! Schon klar, keiner wollte das Zimmer haben, das einen Ausblick zum Friedhof zu bieten hatte. Langsam fielen ein paar Regentropfen auf die Gräber und färbten die hellgrauen Steine dunkel, die durch eine einzige Laterne angestrahlt wurden.
Innerhalb von Sekunden wurde der Regen heftiger und preschte nun mit voller Wucht gegen die Fensterscheibe. Das dies nicht folgenlos blieb, wurde mir schnell klar und so suchte ich einen Eimer, um das Wasser auffangen zu können. Schnell wurde ich fündig und stellte ihn unter den tropfenden Rahmen.
Nachdem ich mein Zimmer vor einer Überschwemmung bewahrt hatte, nahm ich meinen Koffer vom blauen Himmelbett und stellte ihn in die Ecke. Heute würde ich bestimmt nicht mehr dazukommen meine Sachen in den Schrank zu räumen,... wenn ich das überhaupt wollte. Bei dem ganzen Dreck hier... außerdem würde ich nicht bleiben.
Ich runzelte die Stirn als mein Blick auf den dunkelbraunen Schreibtisch fiel. Bis auf eine Kerze, die die Form eines Totenkopfes hatte, war der Tisch leer. Ob der Hotelbesitzer sein „Hotel“ mit einem Spukschloss vertauscht hatte?
Ich war überzeugt davon, dass es als Spukschloss sicher mehr Einnahmen bringen würde und sie müssten es dafür nicht einmal extra herrichten. Vorsichtig wischte ich mit meinen Fingern über die weißen Ablagen und schloss daraus, dass das Zimmermädchen wohl schon längere Zeit in Urlaub gewesen sein musste.
Als ich durch unser Zimmer lief knarrten die dunklen Dielen unter meinen Füßen und brachten mich dazu, immer langsamer zu werden. Immerhin wollte ich meiner Familie heute nicht mehr über den Weg laufen.
Nachdem ich mich ein wenig umgesehen hatte wollte ich ins Bad und mich Bett fertig machen, doch ich lief durch unser „Apartment“ und suchte vergebens nach dem Badezimmer. Alles was ich finden konnte war mein verärgerter Vater, der mich darum bat nicht mehr durch die Gegend zu streifen und mich still auf mein Zimmer zu verkrümeln. Bei dieser Gelegenheit erkundigte ich mich nach dem Badezimmer, doch seine Antwort darauf war wenig zufriedenstellend. Mein Dad reichte mir einen Schlüssel und erklärte mir schläfrig, dass sich das Badezimmer auf dem Flur befinden würde. Rücksichtslos ließ er mich einfach im Wohnzimmer zurück und verzog sich auf sein Zimmer. Verdattert blieb ich im Raum stehen und fragte mich, ob das ein schlechter Scherz sein sollte. Um das Bad benutzen zu können, sollte ich ernsthaft nach draußen gehen? Wer hatte sich denn diesen Scheiß ausgedacht?
Da mietet man schon ein Apartment mit Küche, aber um duschen gehen zu können musste man sein Zimmer verlassen? Ich hasse England!
Fassungslos verließ ich unser Apartment und versuchte das Bad ausfindig zu machen. Links von mir befanden sich jedoch nur weitere Zimmer, die mit Sicherheit unbewohnt waren. Doch eine Tür stieß mir direkt in die Augen. Im Gegensatz zum Rest des Hauses war sie weiß gestrichen und hatte die Aufschrift: „cleaning room“.
Wofür hatten die bitte einen Putzraum? Sicher nicht zum Putzen! Rechts von mir war nur wieder die Treppe von der wir vorhin gekommen waren. Erst jetzt fiel mir auf, dass die unsichere Treppe auch nach oben führte. Was sich dort wohl noch befand? Vielleicht ein Gemeinschaftsraum?
Plötzlich fingen die Treppenstufen an zu knarren und ein junger Typ stolzierte die Treppe zu mir herunter. Oben schien es etwas zu geben, dass den Gästen wohl vorenthalten werden sollte, denn gerade als er die letzte Stufe verlassen hatte, klatsche er ein Schild vor die Treppe, das davor warnte den Bereich zu betreten. Kritisch musterte er mich und machte einen Schritt auf mich zu. Er hatte schulterlanges, lockiges und schwarzes Haar, dass bei seinen schwungvollen Schritten ein wenig auf und ab wippte. Kleine Sommersprossen waren um seine Nase verstreut und seine Wangenknochen traten markant hervor. Wie es sich für einen Mann gehört, hatte er eine ordentlich muskulöse Statur und sein Style war im Gegensatz zu diesem Ort, recht modern. Ohne dass es einen Grund dafür gab, fing mein Herz plötzlich an schneller zu schlagen und ich spürte, wie ich zunehmend nervös wurde. Irgendetwas hatte er an sich was mich, ohne ihn auch nur ansatzweise kennengelernt zu haben, unruhig werden ließ.
Nachdem wir uns eine Weile angestarrt hatten, konnte er sich zu einem Lächeln durchringen und schaute mir freundlich entgegen. Als wäre er etwas besonderes, verschlug mir sein Anblick die Sprache und ich fing an, ihn aufdringlich anzuglotzen. Wie hypnotisiert starrte ich seine eisblauen Augen an und fragte mich, was für eine Seele hinter ihnen stecken würde. Sie zogen jegliche Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich seinen restlichen Anblick vergaß und mich nur noch auf seine Augen konzentrierte. Es war absurd zu denken, diese Augen irgendwoher zu kennen, doch so sehr ich es auch versuchte, diesen Gedanken konnte ich einfach nicht verdrängen. Um mich herum blieb plötzlich alles stehen, die Zeit pausierte, das Ticken der Standuhr, neben der Treppe, verstummte und jeder auf der Welt schien die Luft anzuhalten. So lange, bis er sich räusperte und ich endlich aus meiner Starre gerissen wurde. Verdammt, wie lange musste ich ihn nur so angesabbert haben?
Schnell wendete ich meine Augen von ihm ab und starrte verlegen zu Boden.
„Hey“, sagte er plötzlich knapp in die Stille hinein und kam mir etwas näher, wobei ein Schwall seines guten Parfums zu mir kam und mich ein kleines bisschen mehr zum Schwärmen brachte.
„Ähm, hi.“
„Bist du neu hier?“
„Ja, heute angekommen, aber morgen werde ich wieder verschwinden“, entgegnete ich schnell und versuchte mich auf diese Weise wieder etwas von ihm distanzieren zu können.
„Wieso? Das wäre schade, auch wenn dieser Ort etwas trist erscheint, so hat er doch seinen ganz eigenen Scharm.“ Eigenen Scharm? Ja das hatte dieser Ort vielleicht, aber ganz sicher nicht im positiven Sinne. Für mich war das hier die reinste Müllkippe und an dieser Auffassung könnte auch er nichts ändern.
„Mir ist es hier zu dreckig“, erklärte ich knapp und fing an meine Haare zu sortieren, damit ich bei ihm einen nicht allzu komischen Eindruck hinterließ.
„Man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Wie heißt du eigentlich?“
„Alexandra und du?“, fragte ich zögernd und reichte ihm die Hand. Doch noch bevor er antworten konnte, durchfuhr meinen Körper ein starker Stromschlag, der mich zusammenzucken ließ. Schnell zog ich meine Hand von ihm weg und schaute ihn erschrocken an. Genauso wie ich, war auch er verblüfft und blickte mir nun fast vorwurfsvoll entgegen.
„Ich ähm...“, stotterte ich und wollte damit eigentlich zu einer netten Entschuldigung ansetzen, doch wie von einem Hund gebissen, riss er plötzlich die Augen weit auf, machte einen Schritt zur Seite und verschwand dann wortlos die Treppe hinunter.
Was zur Hölle war plötzlich sein Problem? Ich hatte mich auch erschrocken, aber das war doch kein Grund dafür direkt die Flucht zu ergreifen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und versuchte mein rasendes Her zu beruhigen. Auch wenn er wirklich hübsch war, so hatte er eindeutig einen an der Klatsche und mit solchen Leuten würde ich mich sicherlich nicht abgeben...dachte ich jedenfalls.
Zögernd schaute ich nach links, da ich von dort dumpfe Schritte vernahm. Aus einen der Zimmer stolzierte plötzlich ein kleines Mädchen, sie musste in meinem Alter gewesen sein. Sie hatte langes, blondes und gelocktes Haar. Außerdem trug sie ein weißes Kleid und schöne schwarze Lackschuhe. Ich wollte sie ansprechen, doch da sah ich, dass sie einen Ball aufhob und ihn wie selbstverständlich durch das Bild des Grafen`s warf.
Mit offenem Mund stand ich neben ihr und versuchte die Realität hinter diesem Szenario zu finden... vergebens. Ein lauter Aufprall, gefolgt von Weiteren die immer leiser wurden, drang mir in die Ohren und verwunderte mich noch mehr. Ich hatte es mir nicht eingebildet! Der Ball war durch das Bild geflogen und auf der anderen Seite wieder aufgekommen. Es klang verrückt, es war verrückt und trotzdem war ich mir sicher, dass ich es mir nicht eingebildet hatte.
Fragend starrte ich dem Mädchen entgegen. Sie zog ihre Mundwinkel unecht weit nach oben und grinste mir fies entgegen. Alles an ihr war liebevoll und vertrauenerweckend, aber dieses eigenartige Grinsen ließ mich unruhig werden. Plötzlich hörte ich wie die Tür des Putzraumes gegen die Wand knallte und schreckte zusammen. Der Mann von der Rezeption kam uns mit schnellen Schritten entgegen.
„Wer ist das Mädchen?“, fragte ich geradewegs heraus ohne darüber nachzudenken, wie eigenartig das wohl klingen mochte. Mürrisch musterte er mich und schenkte mir abwertende Blicke, während er immer näher kam.
„Welches Mädchen?“, fragte er arrogant und seufzte. Verwirrt drehte ich mich um... doch sie war weg... weg wie nicht da! Nicht vorhanden, abwesend, einfach so, mit einem Blinzelschlag! Wie? Verlor ich langsam den Verstand oder versuchten die Leute hier mich zu verarschen?
Kurz zögerte ich, doch dann fing ich mich wieder und versuchte mich auf eine unfreundliche Art und Weise zu retten, damit nicht jeder hier dachte ich hätte einen an der Waffel.
„Hören sie schlecht? Ich suche das Bad!?“ Nervös kauerte ich auf meiner unteren Lippe herum.
„Vielleicht hast du ja etwas an den Augen? Du stehst direkt davor“, murmelte er wütend und ging an mir vorbei. Dabei berührte er mich verärgert und etwas zu doll an der Schulter, sodass ich das Gleichgewicht verlor und mit den Armen wackeln musste, um nicht umzufallen. Er drehte sich nicht mehr zu mir um, trotzdem murmelte er etwas von einem Schild und Dummheit. Ich war mir sicher, dass seine Worte mir gelten sollten.
Seufzend lief ich in das Bad hinein, welches peinlicher Weise direkt vor unserem Zimmer war. Na ja morgen wäre ich hier weg und dann würde ich diese eigenartigen Gestalten nie wieder sehen müssen! ...Obwohl es um den Jungen echt schade war, vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag gehabt und morgen wäre er wieder normal? Und wenn schon, hier bleiben würde ich sicher nicht, auch nicht wegen ihm!
Das Badezimmer sollte wohl ein Gemeinschaftsbad darstellen, denn es verbarg drei Toilettenkabienen und drei Waschbecken. Jedoch gab es nur eine alte, verrostete Badewanne am anderen Ende des Zimmers. Ein lächerlicher, verrotteter Vorhang sollte den Gästen wohl etwas Privatsphäre geben, doch ich zweifelte daran, dass er seinen Zweck erfüllte.
Auch hier bröckelte die gelbe Farbe von den Wänden und ich fing an daran zu zweifeln, dass ich an diesem Ort jemals noch mal annehmbare Wände zu Gesicht bekommen würde.
Ich stöhnte auf und lief zum Spiegel, um mich abzuschminken. Dabei musste ich wieder an Anne denken und stellte mir vor, wie meine beste Freundin gerade am Strand lag und heiße Urlaubsflirts hatte.
„Sone verdammte Scheiße“, murmelte ich und starrte mir selbst in die Augen. Doch plötzlich wurde mir heiß und kalt zugleich. Ich riss vor Schreck meine Zahnbürste mit dem Ellenbogen zu Boden, sodass sie mit einem lauten Knall zu Boden fiel und mich erneut zusammenzucken ließ. Mein Herz raste unglaublich schnell, so schnell, dass ich dachte es würde mir jede Sekunde aus der Brust springen. Meine Finger fingen an zu zittern und ich bekam weiche Knie. Ich atmete immer schneller und mein Hals fing an ich zuzuschnüren.
Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich nicht alleine war. Das fiese Grinsen von eben hatte sie immer noch nicht abgelegt. Auf einmal lagen dunklen Schatten um ihre Augen. Ihr blondes Haar war völlig zerzaust und an ihrer Wange befand sich ein blutiger Riss, der sich bis zu ihren Mundwinkel runter zog. Verletzte und enttäuschte, grüne Augen blitzten mir entgegen. Meine Blicke wanderten ihren schmächtigen, dürren Körper hinunter. Blaue Knie traten unter dem knappen Kleid hervor und wurden von triefendem Blut verfolgt.
Plötzlich aber, bekam das blutverschmierte Messer in ihrer Hand meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Als sie bemerkte, dass ich es entdeckt hatte, begannen ihre schmalen Finger sich um den Griff des Messers zu krallen. Fest entschlossen hob sie es in die Luft und kam in schnellen Schritten auf mich zu.